Die Totenbändiger - Band 5: Hinterhalt

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Aus der Reihe: Die Totenbändiger #5
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Joplin nickte. »Das klingt für mich ziemlich plausibel. Es würde sowohl die Striemen und Flecken als auch die dunklen Stellen am Hals des Wiedergängers erklären. Er hat eine Kette oder ein Halsband mit Strom getragen, mit dem die Täter ihn kontrolliert haben.«



Sky und Connor tauschten einen kurzen Blick.



»Ist es denn möglich, einen Wiedergänger so abzurichten, dass man ihn kontrolliert töten lassen kann?«, fragte Connor. »Würde er nicht einfach auf jeden Menschen losgehen, auch – oder gerade besonders – auf diejenigen, die versuchen, ihn zu kontrollieren? Wie schafft man es, ihn gezielt auf die Menschen zu hetzen, die man umbringen will, ohne selbst von dem Biest getötet zu werden?«



Joplin hob die Schultern. »Ich schätze, Sie tragen bei Ihren Einsätzen eine Silberweste?«



Connor nickte. »Aber die schützt mich nur, solange andere Opfer attraktiver sind. Sobald die tot und ausgeweidet sind, würde ein Wiedergänger auch auf mich losgehen und mir die Weste vom Leib reißen. Bei den Biestern ist es mit Silber ähnlich wie mit Licht und Eisen. Sie mögen es nicht und es schreckt sie im ersten Moment ab, aber je stärker sie sind, desto weniger lassen sie sich davon aufhalten.«



»Das stimmt«, gab Joplin ihm recht. »Aber es kommt ganz auf die Dosierung an. Mit genügend Licht, Eisen oder Silber zwingt man jeden Wiedergänger in die Knie. Und es gibt schließlich nicht nur Silberwesten. Es gibt auch Schutzanzüge, die komplett mit Silberfäden durchwoben sind. Wir tragen sie hier in den Laboren während unserer Experimente und bisher war noch kein Wiedergänger so stark, dass wir sie uns nicht mit diesen Anzügen vom Leib halten konnten.«



»Gut«, räumte Sky ein. »Aber diese Anzüge kosten ein Vermögen. Wer sich so einen leisten kann, sollte es eigentlich nicht nötig haben, Raubzüge in Seniorenwohnanlagen zu begehen.«



Joplin musterte sie mit einem Grinsen, das ziemlich unverhohlen deutlich machte, dass Sky ihm gefiel. »Das stimmt sicher. Aber die Ermittlerin sind Sie. Alle Fakten sinnvoll miteinander zu verknüpfen, überlasse ich Ihnen. Wir hier können nur sagen, was laut unseren Versuchen und Beobachtungen theoretisch möglich wäre.«



Sky lächelte zurück. »Na, dann fangen wir hier gleich mal mit unseren Ermittlungen an. Wie viele Wiedergänger müssten sich zum jetzigen Zeitpunkt zu experimentellen Zwecken in den Verliesen des Towers befinden und sind die auch wirklich alle hier? Und die gleiche Frage gilt für die Schutzanzüge. Wie viele gibt es davon und sind auch die alle, wo sie sein sollten?«



Joplin lachte auf. »Wow, so werden wir von hilfsbereiten Experten zu Hauptverdächtigen in weniger als zwei Sekunden.« Seine Augen blitzten vergnügt, als er Sky erneut musterte. »Sie wissen, wie Sie sich Freunde machen.«



»Reine Routine«, versicherte Sky mit einem Schmunzeln.



Doktor Michaels erhob sich. »Das verstehe ich. Selbstverständlich werden wir Ihnen unsere Wiedergänger zeigen. Aber ich versichere Ihnen, es gibt hier so viele Sicherheitsvorkehrungen, dass es niemandem möglich wäre, eins der Versuchsobjekte unbemerkt zu entwenden.«



Sie nahm die Silberbox mit dem Geist des besonderen Wiedergängers von ihrem Schreibtisch und reichte sie ihrer Assistentin. »Hol ihn raus und füttere ihn, damit er wieder zu einem Wiedergänger wird. Er wird dann zwar einen neuen Körper bilden, was uns bei der Aufklärung der Ereignisse in der Wohnanlage vermutlich nicht weiterbringen wird. Aber für den Fall, dass es am Geist gelegen hat, sollten wir uns die Kreatur auf jeden Fall genauer ansehen.«



Sky und Connor erhoben sich ebenfalls und als sie gemeinsam das Büro der Wissenschaftlerin verließen, fragte Connor: »Wäre es möglich, dass dieser Wiedergänger aus einer neuen Art von Geist entstanden sein könnte?«



Michaels blieb vor den Aufzügen stehen und drückte den Knopf, um die Kabine zu rufen. »Sicher. Auszuschließen ist so etwas nie. Der Hocus hat sich vor gut hundert Jahren aus den Schattengeistern heraus entwickelt. Es ist daher nicht undenkbar, dass die Seelenlosen weitere Entwicklungen durchlaufen.«



»Füttert Sie Ihre Versuchsobjekte mit Ihrer eigenen Lebensenergie?«, erkundigte Sky sich an White gewandt.



Die nickte. »Meistens machen Lee und ich es. Oder die anderen. Es gibt noch fünf weitere Totenbändiger, die hier im Tower arbeiten.« Sie deutete zu ihrer Chefin. »Aber es gibt auch Normalos, die Lebensenergie spenden. Manche trainieren damit, die Berührungen von Geistern auszuhalten und zu blocken.«



»Um sie zu erforschen und besser zu verstehen, finde ich es sehr hilfreich, die Kräfte dieser Wesen selbst zu spüren, da ich sie so präziser einschätzen kann«, fügte Michaels hinzu und ließ Sky und Connor den Vortritt, als der Aufzug kam und die Türen sich öffneten. »Als Spuk ohne Totenbändigerfähigkeiten geht es Ihnen doch vermutlich ähnlich, nicht wahr?« Sie trat ebenfalls in den Aufzug und drückte einen Knopf für den Kellerbereich.



»Ja, definitiv«, stimmte Connor ihr zu. »Aber wie füttern Sie Wiedergänger? Die brauchen ja nicht nur Lebensenergie, sondern auch Organe, um ihre Körper zu festigen.«



»Wir geben ihnen die Innereien von Schweinen und Rindern. Es ist nicht ihr bevorzugtes Futter und manche verschmähen es zunächst, doch letztendlich siegt immer ihr Hunger und das Verlangen, ihren Körper dauerhaft zu behalten.«



Sie kamen im Keller an und mussten durch eine Sicherheitsschleuse mit Wachpersonal plus Ausweisscanner und Sky und Connor durften nur eintreten, weil Doktor Michaels und ihre beiden Assistenten sie begleiteten und ihre Anwesenheit erklärten.



»Das größte Problem an der Fütterung mit tierischen Organen ist, dass die Gehirne von Rindern oder Schweinen Wiedergänger nicht so intelligent machen wie menschliche Gehirne«, nahm Joplin das Gespräch wieder auf, als sie den Sicherheitsbereich passiert hatten. »Das merken wir jedes Mal, wenn wir menschliche Organe von Spendern bekommen, die ihre Körper nach dem Tod der Wissenschaft zur Verfügung stellen. Wenn ihre Organe nicht für Transplantationen infrage kommen, erhalten wir sie. Und gerade menschliche Gehirne bewirken Wunder, was die Intelligenz von Wiedergängern angeht.«



»Sie sagten, alle Wiedergänger hier in den Verliesen sind von Ihnen gezüchtet?«, fragte Sky nach, als sie am Ende des Gangs an einer Stahltür ankamen, die durch einen Fingerabdruckscanner gesichert war.



»Ja«, antwortete White. »Meistens aus Geistern, in die sich Wiedergänger zurückverwandelt haben, nachdem sie von Spuks mit Silberkugeln getötet wurden.« Sie hielt die Silberbox hoch. »So wie der hier. Wir haben aber auch schon welche aus normalen Geistern herangezüchtet, doch das dauert je nach Stadium des Geistes Wochen bis Monate.«



»Wir arbeiten aber an einem Sedativ«, erklärte Michaels, nachdem sie die Tür geöffnet hatte. »Damit bekämen wir die Möglichkeit, einen Wiedergänger aus freier Wildbahn einzufangen. Eine natürlich entstandene Kreatur zu untersuchen, würde uns sicher noch mal ganz neue Erkenntnisse bringen.«



»Wie weit sind Sie mit der Entwicklung dieses Sedativs?«, erkundigte sich Connor.



Michaels seufzte. »Wir experimentieren mit verschiedenen Betäubungsmitteln, die in Zoos und Safariparks von Tierärzten zur Behandlung von Großwild eingesetzt werden, doch bisher haben wir noch keine Zusammensetzung gefunden, die so zuverlässig wirkt, dass wir sie für einen Feldtest freigeben könnten.«



Sie liefen durch einen weiteren Gang, dessen linke Seite aus einer großen Fensterfront bestand, die den Blick auf ein Labor freigab. Sechs Personen in Kitteln arbeiteten an verschiedenen Versuchstischen, auf denen Apparaturen mit Kolben und Reagenzgläsern aufgebaut waren. An den Wänden standen Tische mit Zentrifugen, Inkubatoren, Laptops und Glaskästen, in denen man nur mit Handschuhen hantieren durfte.



Michaels deutete in den Raum. »Aber die Kollegen geben natürlich nicht auf.«



Sky runzelte die Stirn. »Wenn es noch kein wirksames Betäubungsmittel für Wiedergänger gibt, wie sollte es dann jemand schaffen, so einem Biest eine Kette oder ein Halsband umzulegen? Sobald man es versuchen würde, würde der Wiedergänger ausrasten und um sich schlagen. Bei der Kraft der Biester wären solche Schläge tödlich, völlig egal, ob man einen Schutzanzug trägt. Und selbst wenn man es schaffen sollte, einem Wiedergänger eine Art Leine anzulegen, würde er sich sicher mit aller Kraft dagegen wehren. Ohne die Möglichkeit ihn ruhiger oder zahmer zu machen, hätte man kaum eine Chance, ihn zu halten, geschweige denn, ihn irgendwie zu führen, um ihn bestimmte Personen töten zu lassen.«



Micheals schüttelte den Kopf. »Nicht unbedingt. Nur weil wir noch kein Mittel für Feldversuche freigegeben haben, heißt das nicht, dass es noch keine gibt, die funktionieren. Sie funktionieren nur nicht zuverlässig genug oder haben unerwünschte Nebenwirkungen.«



»Was heißt das?«, hakte Connor nach.



»Bislang ist die Wirkungsdauer der Mittel unberechenbar, was den Einsatz zu gefährlich macht, weil keiner sicher gewährleisten kann, wie lange der Wiedergänger sediert bleibt«, erklärte White. »Außerdem rufen die bisherigen Mittel eine erhöhte Aggressivität hervor, sobald die betäubende Wirkung nachlässt.«



»Okay«, meinte Sky. »Das würde zum Tatort in der Wohnanlage passen.«



Joplin bedachte sie mit einem verschmitzten Seitenblick. »Lassen Sie mich raten, jetzt möchtest Sie auf jeden Fall auch noch den Vorrat unserer Betäubungsmittel überprüfen.«



Sky hob den Daumen. »Aber so was von.«





Knapp zwei Stunden später packten Sky und Connor einen neuen Vorrat an Silberboxen, Silberkugeln und Auraglue-Kartuschen in den Kofferraum ihres Dienstwagens. Die Überprüfung der Verliese hatte nichts Auffälliges ergeben. Die Wiedergänger waren vollzählig, ebenso die Schutzanzüge. Auch der Vorrat an Betäubungsmitteln stimmte mit den Angaben in den Bestandslisten überein, obwohl man diese Listen im Computer sicher leicht manipulieren konnte. Doch solange gegen keinen der Mitarbeiter des Towers ein begründeter Verdacht bestand, würde es schwer sein, eine Genehmigung zu bekommen, um die Computereinträge von der IT-Crowd der Polizei überprüfen zu lassen.

 



Sie stiegen in den Wagen und Connor steuerte das Tor an.



»Lass uns noch irgendwo anhalten und einen Kaffee trinken, bevor wir aufs Revier fahren, um einen fröhlichen Informationsaustausch mit Theo abzuhalten.« Sky unterdrückte ein Gähnen. Nach all der Aufregung am Abend zuvor war sie zwar todmüde ins Bett gefallen, doch wirklich erholsamen Schlaf hatte sie nicht gefunden. Zweimal war sie aus wirren Träumen aufgeschreckt und hatte danach ewig gebraucht, um wieder einzuschlafen.



»Nope.« Connor fädelte sich gekonnt in den Verkehr entlang der Themse ein. »Um des lieben Friedens willen bekommst du vor dem Gespräch besser kein Koffein.« Er grinste fies.



Sky schnaubte und knuffte ihm empört gegen den Oberschenkel. »Mieser Verräter. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich doch den Kaffee angenommen, den Joplin mir angeboten hat.«



Jetzt war es Connor, der schnaubte. »Ich bin mir ziemlich sicher, der Typ wollte dir nicht nur einen Kaffee anbieten.«



Sky schmunzelte. »Eifersüchtig?«



Er warf ihr einen Seitenblick zu. »Ich denke nicht, dass ich dafür einen Grund habe, oder?«



Da sie gerade an einer roten Ampel warten mussten, beugte Sky sich zu ihm herüber und gab ihm einen Kuss. »Nein, natürlich nicht.« Dann trat jedoch ein spitzbübisches Funkeln in ihre Augen. »Jedenfalls nicht, solange du beim nächsten Coffee Shop anhältst und ich meinen Kaffee bekomme.«





Kapitel 3










Das Gebrabbel von London News Network drang in seinen Schlaf und das warme Gewicht von Watson lag auf seiner Hüfte. Der kleine Katzenjunge genoss es, dass Gabriel den Vormittag auf der Couch verbrachte. Er hatte sich schon vor Stunden zu ihm gekuschelt, als hätte er sich mit der Erzieherfraktion des Hauses verbündet, um aufzupassen, dass Gabriel Ruhe hielt und sich schonte.



Als ob er dafür einen Aufpasser gebraucht hätte. Alleine den Weg aus seinem Zimmer im zweiten Obergeschoss hinunter ins Wohnzimmer hatte sein Kreislauf schon als Zumutung empfunden – und die Wunden an Schulter und Brust sahen das ganz ähnlich. Auch jetzt puckerten sie wieder leicht. Das Schmerzmittel ließ nach. Für die Nacht hatte sein Vater ihm etwas gespritzt, ebenso heute Morgen, als er sich die Wunden noch einmal angesehen hatte, bevor er in seine Praxis gefahren war. Laut ihm sah alles den Umständen entsprechend gut aus und Gabriel sollte jetzt auf Tabletten umschwenken, wenn die Schmerzen zu schlimm wurden. Alle vier Stunden eine. Nicht mehr und nicht öfter.



Gabriel seufzte tief und blinzelte, um die bleierne Müdigkeit zu vertreiben, die ihm seit der Nacht in den Knochen steckte.



»Hey, Sleepyhead. Rise and shine.«



Die unerwartete Stimme ließ ihn zusammenzucken, was seine Schulter mit einer heftigen Schmerzwelle quittierte.



»Hey«, stöhnte er durch zusammengebissene Zähne. »Was machst du denn hier?«



»Ich würde jetzt gerne sagen: einem heißen Kerl beim Schlafen zusehen. Aber das wäre gelogen.« Matt musterte ihn kritisch, als Gabriel sich in Zeitlupentempo aufsetzte. Er war kreidebleich und kämpfte sichtlich mit Kreislaufproblemen, als er sich erschöpft gegen die Sofalehne sinken ließ. »Du siehst echt beschissen aus.«



Gabriel schloss die Augen und lehnte den Kopf gegen die Rückenlehne. »Danke. An deinen Komplimenten solltest du dringend arbeiten.«



»Das sollte gar keins sein. Du siehst wirklich beschissen aus.«



»Lass du dich von einem Wiedergänger aufschlitzen, dann schauen wir mal, wie heiß du am nächsten Morgen aussiehst.«



Matt lächelte erleichtert, weil es seinem Freund zumindest so gut ging, dass er schon wieder kontern konnte.



Watson kuschelte sich erneut an Gabriel und legte demonstrativ eine Pfote auf dessen Oberschenkel, als wollte er ihm damit zu verstehen geben, dass sich aufzusetzen genehmigt war, aufstehen aber noch nicht zur Debatte stand. Gabriel streichelte dem kleinen Kater übers Fell, dann zwang er seine Augen wieder auf und sah zu Matt hinüber, der anscheinend gut versorgt mit Kaffee und Keksen auf der zweiten Couch herumgelungert und Nachrichten geschaut hatte.



»Hat Sky dir erzählt, was passiert ist?«



»Yep. Auch, dass du dein Leben riskiert hast, um ihres zu retten.«



Müde rieb Gabriel sich über die Augen. »Ich wünschte, sie würde da keine so große Sache draus machen. Ich hab sie bloß zur Seite gestoßen. Es war einfach ein Reflex.«



Matt musterte ihn durchdringen. »Ja, klar.«



Die Ironie in seiner Stimme war nicht zu überhören, doch Gabriel fühlte sich zu k. o., um die Sache auszudiskutieren. Außerdem klopfte der Wundschmerz in seiner Schulter mittlerweile deutlich heftiger und er warf einen Blick auf die Uhr, die auf dem Kaminsims stand. Kurz nach halb zwei. Also konnte er einen der Schmerzkiller schlucken, bevor es noch schlimmer wurde. Das Höllenfeuer, das direkt nach der Attacke in Schulter und Brust gebrannt hatte, brauchte er nämlich definitiv kein zweites Mal. Er beugte sich vor, merkte aber sofort, wie sein Kreislauf wieder verrücktspielte.



Verdammt.



Sein Blutdruck war zu niedrig, seit ihm gestern einiges der lebenswichtigen Flüssigkeit verloren gegangen war. Ächzend sank er zurück.



»Was brauchst du?« Matt schwang sich von der zweiten Couch und kam zu ihm herüber.



»Wasser«, murmelte Gabriel genervt, weil sein Körper ihm gerade Grenzen setzte, die ihm nicht passten. »Und eine von den Pillen.« Er deutete zum Sofatisch, wo sein Dad alles für ihn bereitgestellt hatte.



Matt reichte ihm Wasserglas und Tablette und drückte dabei kurz Gabriels Hand. Dann wandte er sich einer bunten Teekanne zu, die auf einem Stövchen ebenfalls auf dem Sofatisch stand.



»Deine Granny hat mir eingeschärft, dir den hier zu geben, sobald du aufwachst.« Er goss eine Tasse ein und tauschte sie gegen das Wasserglas, nachdem Gabriel die Schmerztablette geschluckt hatte. »Ist irgendein Wundermittel, das dich schnell wieder auf die Beine bringen soll.« Er verzog mitfühlend das Gesicht. »Ich hoffe, es schmeckt besser als es riecht.«



Übles ahnend stöhnte Gabriel. »Vermutlich nicht. Wo ist Granny überhaupt?« Er sah zum Durchgang, der auf den Flur hinausführte. »Wundert mich, dass sie noch nicht hier aufgetaucht ist, um nach mir zu sehen.«



»Sie ist vor einer Viertelstunde mit deiner Mum zum Einkaufen gefahren, weil ich versprochen hab, bei dir zu bleiben und aufzupassen, dass du dich nicht von der Couch wegbewegst.«



Matt warf sich wieder auf das zweite Sofa und strich seine bunten Haare zurück, die wie immer in Stirn und Nacken ein bisschen zu lang waren. Kein Mensch wusste, was Mutter Natur sich bei seinen Haaren gedacht hatte. Nicht nur, dass sie in einem wilden Mix aus rosa und hellblauen Strähnen kreuz und quer durcheinander wucherten, sie wuchsen auch sofort nach, sobald er sie kurz schneiden ließ. Färben funktionierte auch nicht. Das Einzige, das funktioniert hatte, waren Strähnchen in Schwarz und Dunkelgrün. Die schienen seinem Schopf sogar so gut zu gefallen, dass die Haare jetzt in dieser Farbe nachwuchsen.



Gabriel runzelte die Stirn. »Sorry, dass sie dich so eingespannt haben. Wenn du zu einem Job musst, dann geh ruhig. Ich bin okay.«



Matt bedachte ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue. »Also okay sieht definitiv anders aus. Und keine Sorge. Ich hab den Krankendienst freiwillig angeboten. Den Job kriegen die anderen heute auch alleine hin. Im Moment haben wir keine wirklich gefährlichen Einsätze. Nur jede Menge reiche Schnösel, die vor Äquinoktium noch mal die Sicherungen an ihren Häusern überprüfen lassen wollen, obwohl die meisten von ihnen sich halbe Eisenfestungen haben bauen lassen. Da brauchst du nur von außen einen kurzen Blick drauf zu werfen, um zu sehen, dass da kein Seelenloser reinkommt. Mal ganz davon abgesehen, dass zig Magnesiumlampen, die in deren Straßen und auf deren Grundstücken stehen, sowieso alles Untote auf einen Kilometer Abstand halten.« Er rollte die Augen, grinste dann jedoch geschäftstüchtig. »Aber natürlich nehmen sich die Ghost Reapers trotzdem die Zeit und überprüfen gewissenhaft alle Zugänge zu Grundstücken und Häusern auf mögliche Schwachstellen.«



»Natürlich«, gab Gabriel todernst zurück. »Immerhin werdet ihr nach Stunden bezahlt.«



Matts Grinsen wurde noch ein bisschen breiter. »Exakt. Und die reichen Schnösel schätzen es sogar, wenn wir uns viel Zeit nehmen. Bei denen scheint nur das einen Wert zu haben, wofür sie ordentlich zahlen müssen. Dann empfehlen sie uns sogar gerne weiter. Es gewinnen also beide Parteien.«



Gabriel lächelte. »Es freut mich, dass es für dich so gut läuft. Wirklich. Das hast du echt verdient.«



Nachdem Gabriel trotz rebellischer Teenagerphase und jeder Menge gemeinsamen Mistbauens mit Matt sein Abitur geschafft hatte, verhalf Thad ihm und Sky als zwei der ersten Totenbändiger zu Ausbildungsplätzen an der Polizeiakademie. Für Matt hatte Thad sich ebenfalls eingesetzt, doch da er kein Abitur vorweisen konnte, war er abgelehnt worden. Edna hatte ihm damals zwar angeboten, ihm dabei zu helfen, sein Abitur nachzuholen, doch Matt hatte abgelehnt. Er war ein Praktiker und wollte mit knapp zwanzig nicht noch mal die Schulbank drücken. Und wenn die Polizei ihn nicht wollte, dann eben nicht. Ein paar Jahre lang hatte er sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten und seinen Eltern im Mean & Evil ausgeholfen, bis er vor gut zwei Jahren die Ghost Reapers gegründet hatte, eine Agentur, an die sich Menschen mit Geisterproblemen wenden konnten.



Matt erwiderte das Lächeln und wies dann auf die Tasse in Gabriels Hand. »Ich sehe dich nicht trinken, also los. Ich will keinen Ärger mit deiner Grandma. Sie hat diesen Blick drauf. Genau wie Lorna. Echt furchteinflößend.«



Gabriel schnitt eine Grimasse. »Ich glaube, diesen Blick perfektionieren Eltern und Großmütter im Laufe der Zeit.« Er nahm einen Schluck vom Tee und hatte das Gefühl, all seine Geschmacksnerven würden gepeinigt aufschreien.



Mitfühlend zog Matt die Nase kraus. Alleine der Geruch schreckte ihn schon ab. Er deutete zum Sofatisch, auf dem neben Teekanne, Wasser und Tabletten ein hellblauer Pappkarton stand. Daisey’s Pasties schnörkelte sich in einem Schriftzug, der aussah wie weißer Zuckerguss, über den Deckel.



»Ich hab dir Donuts mitgebracht. Vielleicht helfen die dabei, das fiese Gebräu hinunterzuwürgen.«



»Donuts?«



Mit einem verschmitzten Blick hob Matt die Schultern. »Na, die essen Polizisten doch so gerne, oder nicht? Und nach deinem heldenhaften Einsatz gestern hast du dir definitiv welche verdient.«



»Ich glaube, du verwechselst da was. Donuts sind was für amerikanische Streifencops. Ich bin ein britischer Spuk.«



Matt lachte auf. »Ach so! Was hätte der werte Herr denn stattdessen lieber gehabt? Ein paar Gurkensandwiches? Oder Plum Pudding?«



Gabriel verzog das Gesicht. »Okay, ich glaube, so britisch bin ich dann doch nicht.«



»Dann also doch einen Donut.« Matt wollte sich wieder von der Couch schwingen, um Gabriel die Schachtel zu geben, doch der winkte ab.



»Im Moment nicht. Aber danke. Nicht nur fürs Mitbringen.«



»Kein Ding.«



Sie schwiegen eine Weile, als auf dem Nachrichtensender die Werbepause endete und ein Sprecher die aktuellen Schlagzeilen aus London verkündete. Dazu gehörte natürlich der Brand in der Elderly-Flowers-Seniorensiedlung.



»Euer Fall ist schon den ganzen Vormittag über in den Top News.« Matt nahm sich einen der Kekse, die Ella und Jaz gebacken hatten. »Sky hat mir heute früh alles von letzter Nacht erzählt, aber in den Nachrichten halten sie einiges davon zurück. Da berichten sie nur vom Feuer und spekulieren, was die Ursache gewesen sein könnte.«



»Vermutlich, um die Bevölkerung vor der Unheiligen Nacht nicht zu beunruhigen. Wenn rauskäme, dass ein Wiedergänger den Eisenzaun der Wohnanlage überwunden und die Bewohner abgemetzelt hat …« Gabriel seufzte und sparte sich weitere Ausführungen.

 



»War es denn wirklich der Wiedergänger? Sky meinte, der Tatort wäre seltsam gewesen. Wisst ihr dazu mittlerweile mehr?«



Gabriel erzählte ihm das, was Sky ihm im Telefonat nach ihrem Treffen mit Thad, Darrow und Theo am Tatort erzählt hatte, und er spielte ihm eine Sprachnachricht vor, die Sky nach ihren Ermittlungen im Tower geschickt hatte. Auch da hatte sie zuerst versucht, ihn anzurufen, doch das Schmerzmittel, das sein Vater ihm am Morgen gespritzt hatte, hatte ihn müde gemacht und er war noch mal

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