Anders Sein

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6.

»Schau, wenn du den Hobel so hältst, hast du es wesentlich leichter!« Sieker zeigte Matthis den entsprechenden Handgriff und beobachtete dann, wie dieser vorsichtig und gewissenhaft an dem Brett entlang fuhr. »Ja, genau, und jetzt hier an diesem Teil. Da ist es etwas schwieriger!«

Seit er vor etwa zwei Wochen zum ersten Mal am Familientisch gesessen hatte, hatte sich sein Zustand stetig verbessert. Er lernte mit Matthis an der Seite das Gehen neu, schulte seine Muskeln, die durch die Zeit im Liegen gelitten hatten und half in Haus und Stall mit. Anna riet ihm, da sein Husten hartnäckig anhielt, l viele Pausen einzulegen. Den Weg nach Hause könne er erst in ein paar Wochen antreten, wenn seine Lunge frei und er insgesamt kräftiger sei. Vor einigen Tagen hatte er einen Brief an seine Familie geschickt, damit diese endlich wusste, wo er war und was passiert war. Er hatte er an jenem Abend seinen Gastgebern erzählt, dass er auf dem Heimweg von einem Besuch von, als drei Männer scheinbar grundlos angegriffen und verprügelt worden war. »Sicher, ich hatte etwas Reisegeld dabei und Proviant, eine kleine Tasche mit Werkzeugen – aber das alles war es kaum wert, mich zu berauben«, hatte er erklärt, dann aber auf weitere Fragen zu diesem Überfall nicht antworten können. »Ich bin Tischler und Zimmermann, ich arbeite mit Holz, manchmal auch bei Leuten zu Hause. Mein Sohn wird ja gut versorgt, auch wenn seine Mutter tot ist. Ich habe zwei Schwestern, die sich um ihn kümmern.« Er schüttelte den Kopf, wandte sich seinem Essen zu und sagte leise: »Ich weiß einfach nichts mehr.«

Heute hatte er sich wieder einmal mit Matthis in den Holzschuppen begeben. Die beiden arbeiteten an einem Regal für die Küche. Mutter hatte schon lange gesagt, dass sie zusätzlichen Platz brauche, und nun half Matthis Sieker dabei, das Alte zu erweitern. »Ich würde gern mehr über Holz und über das Tischlern lernen«, hatte Matthis dem Genesenden erklärt, und der wiederum war froh, dass er sein Wissen weitergeben durfte. Der Junge war willig und begabt, darüber hinaus freundlich und höflich. Warum nicht, so lange er hier war?

»Ist der Junge schon wieder mit Sieker zusammen? Ich will das nicht!« Der Bauer lief in der Küche auf und ab, stampfte mit dem Fuß auf und schimpfte. »Du verwöhnst den Jungen viel zu sehr. Er kommt bald aus der Schule, er ist kein Säugling mehr. Aber nein, der Junge muss ja mindestens zweimal im Monat seinem vertrottelten Vetter den Arsch abwischen gehen und dann die Pflege von Sieker, ja ich weiß, Anna ist schwanger, aber das hätte sie doch wohl allein geschafft! Und nun rennt der Junge - dein Sohn! - dem hinterher wie ein Hündchen und springt, wenn der ruft. Und ich, sein Vater, muss sehen, wer mir bei der Arbeit hilft! Warte es ab, der setzt ihm irgendwelche Flausen in den Kopf! Dabei hat er davon wirklich schon genug!«

Martha schwieg. So ein Wutanfall ging wieder vorüber, nie so schnell, wie er gekommen war, meist völlig aus dem nichts, aber er verging. Früher hatte sie dagegengehalten, versucht, sich und ihren Standpunkt zu verteidigen, jedoch wenn Karl so schimpfte, war er Worten nicht mehr zugänglich. Sie holte das Mehl aus dem Schrank, bestäubte die Arbeitsfläche vor sich und nahm stumm den Brotteig in Angriff. Karl stapfte weiterhin in der Küche hin und her. Manchmal musste sie heimlich in sich hinein lächeln, denn er wirkte dann oft wie ein Kind, das seinen Willen nicht bekommt, und diese Reaktion kannte sie. Anton, ihr dritter Sohn, hatte sich, wenn sein Zorn zu groß wurde, sogar hingeworfen und mit den Fäusten den Boden bearbeitet … Da war er vier oder fünf gewesen. Was er jetzt wohl macht? »Lieber Gott, gib, dass es ihm gut geht und an nichts fehlt«, betete sie im Stillen, wie mehrmals am Tag, seit er damals seinen Sachen gepackt und verschwunden war. Sie hatte ihn nicht wiedergesehen, fünf Jahre war das jetzt her.

»Hörst du mir eigentlich zu? Dein Sohn …«

»Hallo! Ist jemand da? Hallo!« Von der Deele her hörten sie jemanden rufen. Scheinbar bekamen sie Besuch, ungewöhnlich um diese Zeit. Martha lugte vorsichtig hinaus, erschrak und band in Windeseile ihre Schürze ab.

»Schnell, Vater, zieh dir ein Hemd an und wasch dich, es ist der Pastor!« Fahrig wusch sie sich die Hände in der Waschschüssel, strich sie ihr Kleid glatt, und stand Sekunden später auf der Deele dem Pastor gegenüber. Sie begrüßte ihn freundlich, aber ein wenig verlegen.

»Herr Pastor Keller, was bringt sie denn hierher, wir waren gar nicht, wir haben nicht …«

Sie streckte ihm beide Hände zum Gruß entgegen, versteckte sie aber schnell wieder hinter dem Rücken und lief rot an. Auf ihren Armen klebten deutliche Spuren des Teigs, den sie soeben geknetet hatte. Zum Glück trat jetzt auch Karl zu ihr und dem Geistlichen.

»Pastor! Komm, wir gehen in die gute Stube, und die Frau macht uns ’nen Kaffee. Und bring uns den Klaren dazu, hörst du?«, gab er an seiner Frau auf. Er hob seinen Arm, als wolle er ihn dem Pastor um die Schulter legen und wandte sich dem Wohnzimmer zu. Martha verschwand schnell wieder in der Küche. In der Stube hatte Karl dem Pastor inzwischen Platz angeboten und holte aus dem Schrank ein schmales Holzkistchen, das er öffnete und auf den Tisch stellte. »Schau, Pastor, nur das Beste! Kaffee ist auch gleich soweit, die Frau …«

»Nun bleib mal ruhig, Bauer. Ich möchte, dass deine Frau auch dabei ist, wenn ich euch sag, warum ich gekommen bin.« Er sprach Hochdeutsch, aber man hörte ihm seine rheinische Heimat an. Das hiesige Platt beherrschte er gar nicht.

Er saß dort auf dem selten benutzten Sofa, roch genüsslich an er dicken Zigarre, die er aus dem Holzkästchen genommen hatte, nahm ein Streichholz aus der Schachtel, die er einstecken hatte und zündete die Zigarre an. Er nahm sich Zeit dazu und konzentrierte sich scheinbar ganz auf die Zigarre. Der Pastor war jung, Anfang dreißig, hatte eine recht grobschlächtige, kräftige Figur und schon nur wenig Haare auf dem Kopf, diese aber waren dicht und dunkel. An den Falten in den Augen- und Mundwinkeln sah man, dass er häufig gelacht hatte in seinem Leben, auch die großen, rauen Hände passten nicht so recht in Karls Bild von einem Geistlichen. Der Pastor war er vor zwei Jahren hierher versetzt worden, als der alte Decimus mit bald achtzig Lenzen zu seinem Schöpfer gegangen war. Decimus, das war ein Pastor gewesen, so wie es sich gehört: alt, klein, feinsinnig, ein bisschen schwächlich und beinahe zart. Dieser hier hatte die Landbevölkerung gleich zu Anfang in Aufregung versetzt, weil er sich nicht wie ein Pastor verhielt. Er trug wochentags keinen schwarzen Anzug, eigentlich gar keinen Anzug, sondern oft billige Arbeitskleidung, wie Karl selbst. Als er im Herbst vor ein paar Jahren beim Presbyter Niehaus vorstellig wurde, war dieser dabei, Kartoffeln auszumachen. Eine nervtötende, anstrengende Arbeit, zumal der Boden nass und schwer gewesen war durch den beständig fallenden Regen. Pastor Keller hatte seinen Mantel ausgezogen und dann nach Kräften mitgeholfen. Erst nachdem die Erdäpfel aus der Erde und die Helfer in der Scheune waren, um sie zum Trocknen auszubreiten, hatte er sich Niehaus vorgestellt. Dieser war fast aus allen Wolken gefallen, die Geschichte hatte sich damals wie ein Lauffeuer verbreitet. Vielleicht war seine Kirche deswegen immer gut besucht. Erst war es nur die Neugier auf den Neuen, die Lust an der Sensation, nun kamen sie, weil er offene Worte fand in der Sprache, die hier ein jeder verstand. Karl hatte eine Schwäche für den Mann, aber ein Pastor war das nicht. So hatte ein Geistlicher nicht zu sein!

Martha hatte sich die Arme fast wund gescheuert, man sah es, als sie jetzt mit dem Kaffee und den Gläsern in die Stube kam und den Tisch deckte. Sie schickte sich an, den Raum zu verlassen, jedoch der Pastor wies auf den Sessel neben seinem und sagte: »Setzen Sie sich ein wenig zu uns, Frau Ollerdissen! Das geht auch Sie an.« Er lächelte freundlich und Martha nahm vorn auf dem Sessel Platz und schenkte den Kaffee ein. Karl schüttelte den Kopf. »Was ist los, Pastor?«, fragte er, »Hat der Junge was angestellt? Dann leg ich ihn über Knie!« Pastor Keller schmunzelte: »Na, lange kannst du das nicht mehr, Bauer, so’n großen Jungen, eines Tages wehrt der sich!« Er lachte herzlich. »Nein, ganz im Gegenteil«, meinte er dann, »Matthis ist ein guter Junge. Fleißig, ordentlich, soweit Jungs ordentlich sein können«, wieder schmunzelte er, »und vor allem ist er klug, wissbegierig und hat ein großes Herz! Was habt ihr vor, wenn er aus der Schule kommt?« Martha rückte, womöglich, etwas weiter nach vorn auf ihrem Sessel.

»Er möchte …«

»…das spielt keine Rolle, Mutter, darüber haben wir oft genug gesprochen! Er wird seine Brüder hier auf dem Hof unterstützen, Pastor. So ist es Brauch seit alters her.« Fast ein bisschen trotzig schaute er den Geistlichen an, der erst einmal in aller Ruhe seine Tasse zum Mund führte, um einen großen Schluck zu nehmen. »Oh, der ist gut! Schön kräftig, vielen Dank«, lobte er und wandte sich Martha zu, als hätte Karl gar nicht gesprochen. »Er möchte was? Was will Matthis?« Sie warf einen stummen Blick auf ihren Mann, jedoch der sagte nichts. Nur seine Augen wirkten dunkler, auf seiner Stirn sah man deutlich eine Ader hervortreten, seine Ohren waren rot geworden.

Er ist zornig, schloss sie. Er wird mich nicht schlagen, nicht hier und jetzt, weil der Pastor da ist.

»Er möchte irgend etwas anderes machen. Er liebt die Tiere, aber nur melken, misten, melken, das reicht ihm nicht. Und er liest so gern. Er ist nicht…«.

»Schluss, Martha! Matthis hilft seinen Brüdern, er wird Knecht hier auf dem Hof, und aus! Ich lasse nicht noch einen Sohn gehen!« Karl war aufgesprungen und schlug mit der Faust auf den Tisch. Eine der Tassen fiel dabei zu Boden und zerbrach, der warme Kaffee traf die Hose des Pastors, dieser fluchte und sprang ebenfalls auf. Martha war einen Moment lang starr vor Schreck, dann eilte sie hinaus, um ein Tuch und einen Besen zu holen. In ihrer Eile bemerkte sie nicht, dass Sieker ins Haus gekommen war. Sie rannte ihn fast um.

 

»Hoppla«, sagte er, »was ist denn los?« Da erst merkte sie, dass sie weinte.

»Nichts«, schluchzte sie, »Alles ist gut. Nur eine kaputte Tasse …« Sie wischte sich mit ihrer Schürze die Augen trocken, atmete tief durch und eilte weiter, in Richtung Küche.

Die Tür zur guten Stube stand einen Spalt offen, daher hörte Sieker jetzt die sonore Stimme des Pastors: »Du wirst ihn verlieren, wenn er hierbleiben muss. Nur wenn du ihn gehen lässt, wird er eines Tages zurückkommen. Martha hat doch auch mit Anton einen Sohn verloren und trotzdem will sie, dass Matthis seinen Weg geht. - Nein, sei ruhig, jetzt rede ich! Der Junge könnte weiter zur Schule gehen oder in eine Lehre. Ich würde euch helfen, mich darum kümmern, dass er was Ordentliches bekommt!«

Sieker sah Martha aus der Küche kommen und sprang zur Seite. Er hatte gelauscht, es war ihm peinlich, aber es brachte ihn auf eine Idee. Jetzt, wo Frieda bei ihm wohnte und seinen Haushalt führte, könnte er wieder einen Lehrling aufnehmen. Schnell begab er sich zurück in den Holzschuppen.

Pastor Keller hatte Karl eindringlich ins Gewissen geredet, seinen Kaffee getrunken und in aller Gemütsruhe seine Zigarre geraucht. Der Bauer hatte sich derweil beruhigt und am Ende sogar versprochen: »Ich werde mal mit dem Jungen reden, vielleicht kann ich ja noch einmal über alles nachdenken.« Keller war nicht sicher, was dieses Versprechen wert war, er kannte den sturen und altmodischen Menschenschlag zu Genüge. Jetzt wollte er sich auf den Heimweg machen, als er Stimmen aus dem Holzschuppen hörte. Matthis‘ helles Jungenlachen, eine dunkle Stimme, die ebenso fröhlich klang, nur ab und zu unterbrochen von einem ungesund klingenden Husten. »Ah, der Gast und Patient, den würde ich gern kennenlernen«, mutmaßte er bei und klopfte an die offene Tür.

»Matthis, du übst ja gar nicht deine Lieder für den Sonntag!«, rief er mit einem breiten Lächeln, »wie soll ich dich denn da an Ostern konfirmieren, wenn du nichts kannst?«

»Ach, Herr Pastor«, Matthis ging unbefangen auf den Scherz ein, Sieker staunte insgeheim über den freundschaftlichen Ton zwischen Pastor und Konfirmand, »ich habe so viel geübt, manche kann ich fast schon rückwärts singen!«

Sieker kam hinter der Werkbank hervor, wischte sich die Hände an den Arbeitshosen ab, die ihm ein bisschen zu lang waren – Karl hatte ihm welche geliehen, seine Kleidung war ja völlig zerrissen und schmutzig gewesen – und stellte sich förmlich vor.

»Guten Tag, Herr Pastor Keller, ich bin Jakob Sieker aus Enger. Sie haben vielleicht schon gehört …«, er begann, heftig zu husten. Sein Kopf lief rot an, er quälte sich. Er hustete, schnappte nach Luft, hustete, beugte sich dabei vor, dann machte er sich grade, hob die Arme, all das nutzte nicht, er hustete weiter. Keller hatte ihn beim Arm gefasst und nach draußen vor den staubigen Schuppen geführt. Er brachte Sieker zum Hauklotz und half ihm, sich hinzusetzen. Matthis war inzwischen losgerannt und in Sekundenschnelle mit einem Becher Tee zurückgekommen. Seine Stimme quiekste ein bisschen, als er dem Tischler den Becher reichte und erklärte: »Anna hat doch gesagt, Sie müssen den wenigstens fünf mal täglich trinken!« Sieker trank in winzigen Schlucken, schnappte dazwischen immer wieder nach Luft, aber in kleinen Schritten wurde es besser. Keller atmete auf, aber er hatte ja schon bei vielen auch todkranken Menschen gesessen und erkannte schnell, dass dies keine harmlose Erkältung war.

»Waren Sie schon bei Hannah?«, fragte er den Kranken besorgt. »Vielleicht hat die ja noch eine Idee gegen diesen Husten?«

Matthis schüttelte betrübt den Kopf und sah dem Pastor ins Gesicht. »Pastor Keller, Sie wissen ja ... «

»Das ist ’ne gute Idee, Pastor. Gleich morgen Nachmittag bringst du unseren Gast zu Tante Hannah, ja, Junge?« Karl stand da, beide Hände in den Taschen und wandte sich an Sieker: »Die Schwester meiner Frau hat Anna alles beigebracht und gilt als richtige Heilerin! Dass ich daran nicht gedacht habe!« Er stapfte weiter in Richtung Schweinestall, Matthis schüttelte ungläubig den Kopf und Keller schmunzelte in sich hinein. »Na, das ist ja mal wenigstens ein Anfang«, sagte er, verabschiedete sich und spazierte, ein Lied summend davon.

Das große Haus, in dem Matthis mit seinen Eltern und Geschwistern lebte, war ein altes Hallenhaus aus dem vergangenen Jahrhundert. Matthis Urgroßvater hatte es gebaut und den Hof gegründet. Auf der rechteckigen Grundfläche hatte es einst im hinteren Drittel des Hauses in der Mitte eine große offene Feuerstelle gegeben, an der gekocht wurde und um die man sich nach getaner Arbeit versammelte. Hinter und neben der Feuerstelle hatten Alkoven gestanden, in denen Bauer, Familie und Gesinde geschlafen hatten. In den beiden vorderen Dritteln waren früher, durch die große Deele getrennt, links und rechts die Stallungen für Pferde und Kühe. Heute gab es die Kochstelle längst nicht mehr, durch Einziehen von Wänden waren im hinteren Bereich des Gebäudes einige Zimmer und die Wohnküche entstanden. Vorn im Haus gab es lange schon keine Tiere mehr, wenn man von Hofhund einmal absah. Auf der einen Seite waren die alten Stallungen zu Lagerräumen umgebaut worden, auf der anderen Seite waren neben der üblichen Gesindekammer zwei große Zimmer dazugekommen. Im vorderen schliefen Peter und Anna, im hinteren Erich, die kleine Kammer auf der linken Seite war Matthis´ Reich, und auf der rechten war der Gast untergebracht. An normalen Tagen aß die Familie in der Wohnküche am ausladenden Küchentisch. Nur an Festtagen wurde auf der Deele getafelt, mit allen Knechten, Mägden und Verwandten von nah und fern. Neben dem großen Haus gab es mittlerweile ein vor langer Zeit gebautes ‚Altenteil‘, ein Häuschen mit drei Zimmern, in dem bis zum letzten Jahr der Großvater gewohnt hatte. An die Großmutter erinnerte Matthis sich nicht mehr. In dieses Häuschen würden seine Eltern einziehen, wenn Annas Kind auf der Welt und getauft sein würde, dann würden sie den Hof an Peter, ihren Ältesten, übergeben. So war es Sitte und Brauch. Beinah zur gleichen Zeit würde Matthis konfirmiert werden und die Schule beenden. Er wäre erwachsen in den Augen seiner Eltern und der Gemeinde, aber es war ihm klar, wenn er auf dem Hof bleiben würde, dann wäre er immer nur »der Junge« oder »der Kleine«. Niemals nähmen seine Eltern oder die Brüder ihn für voll, selbst im Dorf würde er immer der »kleine Ollerdissen« sein, sonst nichts. Matthis grübelte und überlegte seit Jahren, wie er dieser Falle entrinnen konnte, aber es war nur ein Traum – er sah keinen Weg. Weglaufen, wie sein großer Bruder Anton es getan hatte, war für ihn nicht die Lösung, denn er hatte keine Ahnung, wohin er sich wenden sollte. Anton, ja der hatte schon früh vom Meer geschwärmt, das er nie gesehen, von dem nur der Lehrer in der Schule berichtet hatte. Der hatte genau gewusst, was er wollte, wohin er wollte. Ob es ihm gut ging? Matthis schickte ein stummes Gebet für seinen Lieblingsbruder gen Himmel. Er, Matthis, wäre gern weiter in die Schule gegangen, er lernte gern und schnell, alles Neue fand er spannend und er liebte es, den Dingen auf den Grund zu gehen. Aber Vater würde das niemals erlauben. Erstens kostete das eine Menge Geld, zweitens brauchte er ihn auf dem Hof und drittens gehörte sich das nicht, weil ein Bauernsohn eben nur Bauer werden sollte. Die einzige halbwegs denkbare Ausweichlösung war, eine Lehre zu machen, das durften in den Augen seines Vaters sogar Bauernsöhne. Nur er selbst nicht, er wurde ja hier gebraucht. Wie fast jede Nacht lag er hier in seinem Kämmerchen, zermarterte sich das Hirn und versuchte, gleichzeitig zu schlafen – was nicht gelang. Zum Lesen drang längst nicht mehr genug Licht ins Zimmer. Unnütz eine Lampe benutzen war ihm nicht erlaubt. Er drehte sich auf die andere Seite und kuschelte sich in seine Bettdecke. Würde er Schlaf finden, wenn er versuchte, das Lied aus dem Konfirmandenunterricht im Kopf herzusagen? Er begann »Jesu, geh voran, auf der Lebensbahn …«, da hörte plötzlich ein lautes Poltern, dann einen leisen Schrei. Er war schon beim Poltern aus dem Bett gesprungen und zur Kammertür gelaufen, aber irgendetwas sagte ihm, dass es besser wäre, nicht nachzusehen. Vorsichtig öffnete er die Tür ganz, draußen auf der Deele war alles dunkel und scheinbar friedlich. Dann erkannte er die Stimme seines Vaters.

»Martha, das wollte ich nicht. Martha, ehrlich, es tut mir leid!« Seine Mutter antwortete etwas, aber Matthis konnte sie nicht verstehen. Die Deelentür öffnete sich und wurde zugeschlagen, er hatte kaum Zeit, sich hinter seiner Tür zu verstecken. Seine Mutter lief an ihm vorbei, jedenfalls meinte er, sie in der Dunkelheit erkannt zu haben. Dann wieder die Deelentür, der Vater.

»Martha, warte! Wo willst du denn hin? Entschuldige bitte, bitte mein Verhalten, bitte Martha!« Die Mutter war stehen geblieben, der Vater stand ihr im Dunkeln gegenüber. Matthis Augen hatte sich an die Dunkelheit gewöhnt, er sah, dass sie die Schultern hängen ließ und mit einer müden Bewegung die offenen, langen Haare aus dem Gesicht strich.

»Karl, lass mich einfach. Du willst, das alles bleibt, wie es immer war, aber so ist das Leben nicht. Alles ändert sich, immerzu. Selbst hier auf dem Land, denk nur an den Pastor!« Matthis sah, wie sein Vater einen Schritt auf die Mutter zuging, die reglos da stand. Nie hatte er einen von beiden so aufgelöst gesehen, schon gar nicht beide.

»Komm zurück in die Stube, wir reden nochmal.«

»Ach, Karl, ich bin so müde. Wir haben so oft darüber geredet. Der Junge ist nicht wie Peter oder Erich, sieh das doch ein.« Matthis hielt die Luft an. Sie stritten seinetwegen? Er zog sich tiefer in seine Kammer zurück und wünschte, er hätte die Tür nie geöffnet, die er nicht ohne Geräusche schließen konnte. Das alles erschien ihm zu peinlich, er sollte das nicht miterleben, das war ihm klar. Als er sich in Bett legte, hörte er seinen Vater seufzen: »Nein, Martha. Er ist wie Hannah – und du!« Er hörte die Tür ins Schloss fallen, dann wurde es still.