Anders Sein

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Anders Sein
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Anders Sein

Von Natascha Neumann

Buchbeschreibung:

Buchbeschreibung:

Der Roman erzählt die Geschichte des vierzehnjährigen Matthis. Aufgewachsen Ende des 19. Jahrhunderts auf dem Hof seiner Eltern wünscht er sich nichts mehr, als seine Zukunft selbst zu gestalten. Anders als seine Brüder möchte er fort vom Hof. Der Zufall hilft ihm, als Lehrling in einer anderen Stadt zu leben, aber schon bald merkt er, dass auch dies nicht seine Bestimmung ist. Aber Matthis macht seinen Weg – mit einer ungewöhnlichen und neuartigen Lösung.

Über den Autor:

Über den Autor:

Natascha Neumann ist 1963 geboren. Aufgewachsen in der Nähe von Bielefeld hat sie als Erzieherin gearbeitet, ihre Heimat aber verlassen und in Mainz neu angefangen. Nach einer Umschulung und jahrelanger Arbeit für den SWR wechselte sie ins Privatleben und widmete sich dem Schreiben.

Sie lebt noch immer mit Mann und Hund in Mainz.

Anders Sein

Der Weg

Von Natascha Neumann

. Auflage, 2022

© Natascha Neumann – alle Rechte vorbehalten.

1.

»Matthis!«

Der große, schlaksige Junge drehte sich zu seiner Mutter um, den einen Holzschuh in der Hand, den anderen am Fuß. »Hmm?«, knurrte er missmutig. »Ich bin auf dem Weg in den Schweinestall, ich will schnell fertig werden.«

»Du gehst heute nicht zu den Schweinen! Hier ist ein Beutel mit Äpfeln und Wein. Bring ihn zu Hannah und helf ihr ein wenig mit den Ziegen, ja? Sei aber zum Abendbrot zurück!«

Matthis Meyer zu Ollerdissen blieb der Mund offen stehen. Er starrte seine Mutter an, umarmte sie dann ungeniert und schleuderte die Holzschuhe von den Füßen. »Ja, Mutter, gern.« Er lachte übers ganze Gesicht, wahrend er sich umzog und auf den Weg machte. Fröhlich pfiff der Vierzehnjährige vor sich hin.

Die brachliegenden Felder glänzten schwarz vor Nässe, die Tautropfen auf der Wiese schimmerten in der Vorfrühlingssonne. Knapp eine Stunde würde er brauchen. Er freute sich auf seine Tante Hannah, die so anschaulich Geschichten erzählte, dass er alles vor sich sah, was sie beschrieb, und sogar nachts davon träumte. Feen und Zwerge, die Riesen und Räuber – Hannah ließ sie lebendig werden. Sie war die Einzige, die ihn immer wieder ermutigte, seine Träume zu verwirklichen. Ihr berichtete er alles, weil sie ihn ernst nahm. Außerdem liebte Matthis ihren Sohn, seinen Vetter Pauli, wie einen kleinen Bruder.

»Sie ist verrückt, eine sture, eigensinnige alte Vettel!«, hatte sein Vater vergangene Woche zu seiner Mutter gesagt. »Sorge endlich dafür, dass sie zur Vernunft kommt und sich benimmt, wie es sich für eine Witwe mit Kind gehört!«

Mutter hatte nur den Kopf geschüttelt, was seinen Vater weiter aufgebracht hatte. Matthis hätte nicht lauschen sollen, aber seine Neugierde hatte ihn überwältigt.

»Heutzutage ist es nicht so selten, dass Witwen im eigenen Haus bleiben«, gab Mutter scheinbar ruhig zurück.

»Aber es gehört sich nicht! Nur weil einige Weiber allein leben, muss deine Schwester es nicht tun! Was wirft das denn für ein Bild auf uns, auf mich? Und das mit diesem Balg?«

»Du darfst so nicht reden«, widersprach Mutter, »nicht einmal der Pastor findet Hannahs Verhalten sündhaft.«

»Halt deinen Mund, Weib. In meinem Haus hat nicht der Pfaffe das Sagen!« Er hatte einen knallroten Kopf und fuchtelte wild mit den Armen, um seinen Worten Nachdruck verleihen.

»Aber Karl«, Mutter tat einen weiteren Schritt auf Vater zu, vermutlich, um ihn zu beruhigen. Der jedoch stieß sie so kräftig vor die Brust, dass sie wankte und gegen den Tisch fiel. Während sie Halt suchte, war Vater mit großen Schritten zur Tür nach draußen gestürmt. Matthis hatte sich geduckt, damit er nicht erwischt wurde, aber der Bauer war so in seine Wut verstrickt, dass er blindlings hinaus gestapft war.

Die Pfützen auf dem Pfad waren voller Eis, an einigen Stellen auf den Äckern lag Schnee. Matthis fror ein wenig in seiner dünnen Joppe, es war seine beste Jacke – seine einzige, um genau zu sein, und er hatte sie letzten Monat zu seinem Geburtstag bekommen. Sicher, seine drei älteren Brüder hatten sie vor ihm getragen, aber seine Mutter hatte sie ausgebessert, dass sie so gut wie neu wirkte.

Er hatte nicht einmal die Hälfte des Weges geschafft, deshalb lief er nun ein bisschen schneller, die Bewegung würde ihn warm halten.

Schon bald gelangte er an den Schmiedebach, der zu dieser Jahreszeit jede Menge Wasser führte. Einige hundert Meter weiter unten gab es eine Holzbrücke. Matthis fand es wie immer überflüssig, diesen Umweg zu nehmen. Er nahm Anlauf, sprang und landete im feuchten Gras, kam aber ins Schliddern, versuchte, an den Ästen der alten Trauerweide Halt zu finden, doch hier war alles so glitschig, dass er erneut abrutschte. Der Sack glitt ihm aus den kalten Händen, er schnappte nach ihm, fiel dabei zur Seite und landete im Matsch. Einen Augenblick lang lag er dort und keuchte. »Mist«, dachte er im Aufstehen, »aber es ist ja noch mal gut gegangen.« Er griff nach dem Sack, der sich geöffnet hatte, und sammelte die Äpfel wieder ein. »Die Fallstellen werden Tante Hannah und Pauli nichts ausmachen, die Flaschen sind zum Glück heil geblieben. Aber wo ist meine Mütze gelandet?«

Er stapfte zwei Schritte vorwärts, zuckte dann wie von einer Schlange gebissen zurück. Was war das denn? Dort im hohen Ufergras im Gebüsch, da lag etwas Seltsames. Voller Spannung beugte er sich ein Stück vor und blickte auf ein stämmiges, überaus behaartes Bein.

»Allmächtiger!«, schrie Matthis auf und hob die Hände vor die Augen. »Was um Himmels willen - ?«

Sein Herz schlug wie wild, ihm war flau im Magen, aber die Neugier siegte, er senkte die Hände und schaute tapfer genauer hin.

Da lag ein Mann, bäuchlings und stumm. Sein anderes Bein lag in einem merkwürdigen Winkel, seine Kleidung war nass und schmutzig. Matthis schluckte, sein Mund war trocken.

Sicher, er hatte schon Tote gesehen, erst letztes Jahr seinen Großvater: fein aufgebahrt in seinem besten Hemd, die Hände gefaltet, der Bart gestutzt und gekämmt.

Diesen Mann hier am Wegesrand zu entdecken, jagte ihm Schauer über den Rücken.

Er fröstelte stärker, seine Nackenhaare stellten sich auf. Er zog seine Jacke enger um sich und traute sich dann noch einen Schritt weiter vor. »Komm, du bist doch kein Wickelkind mehr!«, sprach er sich selbst laut Mut zu. Fast hätte er dadurch das Wimmern überhört. Plötzlich war alle Angst wie weggeblasen. Er kniete sich hin, beugte sich nah zu dem Mann herunter, da spürte er an seiner Wange den dünnen Atem des Fremden. Der Mann war nicht tot. Matthis nahm seine Hand und hätte sie fast wieder fallen lassen, so heiß war sie. Er schaute zögerlich hinunter auf ihn und bemerkte getrocknetes Blut und eine Wunde am Hinterkopf. »Hallo?« Zaghaft zog er ein wenig am Ärmel des Fremden, der rührte sich nicht. »Ich bin Matthis, hören Sie?«, er rüttelte etwas stärker an dem Arm, bekam jedoch nur ein leichtes Wimmern als Antwort.

Wie würde Anna sich in so einem Fall verhalten? Er zog, innerlich ein bisschen widerstrebend, seine Jacke aus, um den Mann damit zuzudecken.

Dann griff er instinktiv in den wohl gehüteten Sack und holte eine Flasche heraus. »Wein stärkt«, hatte seine Mutter gesagt, wenn sie Opa ein Gläschen eingeschenkt hatte, immer nur einen winzigen Schluck, denn das Getränk kostete viel und es war schwer, überhaupt mal eine Flasche zu bekommen. Dies hier war ein Notfall, ganz sicher. Er hielt sie vorsichtig an den Mund des Verletzten und versuchte, mit der anderen Hand dessen Kopf zu stützen. Irgendwie gelang ihm dies Kunststück, der Mann trank ein wenig, ließ sich dann wieder ins Gras sinken. Er öffnete für einen Moment seine Augen, sah den Jungen dankbar an und hauchte etwas, dass wie ‚Danke‘ klang.

Um irgendetwas zu unternehmen, legte er dem Patienten die Hand auf die Stirn, trotz der Kälte war sie glühend heiß. Er schaute sich suchend um. »Wärme ist wichtig!«, erinnerte er sich an Annas Worte, »Kranke muss man warm halten«. Aber wie, und womit? »Denk nach!«, raunte er sich selbst zu, da fiel sein Blick auf den Beutel. Schnell leerte er ihn aus, trennte die Naht auf und legte sie dem Patienten über die Beine. »Und nun?« Matthis kratzte sich am Kopf, denn mehr fiel ihm beim besten Willen nicht ein. Der Mann sollte schleunigst hier weg, ohne Frage. Er war nicht in der Lage, ihn allein zu bewegen. Also musste er ihn hier lassen und Hilfe herbringen. Zögerlich stand er auf, drehte sich noch einmal um und sprach dem Mann mit seiner hellen Jungenstimme Mut zu: »Ich bin schnell zurück, ich hole nur Hilfe, ja? Bleiben Sie … äh, ich meine, es geht wirklich schnell«, dann rannte er los.

Normalerweise hätte er sicher fast eine halbe Stunde nach Hause gebraucht, aber diesmal beschleunigten die Angst und die Aufregung seine Schritte. Schon ein paar hundert Meter von Bauernhaus entfernt rief er. »Peter, Erich, Vater! Mama, kommt schnell!« Er hustete vor lauter Anstrengung, aber trotzdem schrie er weiter, so laut es ging. Der Hofhund hatte ihn schon gehört, er bellte aufgeregt. »Anna!«, fiel ihm ein, »wir brauchen auch Anna!«.

Der Platz vor dem Hallenhaus war leer und verschlammt, aber die ausladende Hoftür stand weit offen, Matthis lief kreischend und keuchend darauf zu. Seine erwachsenen Brüder Peter und Erich kamen mit großen Schritten, der Vater war kaum langsamer direkt aus dem Stall. Anna erreichte Matthis zuerst. Ein bisschen kurzatmig, weil der schwangere Bauch sie schon behinderte, fragte sie: »Was ist passiert?«

 

2.

Es dauert nicht lang, den Verletzten so schonend wie möglich mit einer eilig hergestellten Trage aus Decken und robusten Ästen auf den Hof zu bringen.

Hier legte Anna saubere Tücher bereit, schrubbte zusammen mit der Magd den großen Tisch in der Deele mit heißem Wasser und ließ dann den Kranken darauf legen. Auf dem kleinen Bord neben ihr hatte sie zahlreiche Säckchen und Tüten aufgereiht. Als Matthis daran vorbeiging, drang ihm der Geruch der Kräuter in die Nase: Kamille, Pfefferminze, Holunder und vieles, was er nicht erkannte. Er öffnete den Mund, um zu fragen, da wandte sich seine Schwägerin zu ihm um: »Das Bein muss geschient werden Ich brauche eine Latte, kannst du…«, bevor sie zu Ende sprechen konnte, flitzte der Junge los und kam rasend schnell mit einem recht geraden, beinlangen Brett zurück. Anna nahm Maß, »Passt wunderbar, Junge«, murmelte sie erstaunt. »Nun lauf!« Aber Matthis blieb stehen. Sein Vater schaute noch einmal auf den Verletzten, dann sagte er wortkarg: »Ruf mich!« Die Brüder waren nach Ablegen Ihrer Last gleich wieder verschwunden. Nur Anna, seine Mutter und Matthis waren auf der geräumigen Deele.

»Geh, mach einen großen Becher mit zwei Löffeln Weidenrinde und tu ein paar Holunderblüten hinzu!«, wies seine Schwägerin ihn an, ohne den Blick vom Verletzten zu nehmen. »Und bring Decken, viele Decken.«

Sie legte die Hand auf die Stirn des Unbekannten, er regte sich nicht, nur sein Brustkorb hob und senkte sich. Manchmal hustete er schwer, aber ein anderer Ton war bisher nicht über seine Lippen gekommen, er schien tief bewusstlos.

»Wird er es schaffen?«, fragte Matthis‘ Mutter leise.

»Das weiß Gott allein«, gab Anna stirnrunzelnd zurück, während sie die Brust des Kranken behutsam mit einer kräftig nach Fichte und Thymian riechenden Salbe einrieb. »Ich werde sein Bein schienen, die Wunden versorgen und versuchen, das Fieber zu senken. Er muss es ständig warm haben und viel, viel von dem Tee trinken. Dann müssen wir abwarten und beten.« Sie reichte Matthis die entsprechenden Säckchen.

Ihre Schwiegermutter nickte. Sie holte ein kleines Holzstück und schob es dem Kranken zwischen die Zähne, dann fragte sie so leise wie zuvor: »Brauchst du beim Einrichten Hilfe? Er ist ja recht stämmig.«

»Er schläft und ist ruhig. Es wird gehen«, sagte Anna überzeugt. Noch einmal prüfte sie die Länge des Brettes, tastete das gebrochene Bein ab und richtete es dann mit geübten Griffen.

Es dauerte mehr als drei Wochen, bis Anna verkündete, der Fremde sei jetzt über den Berg. Sie hatte sich trotz ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft intensiv um ihn gekümmert. Immer wieder hatte sie mit Matthis Hilfe die Wunden gewaschen, Wadenwickel gemacht, bis das Fieber gesunken war, hatte ihm Tee und später Fleischbrühe zu trinken gegeben. Das kleine Zimmer, in dem sonst im Herbst der wandernde Erntehelfer geschlafen hatte diente als Krankenlage. Sie hatte es in den ersten Tagen nur nachts verlassen, bis Peter ein Machtwort gesprochen hatte.

»Lass das den Jungen machen, der ist ja ganz anstellig, und wenn er was nicht kann, muss er halt Hilfe holen!«

»Das ist keine Aufgabe für den Jungen, ich brauche ihn auf dem Feld!«, hatte der Vater gesagt, aber die sonst so sanfte und zurückhaltende Anna widersprach ihm.

»Matthis ist gelehrig, hilfsbereit und besonnen. Außerdem ist die Arbeit langsam tatsächlich etwas zu viel für mich«, sie schaute dem Älteren erst ins Gesicht, dann auf ihren schwelenden Bauch unter der Schürze. »Das Kind kommt bald und ich schaffe es nicht alles allein!«

Matthis stand daneben, die Hände in den Hosentaschen, den Blick gesenkt.

»Warum fragen sie mich nicht wenigstens, was ich will?«, dachte er trotzig, aber er sagte nichts. Matthis war froh, zusammen mit Anna zu arbeiten. Eine Abwechslung im ständigen Einerlei Kühe füttern, melken, Ställe ausmisten, dann wieder füttern, melken. Anna zeigte ihm, wie man Wunden reinigte und behandelte, aus welchen Kräutern Tees bereitet wurden und warum, das hatte ihm bisher niemand gezeigt. Er lernte gern Neues.

Schließlich stellte sich auch Mutter auf Annas Seite, der alte Bauer murrte, drehte sich um und stapfte mürrisch davon. Vor der Tür zündete er seinen Stumpen an, dann setzte er seinen Weg fort.

Der Fremde schlief viel, sprach kaum und regte sich nur selten. Er ließ alles geschehen, bei den schmerzhaften, unangenehmen Verrichtungen schloss er die Augen, und manchmal stöhnte er.

3.

Jakob Sieker packte ein frisches Hemd, eine Hose und allerlei Kleinigkeiten in seinen Reisebeutel. In der Küche suchte er einige Würste, ein Stück Käse und ein paar Äpfel zusammen, als Frieda unerwartet im Raum stand.

»Wohin gehst du? Und warum ausgerechnet jetzt?« Jakob antworte nicht. Er schnürte sie Lebensmittel in ein Tuch, das er oben auf seine Sachen legte und verließ schweigend den Raum. Frieda stapfte hinter ihm her.

In der Werkstatt winkte er die beiden Gesellen heran. »Ich besuche meinen alten Freund Johannpeter, der im weiten Umkreis das beste Holz hat. Wir benötigen Stieleichen – je gerader, desto besser. Ich werde sie aussuchen und bestellen.

Es sind nur drei Tagesreisen, und nächste Woche bin ich wieder da, und auf uns wartet viel, viel Arbeit, aber auch gutes Geld. Also genießt meine Abwesenheit!« Daraufhin hatte er schief gegrinst und sich seinem Sohn zugewandt.

»Joni, du bist schön brav, ja, und tust, was Tante Agnes und Onkel Ernst dir sagen, nicht?« Der Kleine hatte ihn umarmt und versucht, nicht zu weinen. Dabei war er erst fünf Jahre alt! Ein tapferer Junge. Bei dem Gedanken an seinen Sohn wurde ihm warm ums Herz, er seufzte tief und sorgenvoll. Es war ein paar Tage vor seiner Reise etwas geschehen, so entsetzlich, dass er dringend fortmusste, weg von alldem, um einen klaren Kopf zu bekommen. Da kam der Auftrag zur rechten Zeit. Agnes hatte ihm ins Gesicht gesagt: »Du kannst nicht davor weglaufen! Es ist passiert und vielleicht – wahrscheinlich! - wird es wieder vorkommen. Der Junge braucht dich jetzt. Ihm hat das doch noch viel mehr Angst gemacht als dir und mir!«

Aber Jakob hatte nur den Kopf geschüttelt und ihr das Versprechen abgenommen, niemandem etwas von dem, was sie gesehen hatte, zu erzählen.

»Kümmere dich um ihn und pass gut auf ihn auf. Wenn ich das Holz gekauft habe, sehen wir weiter!«

Dann war er fortgegangen. Hatte bei jedem Schritt mehr Abstand gewonnen, hatte dabei geweint, geflucht, mit seinem Herrgott gehadert.

»Warum? Warum muss dieser kleine Junge so leiden, so etwas Schreckliches erleben? Gibt es nicht genug Menschen, die so etwas verdient hätten? Du hast mir schon die Frau genommen und nun machst du auch noch meinen Sohn krank?« Die Tränen liefen ihm über das Gesicht, aber er scherte sich nicht darum. Er war allein hier auf weiter Flur, er konnte meilenweit sehen, niemand war bei ihm. Sein Gott womöglich ebenso nicht, er bekam keine Antwort auf seine bohrenden Fragen. »Habe ich nicht immer versucht, alles zu tun, was gut und recht ist? Jeden Sonntag gehe ich in die Kirche, bringe meinen Sohn mit, mein Gesinde. Ich gebe den Armen und helfe, wo immer ich kann, und nun ist Joni krank! Warum?«

Die Wut und die Verzweiflung hatten ihn vorangetrieben, sodass er den ersten Streckenabschnitt in sechs Stunden zurücklegte, sonst brauchte er wenigstens acht. Er kehrte in einen kleinen Gasthof ein, den er von früheren Reisen kannte, nahm ein spärliches Mahl ein und zog sich dann sofort zurück. In dieser Nacht schlief er das erste Mal seit dem Vorfall wieder tief und fest, die Erschöpfung zeigte Wirkung. Am nächsten Tag ging es ihm schon besser, er fand erneut Trost in der Landschaft, an der er sich zu keiner Jahreszeit sattsehen konnte. Jetzt, im Vorfrühling, sah die Welt frisch gewaschen aus, die Sonne schien, nur vereinzelt wuchs schon frisches Grün an den Zweigen der Büsche. Hier und da gab es große Flecken Schneeglöckchen, ab und zu sah er bereits das leuchtende Gelb des Löwenzahns. Aber die Bilder seines Sohnes, der sich in quälenden Krämpfen auf dem Boden wand, wie er den Kopf hin und her geschlagen hatte, dazu der starre Blick – das alles vermochte er nicht aus seinen Gedanken drängen.

»Früher haben die Menschen geglaubt, so jemand sei vom Teufel besessen«, hatte Agnes ihm voller Entsetzen zugeflüstert, als das Kind unvermittelt aufhörte zu krampfen, sich benommen an die Stirn fasste, dann zusammenrollte und sofort einschlief.

»Was ist es denn, das du von mir willst, Gott? Du kannst doch nicht wollen, dass ich dieses Kind verliere? Was willst du mir sagen?«, so fragte Sieker sich am zweiten Tag seiner Wanderung. Er hatte seine Frau Johanne verloren, als das Kind zwei Jahre alt war, vor drei Sommern, aber wenn er ehrlich mit sich war, hatte er sie nie geliebt. Es war eine arrangierte Ehe gewesen, Nachbarskinder, die einander schon früh versprochen worden waren, ihre Eltern hatten etwas Geld, sein Vater die gut gehende Schreinerei, so war für alle gesorgt. Er hatte sie gemocht, sie waren Freunde, ein prima Gespann. Sie vertrugen sich, ihr früher Tod hatte ihm leid getan. Liebe jedoch hatte er für sie nie gefühlt. Nur als sie ihm vor fast sechs Jahren zum ersten Mal seinen Sohn in den Arm gelegt hatte, da hatte er Glück empfunden, Liebe, Verantwortung, Stolz. Dieses überwältigende Gefühl hatte er immer, sobald er an den Kleinen dachte. Er merkte, dass er wieder zu weinen angefangen hatte.

»Joni ist noch so klein, Gott, lass ihn doch am Leben, bitte!«, betete er, und aus heiterem Himmel fiel ihm Hiob ein. Wie viele Töchter und Söhne waren ihm genommen worden? Haus, Hof, alles, was er hatte, war verloren gegangen und Hiob hatte nicht geheult wie ein Kleinkind! Und er, Sieker, zweifelte schon jetzt an seinem Gott? Die Sonne kam hinter den Wolken hervor und brachte das vor ihm liegende Wäldchen zum Leuchten. »Der Junge hat einen Anfall gehabt. Einen! Danach hatte er ruhig geschlafen, am nächsten Tag mit großem Appetit gegessen und nicht mehr gewusst von dem, was geschehen war. Er war so fröhlich und munter gewesen wie sonst. Er ist klug, mutig und geschickt. Wenn er tatsächlich krank ist, wird ihm das helfen, damit umzugehen, und wenn das etwas Einmaliges war, um so besser. Am besten, wir vergessen das erst einmal und leben weiter wie bisher. Der liebe Gott wird es schon richten!«

Die Geschäfte mit Johannpeter dauerten nicht lange und obwohl der Waldbauer in einlud, über Nacht zu bleiben, war Sieker doch gleich wieder aufgebrochen. Er wollte nach Hause, zu seinem Kind.

Es war Nachmittag, als er erneut an dem Wäldchen vorbeikam, das gestern so bezaubernd im Sonnenlicht geleuchtet hatte, jetzt wirkte der Weg, der durch den Wald führte, beinah schon dunkel. Sieker hatte keine Angst, so oft war er nach seiner Lehrzeit gewandert, hatte im Freien genächtigt und die meisten Wege allein zurückgelegt. Er summte vor sich hin, hatte seinen Seelenfrieden halbwegs wiedergefunden und war eins mit sich und der Welt. Hinter dem Wald breiteten sich Felder aus, dort drüben war ein Bach. Er beschloss, seine Wasserflasche zu füllen. Bis zum Gasthof dauerte es vielleicht ein, zwei Stunden, er würde erst im Dunkeln eintreffen. Er setzte seinen Rucksack ab und legte den Wanderstock zur Seite, holte die Flasche heraus und kniete sich an die Bachböschung, um Wasser zu schöpfen, als er es hinter sich knacken hörte. Er drehte sich um, was aber in seiner knienden Stellung nur halb gelang, da waren sie schon über ihm. Es waren drei Männer, bärtig, ungepflegt. Er spürte die Schläge und Tritte, er roch ihre ungewaschen Leiber, er hörte, wie sie im Weggehen leise fluchten: »Verdammt, da ist ja nichts drin!«

Dann wurde er bewusstlos.