Ritter, Thronerbe, Prinz

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Aus der Reihe: Für Ruhm und Krone #3
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KAPITEL ZWEI

Berin war von Aufregung erfüllt. Die Luft war gespannt seitdem er die Tunnel betreten hatte. Er bahnte sich seinen Weg durch den Untergrund und folgte mit Sartes an seiner Seite Anka. Sie kamen an Wächtern vorbei, die ihnen respektvoll zunickten und an Rebellen, die überall umherwuselten. Er lief durch den Wächtertor und spürte, dass sich die Sache zum Wohle der Rebellion gewendet hatte.

Jetzt hatten sie vielleicht eine Chance.

„Hier entlang“, sagte Anka und winkte sie zu einem Beobachtungsposten. „Die anderen erwarten uns bereits.“

Sie liefen durch steinerne Korridore, die aussahen als existierten sie schon immer. Die Ruinen von Delos, tief unter der Erde. Berin streifte bewundernd und mit der für einen Schmied typischen Eigenart über den weichen Stein, und er fragte sich, wie lange sie wohl hier schon standen und wer sie erbaut haben musste. Vielleicht hatten sie schon zu Zeiten der Uralten gestanden, zu einer Zeit an die sich schon lange niemand mehr erinnern konnte.

Und das rief die schmerzvolle Erinnerung an seine Tochter, die er verloren hatte, wach.

Ceres.

Als sie an einer Öffnung vorbeikamen, wurde Berin durch das Geräusch von Metallhämmern und der plötzlichen Hitze von Schmiedeeisen aus seinen Gedanken gerissen. Er erblickte ein dutzend Männer, die sich abmühten, Brustschilder und kurze Schwerte zu schmieden. Der Ort erinnerte ihn an seine alte Schmiede und jene Tage, an denen seine Familie vereint gewesen war.

Auch Sartes schien in ihre Richtung zu stieren.

„Alles klar?“ fragte Berin.

Er nickte.

„Ich vermisse sie auch“, antwortete Berin und legte eine Hand auf seine Schulter, denn er wusste, dass er gerade an Ceres dachte, die viel Zeit in der Schmiede verbracht hatte.

„Das tun wir alle“, stimmte Anka mit ein.

Die drei standen still einen Moment andächtig da, und Berin verstand, wie viel Ceres ihnen allen bedeutet hatte.

Er hörte Anka seufzen.

„Wir können nur kämpfen“, fügte sie hinzu, „und weiter Waffen schmieden. Wir brauchen dich, Berin.“

Er versuchte sich zu konzentrieren.

„Machen sie alles so, wie ich es ihnen gesagt habe?“ fragte er. „Erhitzen sie das Metall genug bevor sie es abkühlen? Anderenfalls wird es nicht hart werden.“

Anka grinste.

„Das kannst du nach dem Treffen gerne selbst überprüfen.“

Berin nickte. Wenigstens war er ein wenig von nutzen.

***

Sartes lief neben seinem Vater, der wiederum Anka folgte, als sie ihren Weg an der Schmiede vorbei und tiefer in das Tunnelsystem hinein fortsetzten. Hier liefen mehr Menschen herum, als er sich hätte träumen lassen. Männer und Frauen kümmerten sich um den Nachschub, übten sich in der Waffenkunst und rannten die Gänge auf und ab. Sartes erkannte unter ihnen einige ehemalige Rekruten, die sie aus den Fängen der Armee befreit hatten.

Schließlich gelangten sie zu einer Art Höhle mit einigen Steinsockeln, auf denen einmal Statuen gestanden haben mussten. Im flackernden Kerzenschein konnte Sartes die Anführer der Rebellion erkennen. Sie hatten sie bereits erwartet. Hannah, die sich gegen den Überfall ausgesprochen hatte, sah jetzt so glücklich aus, als hätte sie ihn selbst angeordnet. Die schlanke Statur Oreths, der jetzt einer von Ankas wichtigsten Vertretern war, lehnte grinsend an der Wand. Sartes machte auch die massige Erscheinung des ehemaligen Hafenarbeiters Edrin am Rande des Kerzenscheins aus während Jeralds Juwelen das Licht der Kerzen einfingen und der Kaufmannssohn unter den anderen, die lachten und Witze rissen, fast fehl am Platz schien.

Sie verstummten als die drei sich näherten und Sartes spürte jetzt eine deutliche Veränderung. Hatten sie Anka zuvor eher widerwillig zugehört, so zollten sie ihr jetzt nach dem Hinterhalt Respekt, als sie auf sie zukam. Sie hatte in Sartes’ Augen jetzt auch mehr die Ausstrahlung einer Anführerin, lief aufrechter und wirkte selbstbewusster.

„Anka, Anka, Anka!“ begann Oreth und schnell stimmten auch die anderen in die Rufe mit ein, so wie es die Rebellen nach der Schlacht getan hatten.

Sartes stimmte mit ein und hörte, wie der Name der Anführerin im Gewölbe widerhallte. Er hielt erst inne, als Anka mit einer Geste um Ruhe bat.

„Wir haben uns gut geschlagen“, sagte Anka mit einem eigentümlichen Lächeln. Es war eines der ersten, die Sartes seit Ende der Schlacht gesehen hatte. Sie war zu sehr damit beschäftigt gewesen, die Gefallenen sicher vom Schlachtfeld zu bergen. Sie hatte ein Auge für die Kleinigkeiten, die die Menschen in der Rebellion zählten.

„Gut?“, fragte Edrin. „Wir haben sie zermalmt.“

Sartes hörte, wie die Faust des Mannes zur Verdeutlichung in seine Handinnenfläche schlug.

„Wir haben sie zerstört“, stimmte Jerald zu, „dank deiner Führung.“

Anka schüttelte den Kopf. „Wir haben sie gemeinsam geschlagen. Wir haben sie besiegt, weil jeder das seine getan hat. Und weil Sartes uns die Pläne besorgt hatte.“

Sartes wurde von seinem Vater nach vorne geschoben. Das hatte er nicht erwartet.

„Anka hat Recht“, sagte Oreth. „Wir schulden Sartes unseren Dank. Er hat uns die Pläne gebracht, und er war derjenige, der die Rekruten überzeugt hat, nicht zu kämpfen. Die Rebellion hat dank ihm nun mehr Anhänger.“

„Halbausgebildete Rekruten“, setzte Hannah hinzu. „Keine richtigen Soldaten.“

Sartes drehte sich zu ihr um. Sie war dagegen gewesen, dass er an der Sache hatte teilnehmen dürfen. Er mochte sie nicht, aber darum ging es in der Rebellion nicht. Sie alle gehörten einer Sache an, die größer war, als jeder einzelne von ihnen.

„Wir haben sie geschlagen“, sagte Anka. „Wir haben eine Schlacht gewonnen, doch das sollten wir nicht mit einem Sieg über das Reich verwechseln. Vor uns liegt noch ein langer Weg.“

„Und sie haben nach wie vor viele Soldaten“, sagte Jerald. „Ein langwieriger Krieg gegen sie, könnte uns teuer zu stehen kommen.“

„Kalkulierst du etwa die Kosten?“ konterte Oreth. „Das hier ist keine Geschäftsinvestition, in der du dir erst die Bücher ansiehst, bevor du kaufst.“

Sartes konnte hören, dass er genervt war. Als er zuerst zu den Rebellen gestoßen war, hatte er geglaubt, dass sie eine große, geschlossene Einheit wären, dass sie an nichts anderes denken konnten, als daran, das Reich zu besiegen. Doch dann hatte er herausgefunden, dass sie in vielerlei Hinsicht ganz einfache Leute waren, alle mit ihren eigenen Träumen und Hoffnungen, Wünschen und Bedürfnissen. Das machte Ankas Leistung sie nach Rexus’ Tod zusammenzuhalten noch eindrucksvoller.

„Es ist die größte Investition, die es gibt “, sagte Jerald. „Wir werfen alles was wir haben in eine Schale. Wir riskieren unser Leben für die Hoffnung, dass sich die Dinge zum besseren verändern werden. Ich bin genauso in Gefahr, wie jeder andere hier, wenn unser Anliegen misslingt.“

„Es wird nicht misslingen“, sagte Edrin. „Wir haben sie einmal geschlagen. Wir werden sie wieder schlagen. Wir wissen, wo sie angreifen werden und wann. Wir können sie jedes Mal abpassen.“

„Wir können mehr als nur das“, sagte Hannah. „Wir haben den Menschen gezeigt, dass wir sie schlagen können, warum holen wir uns dann nicht ein paar Sachen von ihnen zurück?“

„Woran genau hast du gedacht?“ fragte Anka. Sartes sah, dass sie nachdachte.

„Wir erobern ein Dorf nach dem anderen zurück“, sagte Hannah. „Wir töten die dortigen Reichssoldaten noch bevor Lucious auch nur in ihre Nähe kommt. Wir zeigen den Leuten dort, was möglich ist und er wird sein blaues Wunder erleben, wenn sie sich dann gegen ihn erheben.“

„Und wenn Lucious und seine Männer sie dann deshalb töten?“ wandte Oreth ein. „Was dann?“

„Dann zeigt das nur, wie grausam er ist“, insistierte Hannah.

„Oder die Menschen sehen, dass wir sie nicht beschützen können.“

Sartes blickte sich um und erkannte erstaunt, dass sie ernsthaft über die Idee nachdachten.

„Wir könnten einige von uns in den Dörfern stationieren, so dass sie auf der sicheren Seite sind“, schlug Jerald vor. „Wir haben schließlich jetzt die Rekruten.“

„Sie werden die Armee nicht lange aufhalten können, wenn sie einmal im Anmarsch ist“, schoss Oreth zurück. „Sie würden zusammen mit den Dörflern sterben.“

Sartes wusste, dass er Recht hatte. Die Ausbildung der Rekruten war nicht mit derjenigen der stärksten Armeesoldaten zu vergleichen. Schlimmer noch hatten viele von ihnen in den Klauen der Armee so sehr gelitten, dass sie wahrscheinlich selbst große Angst haben würden.

Er sah, dass Anka mit einer Geste um Ruhe bat. Dieses Mal dauerte es ein wenig länger bis sie ihr gewährt wurde.

„Oreth hat nicht ganz Unrecht“, sagte sie.

„Natürlich stehst du auf seiner Seite“, antwortete Hannah sogleich.

„Ich stimme ihm zu, weil er Recht hat“, sagte Anka. „Wir können nicht einfach in die Dörfer gehen, sie zu Freien erklären und auf das Beste hoffen. Selbst mit den Rekruten sind wir einfach zu wenige Kämpfer. Wenn wir alle zusammen angreifen, dann liefern wir dem Reich die Gelegenheit uns auszulöschen. Und wenn wir alle Dörfer befreien wollen, dann werden sie uns Stück für Stück auseinandernehmen.“

 

„Wenn wir genügend Dörfer überzeugen, sich zu erheben und ich meinen Vater dazu bringe einige Söldner anzustellen...“ schlug Jerald vor. Sartes bemerkte, dass er den Gedanken nicht zu Ende brachte. Der Sohn des Händlers hatte keine wirkliche Antwort parat.

„Und dann was?“ fragte Anka. „Sind wir ihnen zahlenmäßig gewachsen? Wenn es so einfach wäre, dann hätten wir das Reich schon vor Jahren besiegt.“

„Dank Berin sind unsere Waffen jetzt viel besser“, hob Edrin hervor. „Dank Sartes kennen wir ihre Pläne. Wir haben einen Vorteil! Sag es ihr, Berin. Erzähl ihr von den Klingen, die du angefertigt hast.“

Sartes blickte sich zu seinem Vater um, der mit den Schultern zuckte.

„Es stimmt, ich habe gute Schwerter geschmiedet. Hinzu kommen noch zahlreiche passable Schwerter, die die anderen geschmiedet haben. Es ist wahr, dass einige von euch Rüstung haben werden und nicht einfach niedergemetzelt werden können. Aber ich sage euch eines, ein gutes Schwert alleine genügt nicht. Wichtiger ist die Hand, die es führt. Eine Armee ist wie eine Klinge. Sie kann groß sein, doch ohne im Kern aus gutem Stahl gemacht, wird sie im ersten Moment ihrer Erprobung brechen.“

Vielleicht hätten die anderen besser verstanden, wie ernst es seinem Vater war, wenn sie selbst einmal versucht hätten, ein Schwert zu schmieden. So konnte Sartes sehen, dass seine Worte sie nicht überzeugt hatten.

„Was können wir sonst noch tun?“ fragte Edrin. „Wir dürfen unseren Vorteil nicht einfach verstreichen lassen und uns zurücklehnen und warten. Ich würde vorschlagen, dass wir eine Liste mit allen den Dörfern aufstellen, die wir befreien können. Außer du hast einen besseren Vorschlag, Anka?“

„Ich habe einen“, sagte Sartes.

Seine Stimme war leiser als er gewollt hatte. Er trat mit klopfendem Herzen und noch immer überrascht, dass er es gewagt hatte zu sprechen, nach vorne. Ihm war bewusst, dass er wesentlich jünger war als alle anderen hier. Er hatte seinen Teil zur Schlacht beigetragen, sogar einen Mann getötet, und doch riet ihm noch immer ein Teil seiner Selbst besser zu schweigen.

„Es ist also ausgemacht“, begann Hannah. „Wir – “

„Ich sagte, ich habe eine bessere Idee“, sagte Sartes dieses Mal mit fester Stimme.

Die anderen blickten zu ihm.

„Hört, was mein Sohn zu sagen hat“, sagte sein Vater. „Ihr habt selbst gesagt, dass er dazu beigetragen hat, den Sieg zu erringen. Vielleicht hat er auch dieses Mal die rettende Lösung.“

„Was für eine Idee hast du, Sartes?“ fragte Anka.

Alle Blicke richteten sich auf ihn. Sartes musste sich zwingen, mit fester Stimme zu sprechen. Er stellte sich vor, wie Ceres zu ihnen gesprochen hätte und welches Selbstbewusstsein Anka zuvor an den Tag gelegt hatte.

„Wir können nicht in die Dörfer gehen“, sagte Sartes. „Genau damit würden sie rechnen. Und wir können uns nicht allein auf die Karten verlassen, die ich mitgebracht habe, denn selbst wenn sie noch nicht wissen, dass wir ihre Bewegungen kennen, so werden sie es doch bald. Sie versuchen uns in die Falle zu locken.“

„Das wissen wir bereits“, sagte Jerald. „Ich dachte, du hättest einen Plan.“

Sartes gab nicht auf.

„Was wäre, wenn es eine Möglichkeit gäbe, das Reich dort zu treffen, wo sie es am wenigsten erwarteten und wir obendrein noch ein paar gute Kämpfer für unsere Sache gewinnen könnten? Was wäre, wenn wir die Menschen für einen symbolischen Sieg, der größer wäre als der Schutz eines einzelnen Dorfes, mobilisieren könnten?“

„Woran hast du gedacht?“ fragte Anka.

„Wir befreien die Kampfherren aus dem Stadion“, sagte Sartes.

Eine lange, fassungslose Stille folgte. Die anderen starrten ihn an. Er konnte den Zweifel in ihren Gesichtern sehen und Sartes wusste, dass er weitersprechen musste.

„Denkt nach“, sagte er. „Fast alle Kampfherren sind Sklaven. Der Adel benutzt sie als wären sie ihr Spielzeug. Viele von ihnen wären dankbar, wenn man ihnen einen Ausweg anbieten würde und sie können besser kämpfen als jeder Soldat.“

„Das ist krank“, sagte Hannah. „Das Herz der Stadt so anzugreifen. Überall wären Wachen.“

„Mir gefällt die Idee“, sagte Anka.

Die anderen blickten zu ihr und Sartes spürte Dankbarkeit für ihren Rückhalt.

„Damit würden sie nicht rechnen“, fügte sie hinzu.

Wieder breitete sich Schweigen im Raum aus.

„Wir bräuchten keine Söldner“, stimmte Jerald schließlich zu während er sich das Kinn rieb.

„Die Menschen würden nicht aufbegehren“, setzte Edrin hinzu.

„Wir müssten warten bis die Tötungen wieder beginnen“, hob Oreth hervor. „Dann wären alle Kampfherren an einem Ort und es gäbe genug Menschen, die zusähen.“

„Vor dem Blutmondfestival wird es keine weiteren Tötungen geben“, sagte sein Vater. „Sechs Wochen. In sechs Wochen kann ich jede Menge Waffen schmieden.“

Dieses Mal war es Hannah, die schwieg, vielleicht weil sie merkte, dass sich das Blatt wendete.

„Wir sind uns also einig?“ fragte Anka. „Wir befreien die Kampfherren während des Blutmondfestivals?“

Sartes sah, wie einer nach dem anderen nickte. Selbst Hannah stimmte schließlich zu. Er spürte die Hand seines Vaters auf seiner Schulter. Er sah die Anerkennung in seinen Augen und die bedeutete ihm alles.

Er betete, dass sein Plan sie nun nicht alle das Leben kosten würde.

KAPITEL DREI

Ceres träumte und in ihren Träumen sah sie Armeen einander bekämpfen. Sie sah sich selbst in einer in der Sonne glänzenden Rüstung gekleidet an ihrer Spitze kämpfen. Sie sah sich selbst eine große Nation anführen und einen Krieg kämpfen, der das Schicksal der Menschheit bestimmen würde.

Doch sah sie auch, wie sie währenddessen die Augen zusammenkniff und nach ihrer Mutter suchte. Sie griff nach einem Schwert und blickte hinab, um zu erkennen, dass es dort keines gab.

Ceres schreckte auf. Es war Nacht und die endlose See vor ihr schimmerte im Mondlicht. Während sie in ihrem kleinen Boot dahintrieb, konnte sie kein Land erkennen. Nur die Sterne boten ihr die Gewissheit mit ihrem kleinen Gefährt auf dem richtigen Kurs zu sein.

Die vertrauten Sternkonstellationen schienen über ihr. Dort stand der Drachenschwanz am Himmel unter dem Mond, dort das Alte Auge, das sich in der Dunkelheit um einen der hellsten Sterne formierte. Das Schiff welches das Waldvolk halb gebaut, halb herangezogen hatte, schien nicht von dem von Ceres gewählten Kurs abzuweichen, selbst wenn sie sich ausruhte oder aß.

Hinter der Steuerbordseite des Bootes konnte Ceres im Wasser Lichter sehen. Leuchtquallen schwammen wie Unterwasserwolken an ihr vorüber. Ceres sah unter ihnen den Schatten einiger Fische die wie Dartpfeile durch den Schwarm hindurchschossen, nach den Quallen schnappend huschten sie schnell davon bevor einer der Tentakel sie erwischen konnte. Ceres sah ihnen nach bis sie die Tiefen vollkommen verschluckt hatten.

Sie aß eine der süßen Kakteenfrüchte, mit denen die Inselbewohner ihr Boot beladen hatte. Als sie sich auf die Reise begeben hatte, war es ihr so vorgekommen, als würde der Vorrat viele Wochen reichen. Jetzt sah es allerdings anders aus. Sie musste an den Anführer des Waldvolkes denken. Auf seine eigene asymmetrische Art war es so gutaussehend gewesen mit seiner Haut, die der Fluch mit Stellen rauer Rinde und grünem Moos überzogen hatte. War er jetzt auf der Insel, spielte seine sonderbare Musik und dachte an sie?

Über dem Wasser um sie zog Nebel auf. Noch immer drangen Strahlen des Mondlichts durch die dicker werdende Nebelwand, die ihr den Blick in den Himmel über ihr versperrte. Er wirbelte und waberte über das Boot hinweg und schien wie Finger nach ihr zu greifen. Die Gedanken an Eoin führten sie unweigerlich zu Thanos. Thanos der an den Ufern von Haylon getötet worden war bevor Ceres ihm sagen konnte, dass sie die Dinge, die sie ihm vorgeworfen hatte, bevor er aufgebrochen war, nicht so gemeint hatte. Hier auf dem Boot und so ganz allein kam Ceres nicht umhin, sich einzugestehen, wie sehr sie ihn vermisste. Die Liebe, die sie für ihn empfunden hatte, zog sie wie ein Band zurück nach Delos, auch wenn Thanos dort nicht mehr war.

Der Gedanke an Thanos schmerzte sie. Die Erinnerung klaffte wie eine offene Wunde, die sich nie wieder vollends schließen würde. So viele unerledigte Dinge lagen vor ihr, doch nichts davon würde Thanos zurückbringen. Sie hätte ihm noch so vieles sagen wollen, wenn er noch da gewesen wäre, doch das war er nicht mehr. Jetzt gab es nur noch die Leere des Nebels.

Der Nebel umströmte noch immer das Boot und jetzt konnte Ceres die Spitzen von Felsen aus dem Wasser ragen sehen. Einige der Felsen waren aus klingenscharfem schwarzen Basalt während andere in den Farben des Regenbogens inmitten des Ozeanblaus schimmerten und wie riesige Edelsteine aussahen. Auf einigen prangten verschnörkelte Zeichen und Ceres war sich nicht sicher, ob sie natürlich oder vor langer Zeit in den Stein gemeißelt worden waren.

Würde ihre Mutter irgendwo jenseits der Felsen auf sie warten?

Bei diesem Gedanken machte sich Aufregung in Ceres breit. Sie stieg in ihr auf wie der Nebel, der um das Boot floss. Sie würde ihre Mutter sehen. Ihre wahre Mutter, nicht diejenige, die sie gehasst hatte und die sie bei erster Gelegenheit an einen Sklavenhalter verkauft hatte. Ceres hatte keine Ahnung, wie diese Frau sein würde, doch allein die Chance sie kennenzulernen erfüllte sie mit großer Vorfreude, während sie das kleine Boot an den Felsen vorbeisteuerte.

Starke Stromschnellen zogen an dem Boot und drohten ihr das Ruder aus der Hand zu reißen. Wenn sie nicht auf die Stärke in ihr hätte trauen können, dann wäre sich Ceres nicht sicher gewesen, ob sie das Ruder hätte halten können. Sie zog das Ruder zur Seite und ihr kleines Boot fügte sich beinahe anmutig und glitt so nah an den Felsen vorbei, dass sie sie beinahe hätte berühren können.

Sie segelte weiter durch die Felsenlandschaft hindurch und sie spürte, dass sie mit jedem Stein, an dem sie vorbeikam, ihrer Mutter näherkam. Was für eine Frau war sie? In ihrer Vision hatte sie sie nur verschwommen wahrgenommen, doch Ceres hegte eine ahnungsvolle Hoffnung. Vielleicht war sie herzlich und sanft und liebevoll; all das, was ihre angebliche Mutter in Delos nicht gewesen war.

Was würde ihre Mutter von ihr halten? Dieser Gedanke beschäftigte Ceres als sie das Boot weiter durch den Nebel steuerte. Sie wusste nicht, was da vor ihr lag. Vielleicht würde ihre Mutter sie ansehen und in ihr nur die Person sehen, die nicht in der Lage gewesen war, im Stadion zu siegen, die im Reich nichts als eine Sklavin gewesen war und die den Menschen, den sie am meisten geliebt hatte, verloren hatte. Was würde, wenn ihre Mutter sie zurückwies? Was wenn sie kalt oder grausam oder vergebungslos war?

Oder vielleicht aber nur vielleicht würde sie auch stolz auf sie sein.

Ceres durchbrach die Nebelwand so plötzlich als würde ein Schleier gelüftet. Jetzt lag die See ruhig und ohne die aus dem Wasser ragenden Felsen vor ihr. Sofort konnte sie sehen, dass sich etwas verändert hatte. Das Licht des Mondes erschien ihr jetzt irgendwie heller und um sie türmten sich farbenfrohe Nebelstreifen in der Nacht. Selbst die Sterne schienen verändert, sodass Ceres sich nicht wie zuvor an den vertrauten Konstellationen der Gestirne orientieren konnte. Ein Komet zog seine Bahn über den Horizont, sein feuriges Rot gemischt mit Gelb und anderen Farben schienen nicht von dieser Welt.

Noch seltsamer war die Kraft, deren Puls Ceres in sich spürte, so als würde sie auf die neue Umgebung reagieren. Sie schien sich in ihr auszubreiten, sich zu öffnen und ihr diesen neuen Ort auf hundert neue, nie zuvor erfahrene Wege zu erschließen.

Ceres sah, wie sich aus dem Wasser eine Gestalt erhob, ein langer Serpentinenhals tauchte auf und verschwand mit einem Platschen und unter Wasserspritzern gleich wieder in den Wogen. Noch einmal erschien die Kreatur kurz und Ceres hatte den Eindruck, dass etwas Gigantisches an ihr im Wasser vorbeischwamm. Dann war es fort. Im Mondlicht flatterten Wesen, die wie Vögel aussahen, und erst als Ceres näher kam, sah sie, dass es silberne Motten waren, größer als ihr Kopf.

 

Plötzlich befiel ein schwerer Schlaf ihre Lider und Ceres schob den Ruderstock zur Seite, legte sich nieder und ließ sich vom Schlaf entführen.

***

Ceres erwachte vom Vogelgezänk. Das Sonnenlicht blendete sie und sie setzte sich auf. Sie sah, dass es gar keine Vögeln waren. Zwei Kreaturen mit katzengleichen Körpern zogen wie Adler über ihr ihre Bahnen. Ihre Raubtierschnäbel waren zum Schreien geöffnet. Doch schienen sie sich nicht zu nähern, umkreisten nur das Boot und flogen schließlich davon.

Ceres’ Blick folgte ihnen und fiel am Ende des Horizonts auf einen kleinen Fleck, eine Insel, auf die sie zuflogen. Ceres setzte so schnell sie konnte wieder das kleine Segel und versuchte so den Wind zu fangen, der blies und sie in Richtung der Insel tragen würde.

Der Fleck wurde größer und etwas, das erneut nach Felsen aussah, ragte immer größer werdend aus dem Ozean je näher Ceres kam. Doch diese Felsen waren anders als diejenigen, auf die sie zuvor im Nebel gestoßen war. Diese waren quaderförmig und aus regenbogenfarbigem Marmor gefertigt. Einige sahen aus wir die Türme von großen schon lange von den Wellen verschluckten Gebäuden.

Ein halber Steinbogen ragte aus dem Wasser. Er war so riesig, dass Ceres sich die unter Wasser liegenden Gesamtausmaße des Gebäudes kaum vorstellen konnte. Sie blickte über den Rand ihres Bootes und das Wasser war so klar, dass sie bis auf den Grund sehen konnte. Es war nicht besonders tief und Ceres konnte die Überreste eines alten Gebäudes dort unten ausmachen. Sie waren so nah, dass sie mit angehaltenem Atem zu ihnen hinab hätte schwimmen können. Dass sie es nicht tat, lag zum einen an dem was dort im Wasser lauerte und an dem was dort vor ihr lag.

Hier lag sie. Die Insel auf der sie Antworten bekommen würde, auf der sie mehr über ihre Kräfte lernen würde.

Wo sie endlich ihre Mutter treffen würde.