Buch lesen: «Der Schneeball», Seite 2

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Erster Teil
1 – Speicherstadt, Hamburg

Vielleicht hätte Rosa Peters es tunlichst vermeiden sollen, in die fensterlose, im Innern des alten Speichergebäudes liegende Teeküche zum Kaffeeholen zu gehen, während sie mit ihrem Vorgesetzten Sebastian von Schirach an diesem 27. Dezember nachmittags alleine in dem Loftbüro war. Und vielleicht hätten bei ihr spätestens dann die Alarmglocken schrillen müssen, als aus den in sämtlichen Räumen befindlichen Lautsprechern Weihnachtsmusik verdächtig laut zu spielen begann.

Doch die attraktive Einunddreißigjährige war eine von Grund auf optimistische, fröhliche und lebensbejahende Person, der dunkle Gedanken für gewöhnlich fernblieben. Und so kam es, dass sie unbekümmert bei „Last Christmas“ von Wham! mitsingend Arabica-Bohnen in den Kaffee-Vollautomaten nachfüllte, bis zwei schwielige Männerhände ihre schlanken Hüften umfassten. Im nächsten Moment schon drückte sich ein erigierter Phallus durch eine Jeans an ihren Schurwollrock.

Sie erschrak. Als sie sich ruckartig umdrehte, verschüttete sie die Hälfte der Kaffeebohnen.

Es war von Schirach, der Leiter der Abteilung investigative Recherche beim homo oeconomicus, dem sie direkt unterstellt war. Sie arbeitete für das Wirtschaftsmagazin nunmehr schon seit etwas über einem Jahr auf der Basis eines revolvierenden Praktikantenvertrags. Auf der Weihnachtsfeier im vergangenen Jahr kannte sie nach kaum einer Woche dort noch niemanden. Von Schirach war ein gut aussehender belesener Mann und sie war seinem Charme nach ein paar Gin Tonics erlegen gewesen. In der Hoffnung, dass niemand sie zusammen sehen würde, hatten sie sich damals mit etwas zeitlichem Abstand von der Party wegstibitzt. Erst als von Schirach sich nach zwei Stunden in ihrem Bett heimlich davonmachen wollte und sie ihn dabei erwischte, hatte Rosa von ihm kleinlaut erfahren, dass er verheiratet und Vater zweier Töchter war.

Angewidert angesichts von Schirachs Untreue und verärgert darüber, sich selbst dafür bereitwillig als Mittäterin hergegeben zu haben, erstickte sie seine zahlreichen Annäherungsversuche in den folgenden Monaten bereits im Keim. Irgendwann hörte er schließlich mit den mehr oder weniger subtilen Avancen auf. Sie hoffte, damit die unappetitliche Affäre für immer ad acta legen zu können. Ein großer Irrtum, wie sich jetzt herausstellte, als sie sich vergeblich aus seinem Griff zu befreien versuchte. Sie bekam Angst, verbarg dies aber, indem sie es mit entwaffnendem Witz probierte:

„Es entbehrt mit unserer gemeinsamen Historie nicht einer gewissen Ironie, wenn ich hier in deiner unvermuteten Anwesenheit mit Wham!‚ Last Christmas I gave you my heart. But the very next day you gave it away‘ singe, findest du etwa nicht, Sebastian?“

Hämisches Gelächter. Von Schirachs Atem roch nach Alkohol und ging flach in ihrem Nacken, sodass ihr ein eiskalter Schauer den Rücken herunterlief.

Er säuselte: „Last Christmas you gave me your pussy. But the very next day you took it away.”

Rosa war jetzt vollends alarmiert. Irgendetwas war heute anders. Von Schirach schien sich so lange an seinem Schreibtisch Mut angetrunken zu haben, bis er sich schließlich in diesen Zustand völliger Triebsteuerung katapultiert hatte. Sie ärgerte sich darüber, dies nicht früher bemerkt zu haben. Gleichzeitig musste sie sich zwingen, nicht in Panik zu verfallen.

„Sei nicht albern, Sebastian.“

Rosa nannte ihn nun schon zum zweiten Mal beim Vornamen, um sich auf diese Weise womöglich unterbewusst sein Wohlwollen zu erschleichen. Unter dem Ablenkungsmanöver eines taktischen Lachens versuchte sie ein weiteres Mal mit aller Kraft, der Zange zwischen von Schirachs andrängendem Leib und der Küchentheke zu entkommen. Keine Chance. Seine Hände wanderten jetzt ihren Rock herunter und zogen ihn am Saum hoch. Sie schrie:

„Stopp Sebastian, ich will das nicht!“

Krampfhaft bot sie Widerstand, der jedoch Wachs in von Schirachs mehrmals wöchentlich im Fitnessstudio gestählten Armen war. Ihr 1,72 Meter großer zierlicher Frauenkörper war nichts weiter als ein Spielball in den Händen des brünstigen Eins-neunzig-Hünen.

„Das ist Vergewaltigung. Hör damit sofort auf!“

Von Schirach hechelte seine Antwort, als er ihr die Strumpfhose samt Slip herunterzog:

„Ach ja, was meinst du, wer dir glauben wird, Schlampe? Hast du schon vergessen, dass wir es schon einvernehmlich getrieben haben und die halbe Belegschaft davon weiß?“

Er riss jäh an ihren Haaren und gab nicht nach. Rosa musste ihren Kopf in den Nacken gelegt halten, um den ohnehin schon kaum aushaltbaren Schmerz nicht noch zu verstärken.

„Rennst du zu den Bullen oder sonst wohin, sage ich einfach, dass du mich heute verführt hast, als wir hier alleine zwischen den Jahren gearbeitet haben; dass du ganz heiß auf mich gewesen bist; dass du dich erst dann dazu entschlossen hast, mir eine in Wirklichkeit niemals geschehene Vergewaltigung anzuhängen, als ich reumütig zurück zu meiner wunderbaren Frau wollte; dass du dich schlichtweg nicht mit dem Umstand hast abfinden können, niemals mit mir zusammen sein zu können; dass du ein bemitleidenswertes kleines Ding bist und es keine Sekunde alleine in deinem miserablen WG-Zimmer aushältst.“

Lüstern flüsterte er ihr jetzt seine ernüchternde Schlussfolgerung ins Ohr:

„Dann steht nämlich Aussage gegen Aussage, Prinzessin. Kannst du dich daran erinnern, wie dieser ARD-Wetterfrosch damit gefahren ist? Ganz zu schweigen davon, dass du einen langen und teuren Prozess durchstehen musst, während deine Karriere brachliegt und langsam zerbröckelt.“

Rosa schäumte vor Wut. Verzweifelt schmiss sie mit einer weit ausholenden Armbewegung alles um, was vor ihr auf der Theke stand. Der dadurch verursachte Krach wurde von der lauten Musik beinahe vollständig verschluckt.

„Nur zu, schmeiß alles um, du Furie. Ich sag einfach, dass du rauen Sex wolltest und dich dabei komplett vergessen, dich ganz purer Leidenschaft überlassen hast.“

Trotzig ruderte sie weiter mit den Armen. Eine Tasse fiel zu Boden und zerbrach. Eine Lache von Milchkaffee breitete sich aus. Jetzt drückte von Schirach sie nieder. Rosa lag auf einmal bäuchlings im kalten Milchkaffee auf den Porzellanscherben. Über ihr der zwei Zentner schwere von Schirach. Der Schmerz wuchs ins Unerträgliche. An Bewegung war schon deshalb nicht mehr zu denken, weil die scharfen Kanten des Porzellans riesige Schnittwunden reißen würden.

Sie schrie wie am Spieß.

Gewaltige Mengen Adrenalin schossen ihr in die Adern. Ihr Verstand raste. Sie machte sich keine Illusionen darüber, dass sie kurz davor stand, Opfer einer grausamen Vergewaltigung zu werden. Ihr Hinterteil war entblößt und wenn sie sich nicht täuschte, öffnete von Schirach gerade seinen Hosenschlitz. Sie bereute, heute keine ihrer hautengen Skinny Jeans angezogen zu haben. Vielleicht hätte sie es ihrem Peiniger dadurch einen Deut schwerer gemacht, der die Teeküche für sein Verbrechen perfekt ausgewählt hatte.

Es war mit Ausnahme der Toiletten der einzige Ort in dem Loft, an dem niemand sie aus den alten Speichergebäuden am Brooksfleet auf der einen und aus den Neubauten am Sandtorkai auf der anderen Seite beobachten konnte. Die laute Musik übertönte jedes Geschrei. Hinzu kam, dass ein plötzlich auftauchender Kollege äußerst unwahrscheinlich war. Die paar, die keinen Urlaub zwischen Weihnachten und Neujahr genommen hatten, waren bereits zur frühen Mittagszeit nach Hause gegangen.

Nie hätte sie sich träumen lassen, dass dies eines Tages tatsächlich passieren würde. Sie hatte über zahlreiche Vergewaltigungen tiefer gehend gelesen. Dieses Verbrechen war so alt wie die Menschheit selbst. Stets hatte sie sich geschworen, sich die Seele aus dem Leibe zu schreien und zu kämpfen bis zum Schluss. Aber ihre Kräfte schwanden. Die Handgelenke schmerzten. Sie ächzte unter dem gewaltigen Gewicht des von Schirach. Zudem war der Mann stark wie ein Stier. Ihr Wille brach. Leise weinend ergab sie sich ihrem Schicksal und hoffte inständig, dass es nur bald vorbei sein würde.

2 – Heron Tower, City of London

„Was hat das zu bedeuten ‚Belsazar aber ward in selber Nacht von seinen Knechten umgebracht‘?“, fragte Alexander Büsking seinen Freund Fiete Peters hoch oben in den Wolken über der City. Die Tonalität geriet ihm alles andere als freundlich.

Es war diesig und regnete noch immer leicht in London. Von ihrem Fenstertisch im 40. Stockwerk des Heron Towers konnten sie wegen des schlechten Wetters kaum Themse und umstehende Wolkenkratzer erkennen.

„Das ist aus einer Ballade von Heinrich Heine, du literarischer Analphabet, du schamloser Kulturbanause.“

„Ach, weiß ich doch selber, dass das eine Heine-Zitation ist, du Arsch. Ich hab mein Abitur mit 1,0 gemacht. Kenne die Hälfte der Klassiker der deutschen Literatur noch heute auswendig. Nein, ich meine: Was will man uns damit sagen? Ist das eine Morddrohung?“

„Blaff mich nicht so an, Alexander. Mir ist auch nicht gerade danach zumute, bei Moët & Chandon in der Champagne anzurufen und quer durch die Nordsee eine Dom Pérignon-Pipeline nach Sylt legen zu lassen.“

Büsking musste lachen. Offensichtlich hatte sein Buddy trotz der misslichen Lage den notorischen Appetit des Investmentbankers für derben und stumpfen Humor noch nicht verloren. Er gluckste:

„Und das ganze West Stream zu nennen, Gerhard Schröder als Aufsichtsrat der Betreibergesellschaft mit einem Jahressalär von sieben Millionen Euro einzusetzen und so zu tun, als habe das nicht den geringsten politischen Hintergrund und geschähe das allein um der Management-Qualitäten des Altkanzlers wegen?“

Schallendes Gelächter. Sie saßen im Duck & Waffle und aßen ungefähr zur gleichen Zeit, zu der Rosa Peters in Hamburg Opfer einer Vergewaltigung wurde, ein zweites Frühstück. Fiete Peters hatte eine 50-Pfund-Note Schmiergeld gezückt und dem Personal am Empfang zugesteckt, um nachmittags noch an ein English Breakfast zu kommen. Vor noch nicht einmal einer Stunde war er mit seiner Cessna Citation auf dem London City Airport gelandet. Seinem Piloten hatte er beim Verlassen des Jets mitgeteilt, dass er nach seiner Unterredung mit Büsking umgehend zurück nach Sylt fliegen wollte.

„Ich denke“ – Peters gab nur widerwillig eine Antwort auf Büskings Eingangsfrage – „dass das eher metaphorisch zu verstehen ist. Man will uns nicht tatsächlich umbringen, sondern uns nur unser Vermögen nehmen, uns sozusagen in unserer Eigenschaft als vermögende Person annullieren.“

„Aber wieso? Wenn ich mich recht entsinne, hat Belsazar in Heines gleichnamiger Ballade Gotteslästerung betrieben:

Er trug viel gülden Gerät auf dem Haupt;

Das war aus dem Tempel Jehovas geraubt.

Und der König ergriff mit frevler Hand

Einen heiligen Becher, gefüllt bis am Rand.

Und er leert ihn hastig bis auf den Grund

Und ruft laut mit schäumendem Mund:

Jehova! dir künd ich auf ewig Hohn –

Ich bin der König von Babylon!

Was haben wir mit derlei Blasphemie zu schaffen?“

„Das meinst du nicht im Ernst, Alexander, oder?“

Sie waren Freunde seit dem gemeinsamen Studium der Betriebswirtschaftslehre in Münster. Peters wartete ab, bis die junge Kellnerin ihm Kaffee nachgeschenkt hatte. Das tat er nicht, weil er die blutjunge Latina nicht an ihrem Gespräch teilhaben lassen wollte, sondern vielmehr, weil ihr abyssisches Dekolleté seine volle Aufmerksamkeit beanspruchte. Als sie sich Gästen am Nebentisch zuwandte, fuhr er fort:

„Denk doch mal nach! Welche Leichen liegen bei dir im Keller? Wo kommt das Geld her, mit welchem du dir gerade dein Eisberg-Haus baust mitten im Babylon des 21. Jahrhunderts? Wie viel Zeit ist denn verstrichen, seitdem du dich selbst zum Gott über die Finanzmärkte aufgeschwungen hast? Soll ich das wirklich ausführen?“

Büsking winkte ab. Das brauchte sein Freund nicht zu tun. Schweigend aß er seine Colombian Eggs mit Avocado auf und dachte dabei über seine kometenhafte Karriere nach.

Schon als kleines Kind hatte er, der Sohn eines ostwestfälischen Landwirts, welcher mit seinem Hof im Bielefelder Umland eher schlecht als recht über die Runden gekommen war, nicht verlieren können. Während Büskings BWL-Studiums an der westfälischen Wilhelms-Universität bescherte ihm eine gewisse mathematische Begabung gepaart mit der Fähigkeit, stupide PowerPoint-Slides auswendig zu lernen, Traumnoten. Schließlich verhalf ihm sein gutes Aussehen zu einem Auslandssemester an der berühmten London School of Economics, indem er der Leiterin der Auswahlkommission den Kopf verdrehte.

Ins Berufsleben startete er auf dem Trading Floor der Germanischen Bank in der City of London. Doch schon bald musste der bisher so erfolgsverwöhnte Berufsanfänger feststellen, dass es für gewöhnliche Derivatehändler am Kapitalmarkt kein Erbarmen gab. Man konnte in dem einen Moment gigantische Summen verdienen, nur um im nächsten alles wieder zu verlieren.

Irgendwann fiel ihm auf, dass Mitarbeiter seiner Bank die Höhe des Referenzzinssatzes LIBOR zusammen mit anderen Banken selbst bestimmten. Und dass der LIBOR wiederum für die Entwicklung der Kapitalmarktpreise verschiedener Finanzinstrumente verantwortlich war. Stellte man es also richtig an, war das Reichwerden nicht mehr aufzuhalten, weil man schon im Vorhinein wusste, ob bestimmte Kurse steigen oder fallen würden. Ein kalter Schauer lief ihm den Rücken herunter, als er in diesem Augenblick der Klarsichtigkeit spürte, dass er sich fortan wieder auf der Siegerstraße befinden würde.

Mit deutscher Gründlichkeit schuf und orchestrierte er ein Kartell, das die internationalen Medien später, als es in 2012 aufflog, „French Connection“ tauften. Letzteres deshalb, weil die daran aus seiner und anderen Banken beteiligten Banker in ihren Emails untereinander auf Französisch kommunizierten, um die zu der Zeit nur auf auffällige englische Begriffe abstellenden automatischen Suchprogramme der britischen Finanzaufsicht zu umgehen.

Das Prinzip war einfach: Der LIBOR (London Interbank Offered Rate) sollte idealtypisch dem Zinssatz entsprechen, zu dem sich Banken am Finanzplatz London untereinander Geld leihen konnten. Arbeitstäglich erfolgte die Fixierung des LIBOR dergestalt, dass die in London international tätigen Banken der British Bankers’ Association den Zinssatz meldeten, zu dem sie sich vermeintlich Geld von anderen Banken borgten. Der britische Bankenverband bildete sodann einen Durchschnittswert, den LIBOR. Die bei den jeweiligen Banken für die Mitteilung zuständigen Geldhändler wurden nun von den eingeweihten Derivatehändlern ihres jeweiligen Bankhauses bestochen, damit sie je nach Wunsch der „French Connection“ zu hohe oder zu niedrige Sätze angaben. Die Manipulation des LIBOR war perfekt.

Da es weltweit üblich war, die Höhe der Zinsen von Sparguthaben und Krediten, aber auch von diversen anderen Finanzprodukten an den LIBOR zu koppeln, zählten zu den Geschädigten der Verschwörung unter anderem vor allem Gläubiger, die bei einem nach unten hin manipulierten LIBOR zu geringe Haben-, sowie Schuldner, die bei einem nach oben hin verschobenen LIBOR zu hohe Sollzinsen verzeichneten. Betroffen war vom Sparer über den kleinen Häuslebauer bis hin zum Unternehmer also fast jeder.

Aber das war Büsking schnuppe. Denn unter diesen Vorzeichen war das Trading von Termingeschäften auf den Drei- und Sechs-Monats-LIBOR regelrecht eine Goldgrube. In seinem Rekordjahr allein machte er für sein Bankhaus einen legendären Gewinn von Pi mal Daumen 300 Millionen Euro. Selbstredend wanderte davon ein beträchtlicher Teil in Gestalt eines saftigen Bonus in seine eigene Tasche.

Inzwischen wurden von den Aufsichtsbehörden gegen die beteiligten Banken, darunter neben Büskings eigener Bank unter anderem Barclays, die Royal Bank of Scotland und die UBS, Milliardenstrafen verhängt. Vor dem Hintergrund, dass nach Schätzungen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich weltweit Finanzprodukte im Wert von mehr als 500 Billionen Euro am LIBOR hingen, war auch mit einer Welle zivilrechtlicher Verfahren zu rechnen, gleichwohl die Beweisführung sich hier als schwierig gestalten dürfte. Ferner sahen sich einige Mitverschwörer bereits persönlicher Strafverfolgung ausgesetzt.

Büsking jedoch, der nach dem Auffliegen des Kartells in 2012 bei der Germanischen Bank gekündigt hatte, blieb weiterhin unbehelligt. Niemand von der Finanzaufsicht oder Staatsanwaltschaft klopfte bei ihm an. Niemand stellte unangenehme Fragen. Stets hatte er im Gegensatz zu seinen Mittätern peinlich genau darauf geachtet, keine Spur zu hinterlassen. Stets hatte er sich wie in diesem Traum gefühlt, in dem man einen Mord begangen hatte und davor zitterte, von der Polizei als der Mörder enttarnt zu werden. Und jetzt war es geschehen, irgendein Möchtegern-Gott, irgendeine kackfreche autodeifizierende Götze maßte sich an, ihn zur Rechenschaft zu ziehen.

3 – Übers Alstereis nach Winterhude

Zwischen Rosa Peters eiskalten Beinen lief das viskose Sperma ihres Vergewaltigers lauwarm herab. Sie ging vornübergebeugt, weil ihr Unterleib schmerzte. Es dämmerte. Das Thermometer einer Apotheke, an der sie vorbeikam, zeigte minus sechs Grad Celsius an.

„Nimm die Pille danach“, hatte von Schirach ihr noch gebieterisch zugeraunt, als er kaum eine halbe Stunde zuvor den Reißverschluss seiner Jeans wieder hochzog. Danach war er in sein Büro gegangen, hatte seinen Kamelhaar-Wintermantel geholt und sich zu seiner jungen Familie aufgemacht, die in einer geräumigen Harvestehuder Patrizierwohnung mit viereinhalb Meter hohen Decken am Kamin auf ihn wartete.

Rosa wusste nicht wohin als nach Winterhude, wo sie in einer Wohngemeinschaft mit drei anderen jungen Journalisten eng zusammengepfercht lebte. Von der Speicherstadt in der Hafencity kommend durchquerte sie zu Fuß die noble Einkaufsstraße Neuer Wall, um unter Leuten zu sein. Doch die quirligen Menschenmassen, die in den edlen Geschäften ihre Weihnachtsgeschenke umtauschten oder Bargeschenke in Sachwerte umwandelten, verstärkten ihr Gefühl der Einsamkeit nur noch.

Auf der Höhe der Schleusenbrücke wechselte sie zu den parallel verlaufenden Alsterarkaden. Unter diesen kämpfte sie sich durch die Kälte zum Jungfernstieg vor, dann am Rathaus vorbei auf dem Laternen beschienenen Ballindamm die zugefrorene Binnenalster entlang, bis sie schließlich mit schlotternden Knien auf der Kennedybrücke stand. Die eisbedeckte Außenalster lag nun mit ihrer ganzen Pracht im amethystfarbenen Glast der Dämmerung vor ihr.

Am gegenüberliegenden Ufer ungefähr zweieinhalb Kilometer Luftlinie entfernt flimmerten die Lichter von Winterhude. Der an der nördlichen Spitze des berühmten Stadtgewässers kauernde Stadtteil war inzwischen nur noch schemenhaft im Halbdunkel zu erkennen.

Rosa betrat das Eis.

Die Eisschicht war dünn. Zu dünn. Zwar hatten die Alsterdampfer ihre Punschfahrten mittlerweile eingestellt, womit die Alsterschifffahrt endgültig zum Erliegen gekommen war. Aber erst wenn an 50 Messstellen auf der Alster 20 cm geschlossenes Kerneis gemessen wurde, gab die Stadt die offizielle Freigabe, woraufhin bis zu einer Million Menschen die Eisfläche zum Flanieren, Schlittschuhlaufen oder Glühweintrinken in Beschlag zu nehmen pflegten. Für eine Eisschicht derartiger Dicke bedurfte es in der Regel eines starken Frosts von mindestens zweiwöchiger Dauer. Das Thermometer hatte allerdings erst seit drei Tagen mehr oder weniger kontinuierlich deutlich unter null gelegen. Dicker als ein paar Zentimeter konnte die Eisschicht kaum sein.

Weit und breit war niemand auf dem Eis zu sehen. Dass man es überhaupt betreten konnte, hatte Rosa heute Morgen aus dem öffentlichen Bus auf dem Weg zur Arbeit gesehen. Ein paar todesmutige Halbwüchsige hatten sich von der Alsterwiese Schwanenwik aus auf den schilfbewachsenen flachen Uferbereich des Stadtsees hinausgewagt. Das Eis hatte sie getragen. Keineswegs war dies jedoch eine Garantie dafür, dass es auch für eine Erwachsene und außerhalb des Uferbereichs dick genug sein würde.

Zwar wusste Rosa um die Gefahr, der sie sich aussetzte. Mitnichten war sie jedoch lebensmüde. Sie trieb es trotzdem aufs Eis, weil sie glaubte, nur damit Erinnerungen an eine glücklichere Kindheit wachrufen zu können. Mit deren Hilfe wollte sie das soeben Geschehene aus ihren Gedanken ein für alle Mal tilgen.

Das letzte Mal war die Alster 2012 so fest zugefroren gewesen, dass die Stadt das Eis für das Volksfest freigegeben hatte, welches die Hamburger Alstereisvergnügen nannten. Jene märchenhaften Stimmungen waren wieder einmal entstanden, die den Bürgern Hamburgs keine Zweifel daran ließen, dass sie in der schönsten Stadt der Welt lebten. Überall an den Ufern wurden Buden aufgestellt, die Glühwein, warmen Kakao, heiße Maronen, Bratwürste und allerhand anderes feilboten. Wo ansonsten Boote an den Stegen der zahlreichen Ruderhäuser und kleinen Marinas anlegten, sammelten sich Menschentrauben. Aus manchem Lautsprecher ertönte Musik und das Eis wurde zur Tanzfläche. Anstatt den Landweg zu wählen, nutzten die Hamburger fortan die zugefrorenen Fleete und Kanäle, um zu Fuß, in Schlittschuhen oder auf von ihren Hunden gezogenen Schlitten zur Alster zu gelangen. Obwohl offiziell untersagt, konnte man frühmorgens den einen oder anderen Eissegler erspähen, wie er im Sonnenaufgang nahezu lautlos über die leere Eisfläche schoss.

Vor 2012 hatten die Buden sogar mitten auf dem Eis gestanden. Als kleines Mädchen war Rosa mit ihren Eltern in den Neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts mit Schlittschuhen durch ganz Hamburg gefahren. Seitdem liebte sie dieses Venedig des Nordens abgöttisch. Doch die Erinnerung daran konnte ihren Ekel nicht vertreiben.

Sie war inzwischen schon eine gute Viertelstunde mitten auf dem Eis unterwegs. Es knackte zwar ab und an gespenstisch, hielt ihrem Gewicht aber stand.

Plötzlich war ihr speiübel. Rosa fasste sich unwillkürlich an ihren Bauch, wo die Kleidung unter der Jacke pitschnass von der Milchkaffeelache war, in der sie während der unsäglichen Tat gelegen hatte. Sie fiel auf die Knie und übergab sich. Als sie wieder aufblickte, erkannte sie, dass sie sich genau vor dem Eingang zum Uhlenhorster Feenteich befand. Etwas zog sie dorthin. Sie unterquerte eine Brücke und befand sich bald auf dem im Verhältnis zur Alster kleinen Oval aus Eis.

Ringsherum standen zumeist weiße Patrizierhäuser, die genauso von vergangenem wie von neuem Reichtum der Kaufmannschaft der Hafenstadt sprachen. Die großzügigen Gärten reichten hinunter bis zur hölzernen Spundwand des Feenteichs. Auf dem Steg eines Privatanlegers sah sie einen Mann rauchen, der ihren Spaziergang auf dem dünnen Eis offensichtlich missbilligte, jedenfalls folgerte Roas dies aus seinem langsamen Kopfschütteln. Durch die raumhohen Fenster der Villen konnte sie einen Blick in die hell erleuchteten Zimmer auf die üppig geschmückten Weihnachtsbäume des Großbürgertums erhaschen.

Eine wehmütige Stimmung befiel sie und ertränkte für einen kurzen Moment die Abscheu davor, dass sie noch immer das Stakkato von von Schirachs schmerzhaften Stößen in ihrem Unterleib zu spüren glaubte. Sie selbst hatte einmal zu diesem Großbürgertum gehört, war noch immer Tochter eines berühmten Hamburger Reeders, Schiffsfondsinitiators und Senators. Als Absolventin der Bucerius Law School war sie zwei Jahre lang angestellte Anwältin mit besten Karriereaussichten im Hamburger Büro einer großen US-amerikanischen Wirtschaftskanzlei gewesen.

Doch dann hatte sie sich mit ihrem Vater zerstritten und alsbald auch mit dem Rest der Familie gebrochen.

Warum?

Eines Tages hatte sie im Arbeitszimmer ihres Vaters auf ihn gewartet und hatte dabei aus Langeweile durch einen auf dem Schreibtisch liegenden Stapel Verträge geblättert. Mit einem Schaudern realisierte sie, dass ihr Vater seine Anleger systematisch betrog. Sie konfrontierte ihn damit, er wiegelte ab, forderte ihre bedingungslose Loyalität, appellierte an ihren Familiensinn, rief ihr in Erinnerung, wie auch sie zeit ihres Lebens von seinem Geld profitiert und feudal gelebt hätte.

Der Streit war heftig, aber letzten Endes versprach sie ihm, niemandem davon zu erzählen. Um trotzdem noch in den Spiegel schauen zu können und weder direkt noch indirekt aus den illegalen Machenschaften ihres Vaters Vorteile zu ziehen, mied sie ihren Vater und seine neue Familie, nahm keinen Cent mehr von ihm an. Ihren gut bezahlten Anwaltsjob hängte sie kurz drauf ebenfalls an den Nagel, hatte man sie dort doch vor allem auch deshalb so gern eingestellt, weil ihr Vater einer der größten Mandanten der Kanzlei war.

Mit einer Leidenschaft und Entschlossenheit, die sie rückblickend bisweilen heute noch in Erstaunen versetzte, hatte sie sich seit zwei Jahren nun komplett dem investigativen Wirtschaftsjournalismus verschrieben. Wenn sie es schon nicht übers Herz brachte, ihren Vater der gerechten Strafe zuzuführen – so die Logik ihres Ablasshandels –, wollte sie zumindest dafür Sorge tragen, dass anderen Schuften in der von Schuften nicht gerade armen Wirtschaftswelt das Handwerk gelegt wurde.

Aber wohin hatte sie das gebracht?

Diese Frage hämmerte geradezu unerbittlich auf die feinfühlige Klaviatur ihrer zarten Seele, als in Rosas Tasche etwas vibrierte. Sie kramte ihr Smartphone hervor und las darauf die folgende Textnachricht:

Liebe Rosa, dass es eben noch einmal zwischen uns zum Sex gekommen ist, bereue ich sehr. Nicht nur, weil ich meine Frau betrogen habe, sondern auch, weil ich dir keine falschen Hoffnungen machen, ich dich nicht verletzten will. Nicht zuletzt um deinetwillen muss es bei dem bleiben, worum ich dich kurz zuvor so nachdrücklich gebeten habe: Lass uns mit den Frivolitäten um Gottes Namen aufhören! Ich flehe dich an! Ich bin sicher, dass du bald ebenfalls jemanden finden wirst, mit dem du glücklich sein kannst, jedenfalls hoffe ich das inständig!

Sie schäumte vor Wut. Was für eine zum Himmel schreiende Farce! Rosa durchschaute von Schirachs mieses Spiel augenblicklich. Er agierte strategisch, schaffte schon jetzt in kühl-berechnender Vorausschau die Voraussetzungen, auf denen seine Verteidigung aufbauen würde. Die Nachricht diente einzig und allein dem perfiden Zweck, sie im Falle eines Gerichtsprozesses als eifersüchtige, rachedurstige Lügnerin dastehen zu lassen, während er sich darin den Heiligenschein eines zwar treulosen, nichtsdestominder aber reumütigen, ihr gegenüber gutmeinenden Opfers aufsetzte.

Plötzlich erschien eine weitere Nachricht auf dem Display:

Sehr geehrte Frau Peters, ich habe unser letztes Treffen sehr genossen. Leider konnte ich Ihnen damals noch nicht weiterhelfen. Jetzt glaube ich, etwas zu haben, was Sie und Ihre Leser interessieren könnte. Bitte melden Sie sich möglichst bald bei mir! Mit freundlichem Gruß, Deniz Gül

Für einen kurzen Moment mischte sich ein Klecks Neugier unter die dunklen Farbmassen aus Wehmut, Ekel und Wut auf Rosas Gefühlsleinwand. Dann überließ die Neugier wieder der Wehmut, dem Ekel und der Wut allein das Feld. Dann wichen auch die Wehmut und der Ekel; zurück blieb die Wut.

Dann brach Rosa durch die Eisdecke.

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