Ewig Dein.

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Aus der Reihe: Schwarzen am See #2
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Nicolas Bjausch

Ewig Dein.

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Im Garten.

Neu.

Abseits.

Party.

Schläge.

Mutter.

Lisa.

Katharina.

Warnung.

Psychiater.

Aufgeben.

Impressum neobooks

Im Garten.

"Marlon? Willst du mit mir den Tatort ansehen?" Die Stimme seiner Mutter drang dumpf durch die geschlossene Tür von Marlons Zimmer.

"Nein", gab Marlon knapp zurück. Er saß am Schreibtisch und bereitete seine Schulsachen vor.

"Ach, komm doch", bat seine Mutter erneut. "Zu zweit ist es doch spannender."

"Nein", wiederholte Marlon und bemühte sich, nicht genervt zu klingen. "Ich muss das Zeug für morgen vorbereiten."

"Na gut", hörte er seine Mutter antworten. Das konnte allerdings noch nicht alles gewesen sein, das wusste Marlon. Tatsächlich dauerte es keine fünf Sekunden, bis seine Mutter hinzufügte: "Falls du es dir überlegst, kannst du ja später noch runterkommen."

"Gut, gut, ich überleg mir's!" rief Marlon. Er schrieb seinen Namen auf das neue Heft. Hinter dem Wort "Klasse" war ein freies Feld zum Eintragen. Marlon malte die "10" sauber hinein. Und wieder ärgerte es ihn. Eigentlich hätte die "11" da hingehört. Morgen war der erste Schultag nach den Sommerferien. Morgen wäre der erste Tag von Marlon in der Oberstufe gewesen. Aber auf dem letzten Zeugnis stand der Vermerk "Klassenziel nicht erreicht". Es hatte sich schon länger abgezeichnet. Aber als Marlon es schwarz auf weiß vor sich stehen hatte, war es eine Katastrophe. Für ihn jedenfalls. Seine Mutter hatte nur tröstende Worte für ihn übrig.

Schon in seiner alten Klasse hatte er es nicht leicht. Wirkliche Freunde hatte er schon seit Jahren nicht mehr, bis auf Robin. Und jetzt waren sie nicht mal mehr in einer Stufe. Marlon würde die zehnte Klasse wiederholen und in eine neue Gruppe von Schülern kommen. Er ahnte, dass sein Ruf als Außenseiter ihm schon längst vorausgeeilt war. Es würde die Hölle werden.

Die laute Spätsommerabendluft wehte durch das geöffnete Fenster in Marlons Zimmer hinein. Es war bereits so dämmerig, dass er seine Schreibtischlampe angeschaltet hatte. Das weiße Licht hätte jede Mücke aus dem Viertel angelockt.

Marlon kannte ein paar Leute aus der Stufe, die bisher unter seiner Stufe gewesen war, vom Sehen. Doch ihm fiel niemand ein, mit dem er je geredet hätte. Aber er war sich sicher, dass sie über ihn geredet hatten. Er gehörte zu der Handvoll Schülern des Schwarzener Gymnasiums, über die alle redeten. Meistens, wenn er über den Schulhof ging, wurde getuschelt, gleich darauf gekichert. Dabei war Marlon nicht auffallend hässlich. Er kleidete sich nicht gerade stylish, sondern ganz normal. Schuld war vor allem seine Mutter. Jeder wusste, dass seine Mutter häufig wie eine Klette an ihm klebte. Sie fuhr ihn morgens mit dem Wagen bis zum Schulhof. Nach der letzten Stunde stand sie schon bereit, um ihn abzuholen. Als er einmal seine Sporttasche zu Hause vergessen hatte, war sie sogar in der großen Pause mit der Tasche in die Schule gekommen und hatte ihn über das Sekretariat ausrufen lassen. In der Stufenfahrt an die Nordsee in der achten Klasse hatte sie sich als freiwilliger Elternteil zur Begleitung gemeldet und Marlon zehn Tage im Kreise seiner Klassenkollegen nicht aus den Augen gelassen. Sie war so... peinlich.

Es klopfte. "Sag mal, willst du nicht doch runterkommen? Das ist der Tatort aus Hamburg, der ist doch immer besonders gut."

"Nein!" rief Marlon energisch. "Ich bereite mich auf morgen vor und gehe dann ist Bett."

Sie nahm die Genervtheit in seiner Stimme wahr. "Ist ja schon gut."

Seine Mutter war nicht immer so gewesen. Vor dem Unfall damals waren sie eine ganz normale Familie gewesen. Als der Geisterfahrer ihnen auf der Autobahn ins Auto gefahren war, nahm Marlons Leben eine böse Wendung. Nachdem sein Vater, der am Steuer gesessen hatte, bei dem Unfall ums Leben gekommen war, hatte seine Mutter sich schlagartig verändert. Die Fürsorge für ihren Sohn verwandelte sich in permanente Sorgen. Seitdem schwebte seine Mutter permanent über ihm. Nur selten war es möglich, dass Marlon Schritte machte, die nicht irgendwie von ihr überwacht wurden.

Marlon erschrak, als sein Handy auf dem Nachttisch zu summen begann. Er stand vom Schreibtisch auf und nahm es. Es war Robin, natürlich. Wer sonst hätte ihn anrufen sollen?

"Hi", sagte Marlon, nachdem er das Gespräch angenommen hatte.

"Na, wie ist es, Alter?" fragte Robin am anderen Ende der Leitung.

"Hm, weiß nicht so genau."

"Hey, wir treffen uns morgen früh vor der ersten Stunde. Und dann in der Pause."

"Ja, ich weiß", gab Marlon skeptisch zurück.

"Ich find's auch scheiße", sagte Robin. "Mit wem soll ich jetzt reden?"

Robin gehörte ebenfalls zu den Außenseitern der Schule. Bei ihm lag die Sache allerdings anders: Robin war ein typischer Computernerd, der stundenlang vor seiner Konsole hocken konnte. Er interessierte sich besonders für Fächer wie Biologie und Physik, war aber auch keine große Leuchte in der Schule. Doch im Gegensatz zu Marlon hatte er die zehnte Klasse geschafft. Irgendwie konnte Marlon verstehen, warum sich die meisten anderen über Robin lustig machten. Aber er war nun einmal der einzige Freund, den Marlon hatte.

"Wir packen das schon irgendwie", sagte Marlon. "Vielleicht gibt's ja in meiner neuen Klasse nicht nur Idioten."

"Hoffentlich", antwortete Robin. "Ich muss mich wieder mit den gleichen Hirnis rumschlagen."

Ein Heft lag auf dem Boden vor dem Schreibtisch. Marlon hob es auf und legte es zu den anderen auf den Tisch. In dem Augenblick hörte er das durchdringende Summen einer Mücke an seinem freien Ohr. "Au je, auch das noch."

"Was'n los?"

"Die Moskitos greifen an", erklärte Marlon. "Ich muss mal das Fenster zumachen, sonst fressen die mich heute Nacht auf."

"Das wäre in der Tat schade", bemerkte Robin.

Marlon fasste nach dem Fenstergriff und wollte das Fenster schließen. Da sah er im Dämmerlicht etwas unten im Garten, an der Pforte zum Garten der Nachbarn.

"Moment mal", sagte Marlon.

Es war eine Person. In heller Kleidung.

"Was, Moment?" fragte Robin.

"Da ist jemand", erwiderte Marlon leise. "Unten im Garten."

"Wer ist da? Ein Einbrecher?"

Marlon verbarg sich an der Seite des Fensters, so dass man ihn von draußen nicht sehen konnte. "Warte mal kurz." Er lugte vorsichtig hinter der Fensterkante hervor. Dann erkannte er das Mädchen. Sie musste ungefähr in seinem Alter sein. Ihr braunes, gewelltes Haar fiel auf ihren oberen Rücken. Das weiße Kleid, das sie trug, sah merkwürdig aus.

"Ein Mädchen", flüsterte Marlon.

"Hast du dir eine Prostituierte bestellt?" witzelte Robin.

Marlon überging die Bemerkung. "Sie steht an der Pforte, zum Garten von nebenan. Aber auf unserer Seite."

"Wer wohnt denn da drüben?"

"Keine Ahnung, die sind erst kürzlich eingezogen. Wir kennen sie nicht, ihr Eingang geht ja zur anderen Seite raus."

Das Mädchen drehte den Kopf nach oben und blickte zu Marlons Fenster. Und plötzlich, obwohl Marlon dachte, dass sie ihn eigentlich nicht sehen konnte, lächelte sie ihn an.

Marlon erschrak und fuhr zurück hinter die Fensterkante.

"Und?" fragte Robin. "Was ist los?"

"Sie hat mich gesehen", flüsterte Marlon. Er beugte sich wieder ein Stück vor, um noch einmal nach ihr zu sehen.

Aber der Garten war leer. Das Mädchen war verschwunden.

Neu.

Lisa stieg aus dem Bus. Ein Jammer, dass bei dem schönen Wetter der Schulstress wieder losging, dachte sie. Immerhin sah sie Jasmin heute endlich wieder. Ihre Freundin war erst gestern, am letzten Ferientag, mit ihren Eltern und ihren beiden Brüdern aus dem Urlaub gekommen. Drei Wochen hatten sie sich nicht gesehen.

Am Schwarzener Schulzentrum herrschte schon wieder Hochbetrieb. Das übliche Zusammentreffen aus allen Richtungen der Stadt und der Umgebung hatte begonnen. Lisa überquerte die Straße und grüßte zwei Mädchen aus ihrer Klasse. Aber sie hatte keine Zeit, sich mit ihnen zu unterhalten - bestimmt wartete Jasmin bereits an den der Litfasssäule, die am westlichen Eingang des Schulzentrums lag. Dort war schon seit Jahren ihr Treffpunkt.

Tatsächlich, Lisa sah sie schon von weitem - das lag aber vor allem an Simon, der mit seinen ein Meter fünfundneunzig immer auffiel. Er stand vor Jasmin, die an die Litfasssäule gelehnt war, und streichelte ihr durch die Haare.

 

"Guten Morgen, ihr Guten!" rief Lisa theatralisch, als sie ihre Freunde sah, und breitete die Arme aus.

Jasmin stieß einen Schrei aus, tauchte unter Simons Arm hindurch und ließ ihn an der Säule stehen. Dann stürmte sie auf ihre Freundin zu und die Mädchen fielen sich kreischend in die Arme.

"Weiber", sagte Simon kopfschüttelnd grinsend.

"Mann, du hast Nerven!" fauchte Lisa Jasmin gespielt böse an. "Einen hier bis zum letzten Tag sitzen zu lassen. Hier war niemand, mit dem ich mich auch nur einigermaßen auf einem anständigen Niveau unterhalten konnte." Sie deutete dabei auf Simon.

"Das hab ich mir gedacht", erwiderte Jasmin. "Darum habe ich auch keine Karte geschrieben. Ich dachte, es wäre besser, wenn dein Gehirn schon mal auf Sparflamme fährt, dann will ich es auch nicht aus der Ruhe bringen."

"Wie war's?" fragte Lisa. "Alles gut gelaufen."

Jasmin nickte. "Bis auf gefühlte hundert Kilometer Stau gestern auf der Rückfahrt."

"Werde ich eigentlich auch irgendwie begrüßt?" fragte Simon dazwischen. "Oder bin ich unsichtbar?"

"Klar, so mickrig, wie du bist", feixte Lisa und gab Simon eine flüchtige Umarmung.

"Du hältst dich daraus", schob Jasmin ihren Freund zurück. "Immerhin habt ihr euch in den letzten drei Wochen mal gesehen, soweit ich weiß." Sie sah Lisa an. "Und? War er brav?"

"Auf der Party von Adrian so einigermaßen", sagte Lisa. "Wobei ich ihn natürlich nicht die ganze Zeit im Auge hatten."

"Ach, die Party von Adrian", seufzte Jasmin. "Dass ich nicht da sein konnte, ärgert mich schwarz."

"Er lässt schön grüßen", sagte Simon. "Wir haben gestern telefoniert. Der arme Kerl hatte eine ganze Woche weniger Ferien als wir. Geht schon seit letzter Woche in seine neue Schule."

"Selbst schuld, wenn man auch gleich in ein anderes Bundesland zieht", sagte Jasmin. "Jedenfalls hätte ich mich gerne von ihm verabschiedet."

Hier am westlichen Eingang des Schulgeländes führte die Straße vorbei. Nach und nach hielten Autos: Eltern brachten ihre Kinder zur Schule. Jetzt hielt ein dunkelblauer Kombi. Die Tür öffnete sich.

"Guck mal da", sagte Jasmin. "König Ödipus."

Es war Marlon Knauer, der bisher in der Stufe über ihnen gewesen war. "König Ödipus" wurde er genannt, weil jeder wusste, dass seine Mutter und er unzertrennlich waren.

"Ja und?" fragte Lisa gleichgültig.

"Der ist sitzengeblieben", sagte Jasmin leise. "Das heißt, der kommt zu uns in die Stufe, wenn nicht sogar in unsere Klasse."

"Da haben wir ja für Adrian einen adäquaten Ersatz", kicherte Lisa mit Seitenblick auf Simon. Sein bester Freund seit Kindertagen war jetzt weggezogen, weil sein Vater eine neue Stelle angenommen hatte.

"Adäquat trifft es wohl nicht so ganz", meinte Simon, als er beobachtete, wie Marlon gebeugt in der offenen Autotür stand, um von seiner Mutter noch etwas mitgeteilt zu bekommen. Marlon sagte nichts, sondern warf die Autotür energisch zu. Dann fuhr der blaue Kombi davon. Marlon ging an den drei Freunden vorbei, aber schenkte ihnen keine Beachtung.

Simon war einen Blick auf seine Armbanduhr. "Wir sollten mal langsam loszischen. Ich habe gehört, dieser Herr Lamp sei bei Verspätungen leicht ungehalten." Herr Lamp war der neue Klassenlehrer. Keiner der drei hatte ihn bisher im Unterricht gehabt, aber ihm eilte ein Ruf voraus, der nicht besonders viel Gutes ahnen ließ.

Lisa blickte auf ihre Uhr. "Nur die Ruhe - wir haben noch gute zehn Minuten."

Robin hatte sich beim Hausmeister noch einen Kakao gekauft, bevor er sich auf die Stufen vor dem Haupteingang setzte und auf Marlon wartete. Die meisten Schüler gingen achtlos an ihm vorbei. Ab und zu liefen auch Leute vorüber, die tuschelten und kicherten, vor allem Mädchen. Robin versuchte, sie so gut wie möglich zu ignorieren. Wirklich daran gewöhnen konnte man sich nicht.

Endlich kam Marlon, den er erwartet hatte.

"Morgen, Alter", grüßte Robin seinen Freund. "Wurde ja auch Zeit."

Marlon schaute auf seine Uhr. "Wieso? Sind doch noch zehn Minuten, bis es klingelt." Er setzte sich neben ihn.

"Mein ich doch gar nicht", sagte Robin. "Ich habe gestern Abend noch 'Entity Universe' gezockt - ich habe so'nem Spinner seine Bazooka abgenommen, der hat mich dann erstmal eine Runde im Chat beschimpft, dann habe ich ihm nochmal Energie abgezogen..."

"Cool", sagte Marlon trocken und setzte sich neben seinen Freund.

"Was ist los?"

Marlon blickte Robin an. "Was soll schon los sein? Ich habe wenig Bock, mich da in die neue Klasse zu setzen."

"Ja, ich weiß. Ich find's auch nicht gerade gut, dass ich da jetzt alleine sitzen muss", gab Robin zu. Dann fragte er: "Was ist denn mit deiner Phantomfrau? Ist die nochmal aufgetaucht?"

Marlon schüttelte den Kopf. "Nee. Merkwürdig. So schnell konnte die überhaupt nicht abhauen."

"Na ja, wenn sie nebenan wohnt, dann wirst du sie ja früher oder später nochmal sehen. Dann kannst du sie ja fragen, ob sie eine Meisterin im Sprint ist. Jedenfalls, dann noch bei 'Entity Universe'... "

Ey, Alter, mach mal Platz.“. Eine heisere Stimme unterbrach Robin, wartete aber keine Antwort ab. Zwei Füße in ausgefransten Turnschuhen kickten Robins Rucksack, der neben ihm lag, im Vorbeigehen weg. Robin und Marlon brauchten gar nicht aufzusehen, um zu wissen, wer das gewesen war. Es war dieser Typ aus der Stufe unter ihnen – beziehungsweise aus der Stufe, in die Marlon seit heute gehörte. Seinen richtigen Namen kannten sie überhaupt nicht, er wurde von allen nur „Bomber“ genannt. Bomber war mit Vorsicht zu genießen. Ständig hörte man, dass er wegen einer Prügelei oder wegen Beleidigungen von Schülern, manchmal sogar von Lehrern zu einem Gespräch im Direktorat vortreten musste. Warum er nicht längst von der Schule geflogen war, konnte man nur ahnen – angeblich war Bombers Vater irgendein hohes Tier in der Stadt. Marlon und Robin waren froh, dass bei ihnen nur solche Aktionen wie eben mit dem Rucksack oder ab und zu mal ein paar hämische Kommentare stattfanden.

Marlon stand auf, während Robin wortlos seinen Rucksack wieder an sich heranzog. "Hör zu, ich gehe schon mal hoch. Ich will nicht noch zusätzlich auffallen, dass ich zu spät komme."

"Ich dachte, es wären noch zehn Minuten?" fragte Robin

"Schon... aber ich weiß ja auch noch gar nicht genau, welcher Klassenraum das ist."

"Einer von unseren alten."

"Ist klar, aber... ich muss mal los. Wir sehen uns in der Pause, okay?"

Als Marlon vor der neuen Klasse stand, verließ ihn der Mut. Eigentlich hatte er geplant, ganz locker in den Raum zu gehen, sich einen Platz zu suchen. Aber als er sah, wie seine neuen Mitschüler achtlos an ihm vorbeigingen, sich in der Klasse freudig begrüßten und miteinander Spaß hatten, zog er es vor, lieber draußen zu warten.

Kurz nach dem Klingeln kam Herr Lamp. Marlon kannte ihn schon, er hatte in der achten Klasse Englisch und Mathe bei ihm gehabt. Geglänzt hatte Marlon damals schon nicht, Lamp hatte ihn insbesondere in Englisch häufig vor der Klasse wegen seiner "unzureichenden Ausdrucksweise" aufgezogen. Dass Marlon jetzt die zehnte Klasse wiederholen musste, gab Lamp bestimmt neuen Anlass zu Sticheleien.

"Guten Morgen", sagte Marlon leise.

"Guten Morgen, Herr Knauer", antwortete Lamp mit seiner dunklen, rauen Stimme. Er hatte die Angewohnheit, seine Schüler ab der Mittelstufe zu siezen. Als Marlon nichts zu antworten wusste, sagte Lamp: "Kommen Sie rein, alles halb so wild." Offenbar verstand er, was in Marlon vorging.

Hauptgesprächsstoff in der Klasse war das Verschwinden eines Mädchens, das in der Stufe über ihnen gewesen war. Man nahm an, dass sie mit ihrem Freund, einem Oberstufenschüler, zusammen abgehauen war. Als Lamp die Klasse betrat, wurde es schlagartig still. Doch das hielt nur einen kurzen Augenblick an, denn Marlon betrat die Klasse hinter dem Lehrer. Ein leichtes Raunen ging durch die Klasse. Marlon ließ seinen Blick kurz über die Klasse schweifen. Auf dem Weg nach oben hatte er befürchtet, dass „Bomber“ eventuell einer seiner neuen Mitschüler sein konnte. Aber das schien glücklicherweise nicht der Fall zu sein.

Jasmin, die mit Lisa am Tisch hinter Simon saß, stieß ihrem Freund mit einem Stift in den Rücken. "Da hast du den Adrian-Ersatz tatsächlich."

"Na toll", zischte Simon zurück und stellte seine geöffnete Colaflasche vor sich auf den Tisch.

"Guten Morgen", sagte Lamp durchdringend. Er ließ seinen Blick über die Tische streifen.

"Setzen Sie sich dorthin", ordnete der Lehrer an und wies auf den freien Platz neben Simon.

Jasmin kicherte leicht.

Marlon ging durch die Tischreihen zwischen seinen neuen Klassenkameraden. Er hörte flüsterndes Getuschel. Er war nervös. Seinen Rucksack legte er neben den Tisch, dann setzte er sich neben Simon.

"Ihr neuer Mitschüler Marlon Knauer", stellte Lamp Marlon vor. Dann fuhr er direkt mit der Tagesordnung fort. "Um ihre Namen zu lernen, bitte ich Sie, für die ersten Tage Schilder auf Ihren Tischen aufzustellen. Am besten erledigen wir das gleich."

Alles Schüler der Klasse holten Zettel und Stift hervor, um ihren Namen darauf zu schreiben. Unsicher sah Marlon sich um, aber er machte das gleiche, um nicht aufzufallen.

"König Ödipus", kicherte von einem Mädchen vom Nachbartisch leise.

Lamp hatte das gehört. ""König Ödipus" ist eine Tragödie des griechischen Dichters Sophokles", sagte er zu dem Mädchen und blieb vor ihrem Tisch stehen. "Haben Sie dazu irgendwelche Anmerkungen zu machen?"

"Nein", sagte das Mädchen und wurde rot. "Entschuldigung."

Lamp wanderte zurück zum Lehrerpult und setzte sich auf die Kante. "Muss ich annehmen, dass einige von Ihnen über die Schreibweise Ihres Namens erst einmal nachdenken müssen oder wie darf ich mir sonst die Dauer dieses Vorgangs erklären?"

Ein paar Schüler lachten zurückhaltend.

Marlon sah aus dem Augenwinkel, wie sein Sitznachbar den Zettel mit seinem Namen faltete und ihn, zu einem dreieckigen Aufsteller geknickt, an die vordere Tischkante platzierte. Marlon faltete seinen Zettel ebenfalls und streckte seine Hand aus, um das Namensschild aufzustellen. Dabei stieß er mit dem Ellbogen an die geöffnete Colaflasche, die sein Nachbar auf den Tisch gestellt hatte. Die Flasche fiel um und die dunkelbraune Limonade ergoss sich schäumend über den Tisch.

"Pass doch auf, Mann!" schrie Simon und stand reflexartig auf, als die Cola über die Kante auf seine Jeans tropfte.

"Es... es tut mir leid", stammelte Marlon.

"Na, super!" knurrte Simon. Jasmin hielt ihm von hinten bereits ein Taschentuch hin, um die Bescherung aufzuwischen.

"Ganz abgesehen davon, dass Getränkeflaschen auf dem Schulpult nichts verloren haben, bestünde immer noch die Gelegenheit, einen Deckel auf die Flasche zu setzen, Herr--" Lamp unterbrach kurz, um den Namen zu lesen. "Herr Simon Westerhausen."

Die Klasse lachte.

Simon warf Marlon einen wütenden Blick zu. Und obwohl es sich so anfühlte, als ob Lamp für ihn Partei ergriffen hatte, seufzte Marlon trotzdem. Das war ja ein hervorragender Einstand.

Der erste Tag war überstanden. In der Pause hatte Marlon sich mit Robin auf dem Schulhof getroffen, obwohl Robin seit heute die Berechtigung hatte, sich auf dem Oberstufenschulhof aufzuhalten. Nach der Schule trafen sie sich am westlichen Ausgang, wo Marlon darauf wartete, dass seine Mutter ihn abholen würde.

Robin war mit seinem Handy beschäftigt. Er spielte dort irgendein Spiel.

"Machen wir heute Nachmittag irgendwas?" fragte er, ohne aufzusehen. "Zocken?"

Marlon verdrehte die Augen. "Wollen wir nicht mal was anderes machen? Irgendwie mal rausgehen oder so?"

Überrascht sah Robin auf. "Was denn?"

"Na, bei dem guten Wetter... Wollen wir nicht mal an den See? Wer weiß, wie viele Sommertage noch übrig bleiben, wir waren in den Ferien höchstens dreimal dort."

Robin überlegte kurz. "Gut, einverstanden. Fahren wir mit dem Rad hin?"

"Alles klar, ich hole dich gegen drei ab."

"Gut." Robin wandte sich wieder seinem Handy zu.

Marlon sah auf die Uhr. Seine Mutter verspätete sich, das war ungewöhnlich. Er sah, wie andere Schüler von ihren Eltern abgeholt wurden oder über die Straße zu den Bushaltestellen gingen. Und da sah er sie. Ja, kein Zweifel, es war das Mädchen von gestern Abend. Er erkannte sie an ihren welligen Haaren, außerdem trug sie das gleiche Kleid. Sie stand regungslos zwischen den Schülern, die an ihr vorbei hasteten und sah ihn an. Dann nickte sie ihm freundlich zu.

 

"Guck mal, da drüben!" sagte Marlon.

"Hm?" machte Robin.

"Das Mädchen, das gestern Abend bei uns am Gartentor stand."

Robin sah auf. "Ja, und? Dann geht sie halt auch hier zur Schule. Vielleicht auf die Real- oder Gesamtschule. In meiner Stufe ist die nicht."

Er wandte den Blick wieder auf das Telefon. Marlon blickte ihn an und nahm ihm das Handy aus der Hand.

"Hey", protestierte Robin.

Marlon schaute wieder über die Straße. Das Mädchen war nicht mehr da. Er sah nach rechts und nach links, konnte sie aber nirgends entdecken.

"Jetzt ist sie weg", sagte er.

Robin schnappte ihm das Handy wieder aus der Hand. "Du wirst sie schon wieder sehen. Was interessiert dich denn an der?"

"Ich finde... sie sieht irgendwie nett aus. Sympathisch."

"Junge, bisher hat sich noch nicht wirklich ein Mädchen für uns interessiert, oder?"

"Und sie sieht so anders aus", sagte Marlon. "Ein bisschen... merkwürdig, findest du nicht?"

"Merkwürdig? Hm. Wieso?"

"Na, diese Haare... und dann dieses Kleid. Wer geht denn mit einem weißen Kleid in die Schule?"

Robin war überrascht. "Was für ein weißes Kleid?"

"Mensch, hast du nicht gesehen, was sie anhat?"

Robin schüttelte den Kopf. "Dann meintest du eine andere. Ich hab kein Mädchen in einem weißen Kleid gesehen."