Claras Geschichte

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Claras Geschichte
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CLARAS

GESCHICHTE

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Nieke V. Grafenberg

Buch

Dreizehn Gepäckstücke und ein Kind - die Grafschaft Bentheim ist Fluchtpunkt für Clara und ihre Mutter, die Großeltern sind schon vor ihnen da. Das kleine Mädchen steht im Mittelpunkt dieser Nachkriegsgeschichte, die aus Claras kindlicher Sicht erzählt wird. Vertreibung, Hunger, Notunterkünfte - das typische und doch wieder einzigartige Schicksal einer gebeutelten Flüchtlingsfamilie. Aus ihren Erinnerungen setzt sich die Geschichte zusammen wie ein Puzzle. Kindheit, Sexualität, Erwachsenwerden. Und der sehnliche Wunsch, so bald wie möglich familiären Zwängen zu entkommen. Claras Geschichte - ein fesselndes Bild der Zeit.

Impressum

Claras Geschichte

Nieke V. Grafenberg

Copyright: © 2012 Nieke V. Grafenberg

Titelbild: © iStockphoto.com/Vetta Stock Photo/HultonArchive

Herausgegeben von: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-4221-8

Ach, angenommen, ich stimme dem zu,

da bist du also, meine Kindheit,

so lebendig, so gegenwärtig,

Firmament aus blauem Glas,

Baum voll Laub und Schnee,

Fluss, der dahinströmt, wohin gehe ich?

– Charles Plisnier

PROLOG

Ich will die Geschichte von Clara erzählen, vielleicht weil sie meine eigene ist.

Clara war nach niemandem genannt. Nach der eigenen Mutter nicht und nicht nach der Mutter der Mutter. Aus ihr war kein Mariechen geworden, auch keine Anna, selbst unter fernen Ahnen taucht dieser Name nicht auf. Sie war Clara, der Vater hatte es so gewollt. Wie jedes Kind war sie einzig - punktum.

Viel zu lange hatte ich sie aus den Augen verloren - die Ereignisse und das Kind. Hatte, wie es so ist im Leben, mit dem ganz gewöhnlichen Alltag zu tun. Beruf, Heirat, Kinder - die übliche Hetze - bis eine Zeit kam, in der ich wirklich allein war. Bis aus der Not heraus das Bedürfnis entstand, in eine Art Kindheitstraum einzutauchen, auf die eine oder andere Art ist er jedem bekannt. Erfahrungen kommen erst später.

Auf der Suche nach Träumen der Kindheit ist eines gewiss: Wir müssen uns in ein Labyrinth begeben, zu Höhlen mit Bildern, die uns die Welt eröffnet haben, nicht jeder ist dazu bereit. Wir sehen, wie wir einmal waren, ganz unverzerrt. Alle prägenden Ereignisse, alle Freuden, alle Leiden hat dieses Traumkind in sich vereint und für uns aufbewahrt, für den Weg in die Kindheit als Urbild des einfachen Glücks.

TEIL I

EINS

Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder ...

Die heilige Anna, die Mutters Mutter und Claras Großmutter ist, steht mit gefalteten Händen. Sie betet, wie sie in Notzeiten immer beten wird: lautstark und unvermeidlich. Von der Mutter gehalten das hellblonde Kind auf dem Fensterbrett, der Großvater an ihrer Seite. Panzer mit langen Rohren rasseln vorbei, die Erde erschüttert, es braust in den Ohren, im Haus vis à vis winken Leute. Juni sechsundvierzig, mit drei und ein bisschen setzt bei dem Kind die Erinnerung ein. Der Himmel öffnet seine Schleusen, der Rinnstein fasst das Wasser nicht mehr. Sie darf - welch ein Tag - barfuß darin waten.

Steinstraße Schüttorf ist Zuflucht im äußersten Westen. Die Großeltern sind schon vor ihnen da, Grafschaft Bentheim hört sich ganz gut an. Eine Bettstelle kommt an die Wand, Strohsäcke werden hereingetragen. Die Küche ein länglicher, finsterer Raum, zum Klosett müssen sie auf die Straße hinaus und zwischen den Häusern die hohle Gasse nehmen. Auf dem Ofen, stumpf wie das rußige Ofenrohr, steht eine eiserne Pfanne.

Heute weiß ich, warum der Ofen in Claras Labyrinth seinen Platz gefunden hat, und warum ausgerechnet die Pfanne. Halb im Spaß, halb im Ernst - der Großvater hat sie geschnappt und gedroht, sie hineinzusetzen, sie ist wohl zu lebhaft gewesen. Denn obschon Clara klein ist, sie ist schnell wie der Wind. Wild nennt es die Mutter, sie hebt ihre Schultern und schüttelt bekümmert den Kopf:

„Seit das Kind läuft, läuft es auf Zehenspitzen!“

Doch die Pfanne ist heiß an dem Tag. Der Rand hat der Kleinen, nur weil sie sich sträubt, eine Brandwunde quer zum Handrücken zugefügt. Nu, nu! Die Stimme der Großmutter reibeisenrau. Mariechen! ruft sie und Mehl!, um es auf die frische Wunde zu schaufeln. Weil - im Bäckerhaushalt jedenfalls - dem Mehl wie der Milch Heilkräfte innewohnen, während die Butter den Nebeneffekt eines Lösungsmittels hat, soll sie doch allergemeinste Teer- und Fettflecke ausmerzen können.

Den Beweis liefert Clara mit zehn. Im weiß-rosa Sonntagskleid (von dem Mutter behauptet, dass die haarnadelfeinen Querstreifen ihre Augen ganz fürchterlich auf die Probe stellen, und dass, wenn sie nicht rechtzeitig wegsieht, ihr davon ganz schwummrig wird) schlüpft sie durch teerige Weidezaundrähte, weil der Weg querfeldein der kürzere ist. Im Schlafzimmer reibt sie die Teerspur mit guter Butter heraus - ansatzlos, wie sie aufatmend feststellt. Mutter ist gerade nicht da, was so selten vorkommt wie Fettflecke damals, als Großvater Clara die Hand verbrennt. Eine knappe Tasse Mehl ist der Vorrat, kein Stückchen Butter, nicht ein Tropfen Milch. An Mutters Gesicht an dem Tag kann Clara sich nicht erinnern. Wohl aber an die hässliche Wunde. Die Ränder, entflammt, wölben sich hoch und nach außen. Mutters und Großmutters Kopf einträchtig über der Kinderhand. Zu viel Mehl oder zu wenig? Und wäre nicht Milch die bessere Lösung gewesen?

Auf jeden Fall will sie nicht heilen, die Hand. Die Narbe glänzend und breit - Claras Wasserzeichen bis ans Ende ihrer Tage.

Jahre später ein ähnlicher Ofen in einem Ort in der Grafschaft, der Veldhausen heißt. Ein schwarzer Bullerofen im Schlafzimmereck. Beheizt nur im eiskalten Winter, wenn ein mit Lappen umwickelter Ziegel Clara die Füße wärmen muss. Wenn die Nasenspitze über der Zudecke langsam vereist und auf dem Fensterglas Blumen sprießen, so frostig milchweiß wie die Rosen auf Claras Aussteuergläsern mit eckigem Fuß.

Meine Gedanken, sie wandern, sind der Zeit ein Stück weit voraus geeilt. Denn noch holpert Clara auf Feldwegen von Gehöft zu Gehöft, Mutter bückt sich zu Clara im Wagen. Sie putzt ihr die Nase, rückt ihr die Strickmütze mit der Quaste und dem Muster aus Herzen und Rauten über der Tolle zurecht und fragt sich durch zu der Bäuerin.

„Haben Sie nicht ein Butterbrot für das hungrige Kind?“

Die Schnitte gigantisch in Claras Kleinkinderhand - hat Mutter je einen Bissen für sich abgezweigt, hat sie bisweilen ein Stück von dem Brot mit nach Hause bekommen? Nicht nur einmal wird Clara sich das und anderes fragen, aber, wie es so ist im Leben, manch Pforte soll geschlossen bleiben. So sehr sie es sich auch wünschen mag - Sinnesreize wie Hunger und Kälte oder der Geschmack von Bauernbutter auf frisch gebackenem Bauernbrot lassen sich nicht auf Knopfdruck herbeizaubern.

Dabei ist der Duft von Mehl und Brot allgegenwärtig. Denn wo von der Straße, in der Clara wohnt, die Mühlengasse zur Vechte abzweigt, steht als Eckhaus die Bäckerei Schevel, als müsse es so und nicht anders sein. In Oberschlesien ist der Großvater Bäcker gewesen - Bäckermeister in Kattowitz, Mutter tippt auf ein Foto mit gelblichem Zackenrand, damit Clara auch ja gründlich hinsieht. Der Schlund des Backofens gewaltig genug, sich Hänsel und Gretel einzuverleiben. Oder besser die garstige Hexe nach dem entschiedenen Schubs - zwei Gesellen mit Mützen halten die Brotschieber zackig bei Fuß wie Soldaten ihre Gewehre.

Auf dem folgenden Foto sind Mutter und Großmutter als flammende Engel im Zwielicht des Ladens vor nahezu leeren Regalen zu sehen. Adrette weiße Flügelschürzen über dem Kleid - wer kleine Kinder hat, darf an die wundersame Brotvermehrung glauben, die heilige Anna gibt stets ein paar Semmeln mehr in den Korb. Wird, als die Zeiten schon schlecht sind, vom Großvater schief dafür angeguckt. Aber soll Claras Großmutter ganz umsonst ihren Titel als Heilige tragen? Wohl kaum, kann sie das Geben doch noch schlechter lassen als das Beten. Nu nu, ihre Lippen stülpen sich vorwurfsvoll vor und ein erhitztes ...aber die Kinder! folgt. Weil Kinder - sie selbst hat fünf geboren - nunmal ihrem Herzen am nächsten sind. Lasset die Kindlein zu mir kommen - ob der Großvater murrt oder nicht, Claras kleine, zeitlebens rundliche Großmutter handelt still und gelassen. Tut schlicht und einfach, was sie für richtig hält. Denn - das weiß keine besser als sie - geben ist tausendfach seliger denn nehmen.

Wie das Brot und die Milch und die Butter sind Brennstoffe auch eine Kostbarkeit. Mangelware wie alles, was in den Bauch des Ofens oder auf seine Platte gehört. Großvater kann ein Lied davon singen, statt duftende Sauerbrot-Laibe zu backen und bergigen Streuselkuchen, muss er das Organisieren lernen. Mit Leiterwagen und Sportwagen und Clara darin laufen Mutter und er in den Wald, Gehölz aufsammeln, das längst von anderen aufgeklaubt ist. Zehn Kilometer hin und zurück, in der Not fällt der Großvater junge Bäume. Er zersägt sie vor Ort, das braucht seine Zeit. Entfacht Kreischen und Hall in der Stille des göttlichen Domes - und folglich die Angst, ertappt zu werden. Mutter am Waldsaum lädt auf. Jetzt hält sie das Kind auf dem Arm und damit im Zaum, treibt den Großvater an, der bestrebt ist, die Ruhe zu wahren. Er hackt und zersägt konzentriert und entschlossen, was immer an Holz sich ihm querstellt. Und Mutter stapelt die Scheite, was sein muss, muss sein, der Weg in den Bentheimer Wald ist weit, der Winter wird kalt, was bleibt ihnen anderes übrig.

 

Zeugt oder zeugt es nicht von tiefem Eindruck, wenn Claras Mutter die selbe Geschichte so oft wiederholt, dass Clara später ein Bild im Kopf hat? Das kleine Kind auf dem Arm seiner Mutter, der blanke Halbmond der Großvaterglatze über dem dichten Gestrüpp. Der uniformierte Mann mit dem Hund, das Gewehr über einer grünen Schulter. Sollte das einer der Gründe sein für den Mordsrespekt vor der Obrigkeit, den Clara ein Leben lang in sich trägt? Oder bedarf es schwerwiegenderer Ereignisse, diese Art Angst zu entwickeln, die Clara eine diffuse nennt und von der sie einfach nicht loskommt? Obschon längst erwachsen, wird Clara von dieser Angst begleitet, weil sie sich die ihrer Mutter so frühzeitig einverleibt hat? Und weil sie mitbekam, dass Großvaters Alptraum, entdeckt zu werden, mit schöner Regelmäßigkeit körperliche Auswirkungen zeigte? Kein Einwand nützt, noch bevor jeder Stamm, jeder Ast zu Kleinholz verarbeitet ist, muss er in die Büsche verschwinden. Der Boden ein schwelender Meiler, von einem Fuß auf den anderen trippelt die Mutter, bis der Großvater endlich aufrecht steht. Sie zählt die Sekunden und rechnet damit, vom Förster beim Holzklau erwischt zu werden, auch wenn das Delikt, aus der Kriegsnot geboren, zu der Zeit noch Organisieren heißt.

Und tatsächlich, es kommt, wie es kommen muss. Als déjà vu taucht der Förster mit seinem Jagdhund zwischen den hohen Laubbäumen auf. Er verhält kurz den Schritt und mustert die magere Frau mit dem Kind. Sein Blick streift den Leiterwagen mit der vielfach geflickten Plane. Als Claras Mutter schon denkt, jetzt ist es so weit, jetzt wird er sie barsch belehren und auf der Stelle zur Wache abführen, nimmt er den Hund ganz kurz an die Leine und wendet sich ab. Im Buschwerk der kackende Großvater kümmert ihn offenbar nicht, der Leiterwagen mit den geschichteten Scheiten und Zweigen ebenso wenig. Nach einem knappen Kommando an seinen Hund zieht er grußlos weiter zur Lichtung.

Claras Großvater ist ein Ehrfurcht gebietender Mann. Ein Stoppelbartriese mit sorgsam begradigtem Lippenbart, nicht unähnlich einer Bürste. Und mit beachtlichen Ohren, an denen sie zupft, wenn er vorlesen soll und sich ziert. Der erste männliche Pol in Claras noch jungem Leben, ihr Märchenkönig, wie Edelmetall säumt ein silbriger Haarkranz die Glatze. Der Vater im Krieg vermisst und drei Brüder der Mutter in Kriegsgefangenschaft, ein vierter vor kurzem gefallen. August, der Großvaters Namen trägt und die großen Ohren geerbt hat, wird als erster entlassen und im Zimmer von Mutter und Kind einquartiert.

Dass der August anfangs bei ihnen im Schlafzimmer schlief, ja, dass neben der Küche ein weiterer Raum existierte, weiß Clara vom Hörensagen. Hat sie den Onkel nicht wahrnehmen können, weil er sich Hals über Kopf in ein Schüttorfer Mädchen verliebt hat und von da an meist unterwegs war? Wie der Vater, so hatte der Sohn seine Anna gefunden, wenngleich die fremde Familie ihm keineswegs wohlgesonnen war. Schließlich war er wie Clara ein Flüchtling.

Es ist November und neblig und kalt, als Anna und August zum Tanzabend wollen. Und weil der August so mager ist und deshalb ständig so friert, fragt Anna den Vater, ob er ihm nicht seine warme Joppe ausleihen will. Der Vater erhebt sich und holt sie vom Haken, lässt aber, als er sie ihr übergibt, so ganz nebenbei die Bemerkung fallen, dass er das gute Stück jetzt ja wohl abschreiben kann.

Und einmal, wohl weil sie den Liebsten aufwerten will, hebt Anna hervor, dass der Vater von ihrem August ein Meister der Bäckerzunft ist. Dazu ihr Vater nur spöttisch:

„Ja, ja, wat von dröwen kümp, de willt alle wat wesst weären.“

Vielleicht hat er ja gar nicht so falsch gelegen und mancher von drüben wollte was Besseres gewesen sein, aber:

„Denne is doch warrhaftig nen Meester wessen“, muss er bald darauf seinen Standpunkt revidieren, er sieht dabei recht verlegen aus. Und weil er ein Weber und grundsätzlich aufrechter Mensch ist, räumt er ein, dass der Großvater tatsächlich Meister ist und dass er das weiß, weil er nach Schichtende noch einen Schlenker durch die Steinstraße gemacht hat.

„Dör hebb ick’t wall noahleären konnt.“

Ja, schwarz auf weiß hat er sämtliche Tatsachen nachlesen können: Name, Geburtstag, Heimatadresse, Beruf. Flüchtlinge waren als Steckbrief auf ihre Haustür gebannt, wie lange, kann keiner mehr sagen.

Anna und August - das junge Paar taucht erst Jahre später in Claras Innenwelt auf. Zur Hochzeit, wohl weil sie Blumen streuen und fremden Gesichtern im Festsaal Gedichte vortragen muss, die sie ruckzuck von Mutter gelernt hat. Vielleicht aber auch des hellblauen Unterrocks wegen, der bei jeder Bewegung wie Wind in den Baumwipfeln wispert, das Festtagskleid bauscht und schneeige Schuhspitzen vorblitzen lässt. Tante Frieda, die keine richtige Tante ist, hat die Robe genäht, sie hat schon beim Großvater Semmeln gekauft und war auf dem Oberschlesiertreffen. Sie kann Stoffe bei Nino in Nordhorn besorgen, wo sie mit den Eltern und einer Schwester gelandet ist - noch reicht ein Stoffrest für Clara. Und weil Tante Frieda Schleifen so überaus zugetan ist, kommt eine aus nachtblauem Samt vor den Bubikragen. Andere wippen bei jedem Schritt auf den Gipfeln der Rüschengirlande am Saum.

Sie soll einmal nicht rennen, sagt Mutter.

Mariechen, Paul, Josel und August und Hans – wie Orgelpfeifen aufs schwarzweiße Foto gebannt. Die Größte, Mariechen, an hinterster Front, ein Leben lang Großvaters Stolz. Vier Jahre nach ihr wird Paul geboren. Der ist - dem Himmel sei Dank, bekreuzigt sich Großmutter eilig - nach dem Krieg bei den Amis in Straubing gelandet und arbeitet in einer Tabakfabrik. Josel, der dritte im Bunde, hinterließ eine Frau und zwei Söhne, als er vierundvierzig im Osten fiel, ganz lapidar und ohne nähere Ortsangabe. Zu entnehmen der Todesnotiz, die Clara nach Mutters Tod unter Heiligenbildchen entdeckt.

An vierter und vorletzter Stelle der Riege ist Onkel August zu sehen. In dem Jahr, in dem sich bei strömendem Regen die Panzer am Küchenfenster vorbeischieben, vollendet er gerade sein vierundzwanzigstes Lebensjahr.

Bleibt Hans, der Jüngste, der gerade mal eben volljährig ist. In Straßburg dem Gastgewerbe zugeteilt, hat er als Mädchen für alles die seidene Wäsche der Wirtin zu waschen - von Hand, wie er nur zu gern betont. Hemdchen und Höschen, die zweifellos zarte Gebilde sind - würde er sonst, wenn er davon spricht, die Augen albern verdrehen?

„Du alter Tulea!“ Ja, Mutter schimpft ihren Bruder Tulea, denn seine Faxen billigt sie nicht. Während es aussieht, als sei sie verstimmt, lauscht Clara mit offenem Mund. Sie ahnt nicht, weshalb er die Lippen befeuchtet und dazu genüßlich schmatzt. Was sie weiß ist, er will seine Schwester ärgern.

Großmutters schwerem, gemütlichen Busen gibt ein gestärktes Leibchen aus weißer Baumwolle Halt. Nu nu, Seidendessous - Clara sieht Großmutter über das Waschbrett gebeugt und ahnt: Falls Dessous überhaupt ein Begriff für sie waren, sie muss sich gefragt haben, wie ihr Jüngster das mit der Handwäsche hingekriegt hat. Ihr jedenfalls hat er den Umgang mit feinster Damenwäsche nicht abgucken können, in ihrer Umgebung ist alles Unterzeug kochfest.

Von dem Tag, an dem Claras Onkel aus Straßburg heimkehrt, wird er die Geschichte der Seidendessous wieder und wieder erzählen. Über die Schrecken des Krieges hingegen lässt er sich keine Silbe entlocken, auch dann nicht, wenn er betrunken ist. Die Zeit wird es zeigen: Von seinem Umgang mit hauchzarter Damenwäsche kommt dieser Onkel genauso schlecht los wie Claras Mutter vom Holzklau im Bentheimer Wald.

ZWEI

Auch wenn Clara sich reckt und ganz leicht macht, sie ist barfuß, die Stoppeln der Kornfelder pieksen, wenn sie nach Grashüpfern läuft. Die Garben sind eingefahren, das Wetter hochsommerlich trocken und warm, von Strohstaub gesättigte Luft flirrt über den Feldern und dringt in die Nase, dass Clara niesen muss. Mutter und Großmutter stehen gebückt, sie suchen nach liegen gebliebenen Ähren, der Sack soll sich füllen, der Bauer hat es erlaubt.

Obwohl Clara sich anstrengt, vom Innern der Mühle erhält sie kein rechtes Bild. Ist sie mit Großmutter, die sich ums Abendbrot kümmert, voraus geeilt? Hat sie aus dem Grund das Ähren abwiegen und Ausstellen eines Berechtigungsscheines versäumt? Oder hat sie den Vorgang aus ihrem Gedächtnis gestrichen, weil Holzstiegen rauf und runter zu hopsen die wichtigste Sache der Welt war? An offene, ausgetretene Stufen kann Clara sich vage erinnern. Aber was sie noch ganz genau weiß: Das Papier in der Hand konnte Mutter bei Schevel in Brot eintauschen.

Das Kind, so heißt es, sieht alles groß und schön - Clara weiß, was gemeint ist. Denn wenn sie den Kindheitstraum träumt, ist ihr, als kehre sie unausweichlich zur Schönheit der ersten Bilder zurück.

Am Mühlplatz das tosende Wehr und der Fluss - die unbegradigte Vechte. Wo Frauen mit bloßen Armen auf großen Steinen die Wäsche schrubben.

Am anderen Ufer die Badeanstalt. Unweit des Einlasses Großvater auf einer Bank. Mit seinem großen Stofftaschentuch wischt er sich die Stirn und die Schläfe - und Clara die Nase, auch wenn sie nicht läuft. Ab und zu stört er Clara beim kindlichen Spiel, er greift in die Jackentasche und lockt sie mit sauber geschnittenen Rinden. Herrliches Weißbrot, im Mund schnell breiig und süß, Weißbrot aus Bentheim, dort gibt es den Wald und die englische Panzereinheit. Die Panzer mit langen Rohren, Clara sah sie vom Fensterbrett aus. Jede einzelne englische Rinde entstammt der Kantine im Bentheimer Bahnhofsgebäude. Zu Fuß muss der Großvater hin, muss Tag für Tag Scheiben entrinden und Brote schmieren für Tommies, die auf der Durch- oder Heimreise sind. Brotrinden und Zigarettenkippen, er bringt beides heim, auch wenn jede Art Selbstversorgung ausdrücklich verboten ist. Und immer, wenn es Zigarettenpapier gibt, dreht der Großvater neue und klebt sie mit Spucke fest. Im Notfall greift er zu Zeitungspapier - hat anschließend graue Lippen.

Feuriger Klatschmohn und Kornblumen zwischen dem Ährengold. Pfade im Weizenfeld, die sich hinter Clara schließen. Hinter dem Schwimmbad Blumenwiesen zuhauf. Sie kann nicht mehr ganz so klein sein, sie sieht sich allein unter Schmetterlingen, es müssen Tausende sein. Ein Heben und Sinken, ein Taumeln und Naschen, die Flügel so pudrig, sie zittern, bevor sie sie packt. Beim Vechtewehr überquert sie die kurze Brücke aus Holz, rennt die Straße entlang und die Treppe hinauf in die Küche. Trinkt Unmengen Wasser direkt aus dem Hahn, quält Großmutter, bis sie ein Deckelglas kriegt und trägt furchtbar viele der aufgeregt krabbelnden Flatterlinge schnurstracks nach Hause.

Zu der Zeit sind sie schon einmal umgezogen. Gegenüber der Bäckerei Schevel, in einer Häuserzeile, die nebst Balkonen auch Simse und Stuck um die Fenster aufweist, sind ihnen auf zwei Etagen zwei Zimmer und Küche zugeteilt worden. Auf dem Speicher zwei Kammern, die eine für Mutter und Kind. Zwei einzelne Betten darin, ein Eisenbett, in dem Mutter schläft, und für Clara ein Holzbett mit eckigen Pfosten. Vom Spind, der zwischen den Bettstellen steht, schaut eine Puppe mit ausgestopften Gliedern auf Clara herunter - da ihre Gelenke nur leere Stoffhülsen sind, hängt der Puppenkopf traurig vornüber. K 17 steht unter dem rechten Fuß - Mutter hochachtungsvoll: Käthe Kruse. Sie näht ihr ein Hängerkleidchen mit Passe und Puffärmelchen, den Rock verziert sie mit Biesen und Zackenlitze. Doch Clara, die sich am liebsten im Freien aufhält, weiß mit der Puppe nichts anzufangen. Allein, ihr fällt auf: Ihre Mutter spricht häufig und gern mit der Frau, die im eigenen Wirtshaus verschiedene Sorten Eis herstellt. Und weil sie Clara die Puppe geschenkt hat und immer, wenn sie sie draußen entdeckt, geschwind ein Hörnchen Vanilleeis holt, sind Mutter und Kind sich einig: Frau Eisink ist eine herzliche Frau.

Die Schlafkammer neben der ihren ist für den Onkel und seine zwei Brüder, die vorerst noch in Gefangenschaft sind. Heute, als alter Mann, kann Onkel August darüber lachen:

„Nachts im Bett … durch das Dach … - ich konnte die Sterne sehen.“

Die Küche liegt ein Stockwerk tiefer, über der Druckerei. Nicht der Kochherd, wie man wohl vermuten mag, nein, das Großelternbett ist hier Blickfang! Daneben der Ohrensessel, in dem Großvater Clara Grimms Märchen vorliest.

„Da sie nun an einen Wasserfluss kamen, rief sie noch einmal ihrer Kammerjungfer steig ab und gib mir aus meinem Silberbecher zu trinken zu, denn sie hatte ...“

„Goldbecher! Goldbecher, Opa!“

Entrüstet zupft Clara an Großvaters Ohr. Ihre Lieblingsmärchen, die hat sie im Kopf - guter Grund für den Großvater, Clara zu necken. Wie unabsichtlich verfälscht er den Wortlaut, verdreht hier und da kaum merklich den Satz. Und wenn Clara ihm das nicht durchgehen lässt, hebt er schmunzelnd die Brauen und tauscht einen Blick mit der Tochter, den nur sie beide verstehen. Doch das Lesen muss schweißtreibend sein, ein Bächlein verlässt seinen Haarkranz. Rinnt über die Schläfe und über das Jochbein, versickert im weißlichen Stoppelbart.

 

„Andenken an den Ersten Weltkrieg.“ Großmutter rührt unbewegt weiter im Topf. „Ein Granatsplitter ist ihm im Kopf geblieben.“

Clara auf Großvaters Schoß fährt mit dem Finger das wässrige Rinnsal nach. Und während die Mutter, das Ohr am krächzenden Volksempfänger, mit banger Miene der Suchmeldung lauscht, nascht Clara am Bächlein aus Wasser und Großvaters Salz. Sie streicht ihm über die spiegelnde Glatze, spitzt ihre Lippen und ahmt, nu, nu, ihre Großmutter nach. Dabei strengt sie sich an, ihr Nu Nu soll exakt wie Großmutters klingen: kurz und knapp und das U leicht zum O hin verbogen - ein oberschlesischer Zwitterlaut eben.

Und weil, nach fortgesetztem Zupfen am Ohr, der Großvater doch noch bereit ist, einmal mehr Claras Lieblingsmärchen vorzulesen - das von der Gänsemagd edlen Geblüts und dem abgetrennten Pferdekopf, der, obwohl ans Stadttor genagelt, wie durch ein Wunder sprechen kann - setzt sie hinzu:

„Du bist mein allerliebster Glatzenkönig.“

Dass alle lachen, hat sie sich gemerkt.

Im Ohrensessel ist Großvater eingenickt. Er bringt keine süßen Rinden mehr heim, auch keine englischen Kippen, er knetet und formt jetzt die Brote der Bäckerei Schevel. Nur als Aushilfe zwar, aber so sind es nur ein paar Schritte über die Straße, bis er an der Haustür ist. Und gelegentlich bringt er ein Brot mit heim. Brot, für das er nicht eine Lebensmittelmarke über den Ladentisch schieben musste. Duftendes Brot mit glänzender Kruste - wie unter Zwang reißt Claras Mutter das warme Ränftel an, sie kann sich unmöglich beherrschen, besonders wenn es von Sauerteig ist. Der Großvater hat das Rezept verraten, weil es in Schüttorf doch so viele Flüchtlinge gibt.

Jahre später im Vierfamilienhaus, ein Bild formt sich in Clara. Vom Wohnzimmerfenster beobachtet sie, wie Mutter ihr Fahrrad in seinen Ständer unter dem Fliederbaum schiebt. Auf dem Heimweg von Liese, dem Bäcker, bei dem sie anschreiben darf, hat sie hinter den Sattel gelangt und Brocken knuspriger Brotrinde abgerissen. Der Laib weist, als sie die Küche betritt, einen unübersehbaren, wenn auch recht flachen Krater auf. Bis Claras Mutter die Kruste im Alter nicht mehr zerbeißen kann: Vor ihren Gelüsten auf backofenwarmes, am liebsten gesäuertes Brot, muss nicht nur sie selbst, nein, muss auch der Rest der Familie kapitulieren.

Seit der Großvater wieder Brot bäckt, hat Clara für sich den Heimweg geändert. Für gewöhnlich nimmt sie den Weg die Vechte entlang, kreuzt die hölzerne Brücke beim Wehr und biegt in die Mühlengasse, die auf ihre Steinstraße stößt. Doch bevor sie die überquert, um ins Haus, wo sie neuerdings wohnt, zu gelangen, tut sie einen Schlenker nach rechts und hüpft einmal durch Schevels Backstube, um auszukundschaften, ob Großvater abermals Teig kneten muss.

An dem Tag jedoch ist der Großvater nirgends zu finden. Nur Gesellen und Lehrlinge, die Clara kaum kennt. Und ein heiterer Fremder, der zu Besuch aus Amerika ist. Er hebt Clara auf seine Hand und schwenkt sie zur Decke, während der Rest der Anwesenden zusieht und gutmütig lacht. Und wie der Ami sie auf und nieder schwingt, mit seinem freundlichen Jungengesicht, kann er es nicht lassen, ihr bei jedem Heben und Senken mit dem Mittelfinger den Zwickel des Schlüpfers auszustreichen, unter dem Kleid, wo keiner es sieht, wieder und wieder. Clara weiß nichts, doch sie spürt instinktiv, das darf er nicht tun - dass das, was er da mit ihr anstellt, auf keinen Fall richtig ist.

Als Clara wieder festen Boden unter den Füßen hat, rennt sie heim in die Küche und trinkt Wasser vom Hahn, bis die Mutter sie packt und wegzieht. Sagt nichts von dem, was sie nicht begreift und von dem sie doch weiß, dass es falsch ist. Steigt am folgenden Tag mit zwei Kindern, die sie nicht kennt, in seinen Amischlitten ein und lässt sich durch Schüttorf kutschieren. Lachend und winkend, bei offenem Verdeck. Als sei sie und nicht er der Sieger.