Lumine

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Inhaltsverzeichnis

Impressum 3

England, 1886 4

Kapitel 1 – Hilflos 15

Kapitel 2 – Die Perfektion in Person 21

Kapitel 3 – Satan in Menschengestalt 43

Kapitel 4 – Die von Finsternis zerfressene Seele 61

Kapitel 5 – Das Verwelken der scharlachroten Blume 74

März 1879 75

35 rote Rosen 86

31 rote Rosen 91

April – 29 rote Rosen 95

26 rote Rosen 97

Juni – 19 rote Rosen 112

August – 13 rote Rosen 117

8 rote Rosen 119

Oktober – 3 rote Rosen 121

November – 1 scharlachrote Rose 123

Kapitel 6 – Des Bestiens Päckchen 134

Kapitel 7 – Umgeben von Masken 152

Traum 174

Kapitel 8 – Letzte Gedanken 178

1873 178

Kapitel 9 – Tanz der Gestalten 184

Kapitel 10 – Der letzte Brief 190

Kapitel 11 – Weder Traum noch Realität 207

Kapitel 12 – Neugier ist der Katze Tod 213

Kapitel 13 – Nacht der Befreiung 223

Epilog 236

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2022 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99131-077-8

ISBN e-book: 978-3-99131-078-5

Lektorat: Volker Wieckhorst

Umschlagfoto: Alona Stepaniuk, Watthano | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

England, 1886

Ein kühler Wind wehte dem obdachlosen Dieb um die Ohren und veranlasste ihn dazu, seinen alten zerfetzten Schal enger um seinen Hals zu schlingen. Es war tiefschwarze Nacht. Keinerlei Menschenseele war in der Stadt vorzufinden. Keine einzige Kutsche fuhr die Straßen hinunter. Herrlich. Wie angenehm ruhig so eine Stille doch sein konnte. Mit leicht zitternden Händen griff der nicht besonders große Mann nach seiner Taschenuhr, um sich über die Uhrzeit zu informieren. Mittlerweile war es zwei Uhr morgens. So spät schon. Und immer noch keinen geeigneten Schlafplatz entdeckt. Um draußen zu nächtigen, war es viel zu frisch. Verdammter Mist. Weshalb konnte er sich nicht wie gewohnt in ein Hotel schmuggeln? Diesen Gedanken hat er zu seinem Leidwesen den ganzen Tag über verworfen. Na ja. Vielleicht hätte er sich nicht so vollsaufen sollen. Aber wie anders ließ sich denn ein Abschied feiern? Eine ausgelassene Stimmung herrschte zwischen ihnen. Das Saufgelage wurde vor jedem einzelnen Schluck mit einem schallenden Lachen begleitet, während die Musik dumpf im Hintergrund dröhnte. Der Alkohol drohte wieder aus deren Nasen zu fließen. Die Schlägerei anderer Gäste wurde zur Nebensache. So gute Laune hatte Alester seit langer Zeit nicht mehr verspürt. Doch so schnell die Kerze der Freude und Laune entzündet wurde, so schnell erlosch die kleine Flamme wieder und hinterließ eine zerfallene Hülle aus Wachs zurück, gepaart mit einem verbrannten Geruch, der die Luft verpestete und die Finsternis zurückkehren ließ. Seine innere Leere war erdrückend und ließ ihn gegenüber gar nichts auch nur einen Hauch an Wichtigkeit verspüren. Ähnlich wie ein veraltetes Spielzeug, das bereits vor Jahren kaputt ging. Eine vom Hund verrissene, mit Speichel überzogene Stoffpuppe, der ein Knopfauge fehlte und deren Füllung zur Hälfte vermisst wurde.

Er würde diesen mysteriösen Herren vermissen. Ein sehr freundlicher und sympathischer Geselle. Schien aus gutem Hause gestammt zu haben. Eine stattliche Statur. Seine Haut besaß einen leicht gebräunten Teint. Giftgrüne Augen musterten die Umgebung, und sein Haupt besaß eine dunkelbraune Mähne. Vincent Gregwood. Dieser Name klang von Bedeutung. Ob sich dies bestätigen ließ, war die Frage. Ungefähr vor einem Monat machte er seine Bekanntschaft. Es wunderte ihn, dass ein ungewaschener Landstreicher, wie er es war, von einem scheinbar Wohlhabenden Beachtung geschenkt bekam. Sie verstanden sich von Anfang an. Ihm wurde erzählt, dass der Mann auf Reisen, quer durch das ganze Land, war. Gregwood wollte mehr sehen und erleben, da er bis vor Kurzem sein bisheriges Leben nur der Arbeit gewidmet hatte. Zwar konnte er aufgrund seiner Tätigkeit gut leben, allerdings bereute er eine Sache. Was das war, wusste der Halunke jedoch nicht. Mehr erläutern wollte sein einziger Freund auch nicht. Aus welchem Grund auch immer.

Nun war er fort. Keine Ahnung wohin. Darüber wurde er nicht in Kenntnis gesetzt. Dies machte ihn zu Anfang stutzig. War er etwa auf der Flucht? Hämisch verwarf er diesen Gedanken wieder. Das war doch absurd.

Erschöpft rieb der Herr sich die Hände, um das Blut, das durch seine Adern floss, wieder in Wallung zu bringen, damit seine Gliedmaßen wieder spürbar waren. Ein Seufzen. Was für ein armseliges Leben er doch führte. Alester Frow. Ein unbedeutender Name, den niemand kannte. Allerdings war sein Gesicht des Wiedererkennens wert, und danach verspürten sämtliche Leute das Verlangen, es zu bespucken. In den Augen der Gesellschaft war seine Person bloß irrelevanter Abschaum. Auch musste seine Wenigkeit bereits aus einigen Dörfern und Städten fliehen, da Steckbriefe ausgestellt wurden. Allerdings war dies einzig und allein sein Verdienst. Ein freudloses Lächeln bildeten seine spröden Lippen. Warum setzte er diesem Dasein nicht ein Ende? Niemand würde ihn vermissen. Ganz im Gegenteil. Man würde sich seines Verlustes bereichern. Einen Verbrecher weniger. Und wenn er doch ehrlich zu sich selbst war, stand er doch bereits auf dem Stuhl und sein Hals in der Schlinge des Galgenstricks. Er musste lediglich sein Gewicht nach vorn verlagern, um die Balance zu verlieren und sich von der Schwerkraft nach unten fallen zu lassen. Weshalb erwies sich dies noch als schwierig? Die Last würde sich auf den eng geschnürten Hals übertragen und langsam die Luftzufuhr verhindern. Das verzweifelte Hecheln nach Sauerstoff würde nicht lange anhalten und bald im wahrsten Sinne des Wortes ersticken. Aber er konnte es nicht, weil er ein Feigling war. Ein verfluchter, erbärmlicher Feigling. Feigling. Feigling. Feigling.

Er bog in eine Gasse ein. Seine Schritte hallten laut wider. Die Fassaden der Gebäude waren alt und brüchig. Dieser Teil der Stadt war größtenteils unbewohnt, aufgrund der schlechten Zustände der Häuser. Die Holzplatten knirschten gefährlich, als könnten sie jeden Moment zusammenbrechen. Die Fensterläden waren nicht mehr vorhanden, und die Türen ließen sich nicht mehr verschließen. Bedauerlicherweise kümmerte sich niemand darum, und somit entschlossen die meisten sich dazu umzuziehen. Unachtsam trat Frow in eine Pfütze. Fluchend setzte er seinen Weg mit durchnässten Schuhen fort. Noch vor wenigen Stunden peitschte der Herbstregen schmerzhaft zu Boden und überflutete jede einzelne Regenrinne.

Ein Rabe krächzte vom Dach einer veralteten Kirche, an der Frow eben vorbeilief. Ein widerliches Geräusch. Es klang aggressiv. Der Vogel breitete seine Flügel aus, um jeden Moment loszufliegen. Das Vieh krächzte immer noch ununterbrochen. Den Kopf richtete er hinauf zum Mond. Genervt biss Alester sich auf die Zähne und nahm an Geschwindigkeit zu. Bloß weg von diesem Störenfried, dachte er sich. Er wollte diesen schrecklichen und immer lauter werdenden Gesang nicht weiter ertragen. Er folgte dem Gang nach rechts und fand sich schlussendlich auf einem kleinen Platz mit einem Brunnen in der Mitte wieder. Hektisch näherte er sich ihm, um kaltes Wasser in sein Gesicht zu schütten. Seine Lider wurden immer schwerer. Die Kraft ließ nach. Die kalte Herbstluft raubte ihm die Energie sowie die stechenden Kopfschmerzen. Dieses penetrante, stechende Bohren in den Schläfen konnte unerträglich sein. Für einen Moment betrachtete Frow sein Spiegelbild. Wie mitgenommen er doch aussah. Dunkle Augenringe zierten seine Visage. Nichts war mehr übrig geblieben von seiner früheren Gestalt.

 

Unglaublich. Es war doch wirklich unglaublich, wie nur ein einziger Moment eine riesige Auswirkung auf die eigene Zukunft haben konnte. Ein trockenes Lachen entkam seiner Kehle. Jedoch verklang es schnell wieder. Dieser Scheiß-Rabe saß auf einmal auf der Mauer zu seiner Linken und starrte ihn an, als würde er auf einen Wurm lauern und den richtigen Augenblick abwarten, um zuzuschnappen. Leichtes Unbehagen machte sich in ihm breit. Schwarze, leblose Augen starrten ihn an. Nein. Es waren finstere Löcher der Hölle, die alles verschlingen konnten.

Erbärmlich. Fing er wirklich an, sich vor einem blöden Vogel zu fürchten?

Plötzlich begann das Vieh wieder zu krächzen und flog direkt auf sein anvisiertes Opfer zu. Schützend hob Frow seine Arme und schlug den Raben zu Boden. Blut rann seine Hand hinab. So was. Hatte er ihm doch tatsächlich ein Stück seiner Haut entrissen. Wütend blickte er auf das nun hilflos sich windende Federbündel hinunter. Was fiel diesem Mistvieh ein? Rachedurstig hob er sein Bein und grinste vorfreudig wie ein kleines Kind, das es kaum erwarten konnte, sein Weihnachtsgeschenk zu öffnen. Nur mit dem kleinen Unterschied, dass die Augen nicht vor Freude, sondern vor Wahnsinn funkelten. Jetzt war er dran. Er wird diesen vermaledeiten Raben zertreten, bis ihm die Eingeweide rausplatzen. Er ließ sich doch nicht von einem kleinen Tier verarschen. Davon hatte Alester genug. Viel zu oft musste er Blamagen über sich ergehen lassen. Davon hatte er genug. „Stirb, du verficktes Mistvieh!“, schrie er und trat mit aller Kraft auf das Tier. Noch mal. Noch mal. Und noch mal. So lange, bis nichts weiter als eine rote Pfütze mit blutdurchtränkten schwarzen Federn übrig war.

Ein dunkles Lachen ließ ihn innehalten und nach vorn blicken. Aus dem Schatten des Mondlichtes trat ein komplett in schwarz gekleideter Mann mit Hut. „Nehmt Euch in Acht, mein Freund. Sich noch so spät herumzutreiben, könnte gewisse Konsequenzen mit sich bringen!“, ertönte seine tiefe Stimme. Na und? Was interessierte ihn das? „Was schert Ihr Euch denn um mich?“, kam es spöttisch und skeptisch zurück. Dabei zog er eine Augenbraue hoch und trat von seiner Schandtat weg. Was glaubte der Mann denn, wer er war? Wieder ein Lachen seitens des Unbekannten. „Nicht doch. Machen Sie keine Späße. Ich wollte Sie lediglich vorwarnen!“, lächelte sein Gegenüber kalt. Warnen? Wovor denn bitte schön? Etwa vor der schneeweißen Hexe, die vor wenigen Tagen hier gesichtet wurde? „Was haben Sie denn für einen Anlass dazu?“, fragte der Obdachlose irritiert. Seine Frage wurde ignoriert. Stattdessen kam der Herr einige Schritte näher. Instinktiv trat Frow bis zum Brunnenrand zurück. Dieser Typ hatte etwas Bedrohliches, wenn nicht sogar Teuflisches an sich. Sein Blick schien durch ihn hindurchzugehen. Er fühlte sich wie ein eingeschüchtertes Tier, das in die Enge getrieben wurde. Dieses Schauspiel gefiel ihm gar nicht. Er musste den Herrn so schnell wie möglich loswerden. All seine Muskeln spannten sich an, bereit, jederzeit loszurennen. Weshalb er sich vor ihm fürchtete, war Alester ein Rätsel. Muskulös sah er nicht gerade aus. Der stechende Blick des Hutträgers richtete sich auf die kleine Blutlache vor ihm.

Der Fremde streckte seine Hand nach einer schwarz-roten Feder aus und hielt sie zwischen seinen behandschuhten Fingern. Abwesend und gelangweilt betrachtete er den Fund, während er sich wieder erhob. Seine Körpergröße betrug etwas mehr als sechs Fuß.

„Blut verlangt nach Blut, nicht wahr?“, erhob der Mantelträger wieder das Wort, und seine Augen richteten sich auf des Landstreichers blutende Hand, dessen Verletzung leicht brannte. Betroffen verdeckte der Verletzte die Wunde. Hat er deswegen tatsächlich seine Beherrschung verloren? Die Müdigkeit nahm ihm doch mehr jegliche Hemmungen und Anstand, als er dachte. Das war doch nicht nötig gewesen. Aber diese Einsicht kam nun ein bisschen zu spät. Dies war definitiv nicht sein Tag. Ob dies auch sein letzter war? So viel Pech auf einmal hatte ihn schon lange nicht mehr verfolgt. War das möglicherweise das Werk der Hexe? Hat sie ihn mit ihrem Fluch belegt? Panik stieg in ihm hoch. Innerlich flehte er den Himmel an, dass dies hoffentlich nicht der Fall war. Frow begann zu zittern. Erschrocken zuckte er zusammen, als die schwarze Gestalt zu sprechen begann. „Wären Sie so freundlich, mir ein paar Fragen zu beantworten?“, grinste er amüsiert. „Zu welchem Zweck?“

Seine Stimme klang heiser, drohte zu versagen. Idiot. Er war ein Idiot. Sein Gegenüber zischte: „Das hat Sie nicht zu interessieren, Mr. Frow. Beantworten Sie mir lediglich folgende Frage, und ich verspreche Ihnen, dass Sie mich nie wiedersehen werden!“ Der Kleinere setzte an, um zu antworten, stutzte aber. Woher kannte er seinen Namen? Sein Gedanke stand ihm wohl ins Gesicht geschrieben, da der Andere erwiderte: „Woher ich Ihren Namen kenne, spielt keine Rolle. Ich möchte bloß ein paar Angaben bezüglich Vincent Gregwood!“

Moment mal. Gregwood? „Wie bitte?“, war alles, was er entgegnen konnte. Nun knurrte der Schwarzgekleidete. Seine Geduld war langsam am Ende.

Verdammt. Wollte er sich wirklich schon heute von der Welt verabschieden? Der Hutträger zog eine Pistole aus seinem Mantel und richtete sie auf den Kleineren. Hörbar schluckte Alester. „Ich weiß es nicht. Er hat mir nichts erzählt. Ich schwöre bei meinem Leben!“, antwortete Frow wahrheitsgemäß mit zitternder Stimme und versuchte seinen Peiniger zu besänftigen. „Und das soll ich Ihnen glauben?“, meinte der Bewaffnete kalt. Seine Stimme war ruhig. Zu ruhig. „Versuchen Sie mich doch zu verstehen. Wir sind uns ähnlicher, als Sie denken!“ Ein spöttisches Glucksen entfloh seinem Mund. Da hatte er sich doch hoffentlich verhört. „Richten Sie bitte Ihr Augenmerk auf Ihr Werk und sagen Sie mir, bereuen Sie Ihre Tat? Ich wage es zu bezweifeln!“ Eine kurze Pause folgte. „Nein. Ganz im Gegenteil. Sie haben es genossen. Es genossen, jeden einzelnen und letzten Lebensfunken aus diesem unbedeutsamen Tier auszuhauchen. Und aus welchem Grund?“ „Aus Rache!“, beantwortete Frow wie benommen die Fragestellung, seine Augen auf die rote Pfütze gerichtet. Das dunkle Kichern ließ ihn aufschauen. „Genau. Sie und alle anderen Menschen auch sind rachsüchtige Wesen, die dazu bereit wären, alles und jeden zu zerstören, nur um ein Gefühl der Befriedigung hervorrufen zu können!“ Seine Stimme wurde lauter. „Deswegen bitte ich Sie höflichst, mir dabei nicht im Wege zu stehen!“

Er wollte sich also an Vincent Gregwood rächen. Aber weshalb? Was hat Gregwood denn diesem Herrn angetan?

Der Mann war definitiv verrückt. Wer war er überhaupt? Eingeschüchtert schluckte der Dieb, als er feststellte, dass der Größere immer näher kam. „Ich gebe Ihnen mein Wort. Ich weiß wirklich nichts. Ich habe keinerlei Kenntnis darüber, wo Gregwood sich aufhält!“, beschwichtigte Frow. Als die beiden sich näher als zuvor gegenüberstanden, packte der Hutträger ihn seufzend am Hals. Reflexhaft griff der Obdachlose nach der Hand des Anderen. Es wurde immer fester zugedrückt. Die Luft wurde knapp. Er drohte sein Bewusstsein zu verlieren. Punkte flimmerten vor seinen Augen. Dann nahm der Druck auf einmal ab. Nach Luft ringend wand Alester sich auf dem kalten Steinboden. Verängstigt schaute er nach oben in das Gesicht des Fremden. Sein Lächeln war nichts weiter als verabscheuenswert. Ein eiskaltes und skrupelloses Lächeln, das selbst die Hölle zu Eis gefrieren konnte. Um dem Anblick zu entfliehen, schloss er seine braunen Augen, die keinen noch so winzigen Teil von Lebensfreude ausstrahlten. Und trotzdem fürchtete der Obdachlose um sein Leben.

Welch eine Ironie, dachte er sich. Nun befand er sich in genau derselben Position wie der Rabe, den er zuvor zertreten hatte. „Erbärmliche Made!“, zischte der Stehende abfällig und entfernte sich von Frow. Ließ er ihn etwa am Leben? Noch traute er sich nicht, sich zu rühren. Schwer atmend betrachtete er den Himmel. Wie es wohl dort oben war? Vielleicht viel angenehmer als hier in seinem trostlosen Leben.

Endlich von all den Sorgen befreit sein und die Menschen hinter sich lassen. Alles und jeden vergessen. Ein Neuanfang. Es gab nichts, nach dem er sich mehr sehnte.

Nach einer Weile stützte Alester sich erschöpft auf seinen Armen ab, um sich aufzurichten. Was war das eben? Einfach nur verrückt. Ein verständnisloses Seufzen entfloh seiner Kehle.

Der Klang einer gelösten Sicherung ließ ihn zu Eis erstarren. Wie naiv es doch war zu glauben, der Verrückte wäre tatsächlich verschwunden und hätte ihn verschont. Wie in Zeitlupe wagte er es, sich umzudrehen und blickte einem Pistolenlauf entgegen. Der Bewaffnete nahm seinen Hut vom Kopf und hielt ihn sich demonstrativ entschuldigend auf die Brust. Alesters Augen weiteten sich. Dieses Gesicht kannte er doch von irgendwo her. „Es tut mir wirklich leid, Ihnen das mitteilen zu müssen. Aber schließlich kennt der Fluch der schneeweißen Hexe keine Gnade. Wenn Sie also gestatten. Ich empfehle mich!“, grinste er und drückte ab.

Lumine – Kapitel 1

Licht und Dunkel waren von Grund auf verschieden. Dies wusste ein jeder. Am Tage erhellte die Sonne jedermanns Pfad, und in der Nacht wiesen die funkelnden Sterne den Weg, aber nur die Wenigen wussten die Richtung rauszulesen. Man glaubte, das reine Herz ließ die Punkte am Himmel erstrahlen. Und eben jener, der Böses beabsichtigte, würde von der Finsternis verschlungen werden. So geschah es, dass ein kleines Dorf ein paar Jahre nach der Geburt eines bestimmten Kindes von der Bildfläche verschwand. Dieses Kind, von dem Fluch des Geistes des Mondes betroffen, welcher ihre Haare silbern färbte und dessen Augen beinah durchsichtig waren, trug den Namen Lumine. Die Bewohner spielten ein trauriges Theater mit ihr, bis sie eines Tages verstand. Furcht und Abscheu wurde ihr hinterrücks entgegengebracht. Von außen aber schienen die anderen freundlich zu sein. Töricht war es, dem Glauben zu schenken. Die erhobenen Mundwinkel wurden mit feinen Pinselstrichen aufgemalt. Sogar ihr Vater stellte sich gegen sie. Hinter ihm die Meute als Anhänger. Die Mutter konnte nichts für sie tun, da ihre Seele bereits lange Zeit zuvor für immer und ewig eingeschlafen war. Trotzdem, so war sie immer noch wunderschön, wie eine Puppe. Zutiefst verletzt, gepeinigt vom inneren Schmerz, rannte Lumine davon. Weit, weit weg. Ohne einen einzigen Blick zurück. Die heißen Tränen versiegten immer mehr, je weiter sie sich entfernte, und die Erinnerungen verschwanden im schwarzen Nebel, wie das Dörflein selbst.

Kapitel 1 – Hilflos

Ihr bewundernder Blick folgte dem wunderschönen Naturschauspiel, wie die Sonne den Horizont küsste, um dann langsam von der Dunkelheit verschlungen zu werden. Die Seelenspiegel trieften vor Faszination. Ihre schmalen Lippen formten tonlos das Wort: „Wunderschön!“ und bildeten ein wohliges Lächeln. Ein leichter Wind spielte mit ihren schneeweißen Haaren und ließen sie, wie die farbigen Blätter, wild in der Luft umher- tanzen. Auch der Saum des weißen Kleides regte sich verspielt.

Der Herbst war angebrochen. Die schönste aller Jahreszeiten. Die Tage werden kürzer, die Nächte wiederum länger sein. Der Himmel leuchtete in einem saftigen Orange, und der Übergang wurde immer dunkler. Nur noch zur Hälfte war der Feuerball präsent. Es würde nicht mehr lange dauern, bis man die Sterne funkeln sah. Für einen kurzen Moment schloss sie verträumt die Augen. Schwärze. Das Licht und Farbenspiel waren auf einmal komplett erloschen. Erinnerungsstücke tauchten auf. Traurig stimmende Bilder zeigten sich nach einer Ewigkeit wieder, die sie zuvor so stark verdrängt hatte.

Ihre Mundwinkel zogen sich automatisch wieder nach unten. Diese Szenarien würden sich bestimmt nicht schnell vergessen lassen. Wie von fremder Hand gesteuert, griff die Frau sich an den Hals und zog an der Schlaufe des weißen Bandes, das vorhin noch ihre grässliche Narbe verdeckt hatte. Vorsichtig berührten die Fingerkuppen der anderen Hand die verheilten Schnitte, die ihr zugefügt wurden und ihre sanfte Stimme raubten, um sie auf ewig zum Schweigen zu bringen. Das Gesicht des damaligen Täters war verschwommen. Ihn wiederkennen zu können, wäre ziemlich unwahrscheinlich gewesen. Allerdings gab es mit Abstand viel mehr Dinge, die ihr lieber gewesen wären, als diesem Monster erneut zu begegnen. Nie wieder. Bitte.

 

Dafür würde sie alles tun. Fröstelnd verschränkte die zierliche, kleine Frau die Arme. Ein Schluchzen. Erneut richtete die weißhaarige Schönheit ihren Blick gen Horizont, der immer dunkler wurde. Das Gras um sie herum begann ebenfalls langsam an Schwärze zu gewinnen, so wie der See vor ihr. Das klare Blau wurde immer mehr von der Finsternis verschlungen und erinnerte an ein riesiges Loch, ein Tor zur Hölle. Verschwunden. Nun war die Sonne vollständig untergegangen und würde sich in den nächsten Stunden nicht zeigen. Das Spiegelbild ihrer Gestalt im Wasser war nur noch an leichten Umrissen zu erkennen, aufgrund des Mondscheins hinter ihr.

Leicht erschrocken zuckte ihr Körper zusammen, als sie plötzlich zwei Hände auf ihren Schultern spürte. „Lady Luna, Ihr solltet euch des Wetters angemessener kleiden. Nicht, dass ihr noch krank werdet!“, vernahm sie die fürsorglich klingende, tiefe Stimme ihres Butlers Benedict, der ihr die Kapuze des schwarzen Mantels behutsam über ihr Haupt zog. Die eben Angesprochene wendete sich von dem See ab und drehte sich vollends zu dem Schwarzhaarigen um. Freudestrahlend schaute sie in die blauen Augen des Mannes, dem sie so viel zu verdanken hatte. Ohne ihn hätte sie wahrscheinlich ihre restliche Kindheit nicht überstanden. Ohne ihn hätte sie ihre Lebensfreude verloren. Ohne ihn wäre sie vermutlich bereits tot. Ohne ihn wäre sie einfach nur hilflos. Immerhin war er der Einzige, den Luna noch hatte. Seine Hand fand seinen Platz auf der Wange seiner Herrin, um die heißen Tränen wegzuwischen.

Unschlüssig, jedoch darauf bedacht, sich nichts davon anmerken zu lassen, musterte er seine Herrin. So wehrlos und verloren. Wahrlich Mitleid erregend.

Als der Butler kurz davor war, es zu wagen, sie in den Arm zu nehmen, um ihr Trost spenden zu wollen, hielt sie ihn davon ab und distanzierte sich von ihm, dabei signalisierend, dass es ihr gut ging. „Seid Ihr sicher, dass es Euch gut geht? Ich wage es, mir zu erlauben, Euch zu sagen, dass ich anderer Ansicht bin. Ihr braucht keinesfalls Euch zu verstellen und Euren Schmerz zu leugnen. Vergesst nicht mein Versprechen, dass ich Euch damals gab!“ Betroffen nickte Luna und ballte ihre Hände zu Fäusten. Die seelischen Verletzungen waren anscheinend noch zu frisch. Wie auch immer. Aber sie war kein kleines Mädchen mehr, auf das ständig Rücksicht genommen werden und den ganzen Tag über betreut werden musste. Sie war stark. Musste es jedenfalls sein. Schließlich wollte sie Benedict unter keinen Umständen zur Last fallen. Die Vergangenheit ließ sich nicht ungeschehen machen. Man musste sich immer den Umständen anpassen.

Tief atmete das feenhafte Wesen ein und aus. Ihre Lungen füllten sich gierig mit Sauerstoff und schieden den giftigen Kohlendioxidgehalt wieder aus. Erneut wagte sie, den Augenkontakt mit dem Mann vor ihr zu halten. Nie war es ihr jemals möglich gewesen, seinen Blick zu deuten. Aber sie glaubte, in diesem Moment einen Hauch von Sorge zu erkennen und noch etwas, das allerdings nicht einzuordnen war. Was war es? Mitleid? Trauer? Zuneigung? Ein Rätsel und viel zu irrelevant, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Wahrscheinlich würde sie niemals dazu in der Lage sein, hinter seine Fassade blicken zu können. Doch war dies bei Weitem nicht nötig, da Luna ganz genau wusste, dass er das Herz am rechten Fleck besaß, selbst wenn er nicht den Anschein erweckte, der darauf hindeuten mochte. Da war sich die junge Herrin absolut sicher.

Das weiße Band immer noch fest in ihrem Griff. Wieder wurde der Augenkontakt unterbrochen. Diesmal war es ihr Butler, der sein Augenmerk auf die entblößte Verunstaltung des sonst makellosen Körpers der Frau richtete. Wut keimte in ihm auf. Wut auf sich und auf IHN. Er hätte es verhindern können. Der eigentliche Drahtzieher hinter allem Übel ist glücklicherweise bereits von der Bildfläche verschwunden.

Wie konnte man nur? Er hätte es ahnen sollen. Innerlich schüttelte er den Kopf. Es war geschehen und somit auch unwiderruflich. Mit dem mussten sie nun leben. Langsam näherte sich der treu Ergebene und entnahm ihr das Band, um es ihr wieder umzubinden. Sie ließ es zu. Nachdem er sein Tun beendet hatte, erhob er seine Stimme: „Bitte begebt Euch nun wieder in die Kutsche und versucht zu schlafen. Ihr müsst Euch ausruhen. Und bis wir den Wald vollständig durchquert haben, wird es noch eine Weile dauern!“ Nachgebend folgte Luna seiner Bitte und schritt auf die schwarze Kutsche zu, die auf dem breiten, leicht unebenen Waldweg stand. Dankbar lächelte sie Benedict zu, als er, wie schon so oft, die Tür aufhielt und ihr half einzusteigen. Erschöpft ließ sie sich auf die Sitzbank fallen, schlief nach kurzer Zeit ein und wurde, wie jede Nacht, von alten, bedrückenden Bildern ihrer Vergangenheit in ihren Träumen heimgesucht.

Mit eisernem Griff hielt der treue Butler die Zügel in seinen Händen und beobachtete während der Fahrt die finstere Umgebung. Verärgert musste er feststellen, dass auch seine Kräfte langsam verschwanden.

Die Müdigkeit drohte ihn wie eine riesige Welle mit in die Tiefe zu reißen. Wann hatte er das letzte Mal ausgiebig geschlafen? Selbst wenn es ihm schwerfiel, so musste er ebenfalls an seine Gesundheit denken. Denn sein Leichnam würde Lady Luna nichts bringen. Für ihn hatte ihre Sicherheit stets höchste Priorität. Nichts, aber auch gar nichts würde ihn davon abhalten können, sie zu beschützen.

Lumine – Kapitel 2

Der kleine Hügel unter dessen Baum das Mädchen schlief, wurde von einem kegelförmigen Sonnenstrahl erhellt. Ein neuer Tag war angebrochen. Ein Neubeginn. Unter dem Rascheln der Blätter war es das flatternde Flügelschlagen, das Lumine erwachen ließ. Ihr trüber Blick klärte sich und sie erblickte vor sich eine weiße Taube, die auf einem Stein saß und sie musterte. „Wie du wohl heißen magst?“, erhob sie ihre Stimme und beschloss daraufhin, den Vogel auf den Namen Kuro zu taufen. Ab diesem Zeitpunkt wich Kuro ihr nicht mehr von der Seite.