Meer Der Schilde

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Aus der Reihe: Ring der Zauberei #10
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KAPITEL DREI

Reece lief Seite an Seite neben Stara her, immer wieder berührten sich wie zufällig ihre Hände, doch sie gingen nicht Hand in Hand. Sie liefen durch die endlosen, bunten Blumenwiesen hoch oben in den Bergen, von wo aus man einen wunderschönen Ausblick über die Oberen Inseln hatte. Sie wanderten stumm. Reece wurde von widersprüchlichen Gefühlen überwältigt und wusste nicht, was er sagen sollte.

Reece dachte an jenen schicksalhaften Augenblick zurück, als sich ihre Blicke am Bergsee gekreuzt hatten. Er hatte seine Entourage fortgeschickt – er brauchte Zeit allein mit ihr. Sie hatten die beiden nur widerwillig allein gelassen – besonders Matus, der ihre Geschichte nur zu gut kannte, doch Reece hatte darauf bestanden. Stara war wie ein Magnet, der Reece anzog, und er wollte niemand anderen um sich haben. Er brauchte Zeit, um mit ihr zu sprechen, zu verstehen, warum sie ihn mit demselben liebevollen Blick ansah, den auch er für sie hatte; zu verstehen, ob all das real war, und was mit ihnen geschah.

Reeces Herz pochte, während sie weiterliefen, und er war nicht sicher, was er als nächstes tun oder sagen sollte. Sein Verstand schrie ihn an, sich umzudrehen und davonzulaufen, so viel Abstand wie möglich zwischen sich und Stara zu bringen, das nächste Schiff zurück zum Festland zu nehmen, und nie wieder an sie zu denken. Er sollte nach Hause zurückkehren, wo seine künftige Gemahlin treu auf ihn wartete. Schließlich liebte Selese ihn, und er liebte sie. Und ihre Hochzeit war nur noch wenige Tage entfernt.

Reece wusste, dass dies die kluge Entscheidung gewesen wäre. Die richtige Entscheidung.

Doch sein Verstand wurde überwältigt von einer Welle von Gefühlen, von einer Leidenschaft, die er nicht beeinflussen konnte, die sich der Kontrolle seines rationalen Verstandes widersetzte. Die Leidenschaft zwang ihn, an Staras Seite zu bleiben, mit ihr durch diese Felder zu wandern. Es war der unkontrollierbare Teil seiner selbst, den er nie verstanden hatte, der ihn sein ganzes Leben lang angetrieben hatte, überstürzte Entscheidungen zu treffen und seinem Herzen zu folgen. Er hatte ihn nicht immer die besten Entscheidungen treffen lassen. Doch Reeces leidenschaftliche Seite war stark, und er konnte sie nicht immer kontrollieren.

Während er neben Stara her ging, fragte er sich, ob sie genauso fühlte wie er. Die Rückseite ihrer Hand streifte immer wieder seine, und er glaubte, ein leises Lächeln auf ihren Lippen zu sehen. Doch er konnte sie schlecht lesen – das war schon immer so gewesen. Das erste Mal, als er ihr begegnet war – sie waren noch kleine Kinder gewesen – war er wie vom Donner gerührt dagestanden und hatte tagelang an nichts anderes mehr denken können.

Da war etwas in ihren fast durchscheinenden Augen, etwas in ihrer Haltung, so stolz und edel, wie ein Wolf, der ihn ansah, das hypnotisierend auf ihn wirkte.

Als Kinder hatten sie gewusst, dass eine Beziehung unter Verwandten verboten war. Doch das hatte ihnen nie wirklich etwas ausgemacht. Zwischen Ihnen gab es etwas, etwas, das so stark war, zu stark, das sie gegenseitig anzog, egal, was die Welt darüber dachte. Sie hatten als Kinder zusammen gespielt, waren sofort beste Freunde geworden und hatten ihre Gegenwart der ihrer anderen Cousins und Cousinen bevorzugt. Wann immer er die Oberen Inseln besuchte, verbrachte er jeden Augenblick mit ihre; sie hatte seine Gefühle erwidert und hatte schon Tage vor seiner Ankunft am Ufer auf sein Schiff gewartet.

Zuerst waren sie nur gute Freunde gewesen. Doch als sie älter wurden, hatte sich in einer schicksalhaften Nacht alles geändert. Obwohl es verboten war, war ihre Freundschaft zu etwas Stärkerem geworden, und keiner von ihnen war in der Lage gewesen, zu widerstehen.

Reece hatte die Oberen Inseln zwar wieder verlassen, war jedoch stets in seinen Träumen bei ihr, abgelenkt bis zur Schwermut und monatelang von Schlaflosigkeit geplagt. Jede Nacht, wenn er sich zum Schlafen hinlegte, sah er ihr Gesicht und wünschte sich, dass weder der Ozean noch die Familie zwischen ihnen stehen würden.

Reece wusste, dass sie das gleiche spürte; er hatte zahllose Briefe von ihr erhalten, in der sie ihre Liebe zu ihm in Worte gefasst, zu ihm über das Meer gebracht von einem Heer von Falken. Er hatte zurückgeschrieben, doch seine Worte waren nicht so geschliffen gewesen wie ihre.

Der Tag, an dem es zum Bruch zwischen ihren Familien gekommen war, war einer der schlimmsten Tage in Reeces Leben gewesen. Es war der Tag, an dem Tirus ältester Sohn gestorben war, vergiftet mit dem Gift, das Tirus für Reeces Vater vorgesehen hatte. Doch trotzdem hatte Tirus König MacGil die Schuld gegeben. Das bedeutete den endgültigen Bruch und brach Reeces – und Staras – Herz. Sein Vater war genauso mächtig wie Staras, und beide hatten ihnen verboten, mit den anderen MacGils zu kommunizieren. Sie waren nie wieder auf die Oberen Inseln gereist, und Reece hatte nächtelang gelitten, wachgelegen, geträumt und gehofft, dass er Stara wiedersehen könnte. Von ihren Briefen wusste er, dass sie genauso fühlte.

Doch eines Tages kamen keine Briefe mehr. Reece hatte den Verdacht, dass sie irgendwie abgefangen worden waren, doch er wusste es nie sicher. Er hatte den Verdacht, dass seine Briefe sie auch nicht mehr erreichten. Nach einer Weile musste Reece die schmerzvolle Entscheidung treffen, die Gedanken an sie aus seinem Herzen zu verdrängen.

Die Erinnerung an Staras Gesicht flackerte zu den seltsamsten Zeiten auf, und er hatte nie aufgehört sich zu fragen, was aus ihm geworden war. Dachte sie auch immer noch an ihn? Hatte sie einen anderen geheiratet?

Sie heute wiederzusehen, hatte alles zurückgebracht. Reece erkannte, wie sehr die Wunde in seinem Herzen noch immer brannte, gerade so, als hätte er sie gerade eben erst verlassen. Sie war älter, weiblicher, eine noch schönere Version ihrer selbst, wenn das überhaupt möglich war. Sie war eine Frau. Und ihr Blick war noch hypnotisierender, als er es zuvor gewesen war. In ihrem Blick sah Reece ihre Liebe und er fühlte sich besser zu wissen, dass auch sie noch dieselben Gefühle für ihn empfand wie er für sie.

Reece wollte an Selese denken. Soviel schuldete er ihr. Doch so sehr er sich auch bemühte, es gelang ihm nicht.

Reece wanderte mit Stara über den Bergrücken, beide schwiegen, keiner von ihnen wusste, was er sagen sollte. Wo sollten sie anfangen, die Leere der verlorenen Jahre zu füllen?

„Ich habe gehört, dass du bald heiraten wirst“, brach Stara schließlich das Schweigen.

Reece spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Der Gedanke an seine Hochzeit mit Selese hatte ihn immer mit einer Welle von Liebe und freudiger Erregung erfüllt; doch jetzt, wo Stara ihn daran erinnerte, fühlte er sich am Boden zerstört, als hätte er sie betrogen.

„Es tut mir leid“, antwortete Reece.

Er wusste nicht, was er sonst hätte sagen sollen. Er wollte sagen: Ich liebe sie nicht. Ich weiß nun, dass es ein Fehler war. Ich will alles ändern. Ich will stattdessen dich heiraten.

Doch er liebte Selese. Soviel musste er sich eingestehen. Es war eine andere Art von Liebe, wenn auch nicht so intensiv wie die, die er für Stara empfand. Reece war verwirrt. Er wusste nicht, was er denken oder fühlen sollte. Welche liebe war stärker? Gab es überhaupt so etwas wie eine Rangstelle, wenn es um Liebe ging? Wenn man jemanden liebt, sollte das dann nicht heißen, dass man denjenigen bedingungslos, ohne Wenn und Aber liebte?

„Liebst du sie?“, fragte Stara.

Reece holte tief Luft, fühlte sich gefangen in einem Sturm der Gefühle und wusste kaum, was er antworten sollte. Sie liefen für eine Weile stumm weiter. Währenddessen ordnete er seine Gedanken, bis er endlich antworten konnte.

„Ja“, sagte er mit Schmerz im Blick. „Ich liebe sie. Ich kann nicht lügen.“

Reece blieb stehen und ergriff zum ersten Mal Staras Hand.

Sie sah ihn an.

„Doch ich liebe dich auch“, fügte er hinzu.

Er sah, wie sich ihre Augen mit Hoffnung füllten.

„Liebst du mich mehr als sie?“, fragte sie leise, hoffnungsvoll.

Reece überlegte.

„Ich habe dich mein ganzes Leben lang geliebt“, sagte er schließlich. „Du wirst auf ewig das einzige Gesicht der Liebe sein, das ich kenne. Du bist für mich der Inbegriff von Liebe. Ich liebe Selese. Doch mit dir… ist es, als wärst du ein Teil von mir. Wie ich selbst. Wie etwas, ohne dass ich nicht leben kann.“

Stara lächelte. Sie hielt seine Hand und sie gingen mit einem Lächeln auf dem Gesicht weiter.

„Du hast keine Ahnung wie viele Nächte ich geweint habe, weil ich dich vermisst habe“, gab sie zu und wandte den Blick ab. „Ich habe dir meine Worte mit den Falken geschickt – doch mein Vater hat sie abgefangen. Nach dem Bruch konnte ich dich nicht mehr erreichen. Ich habe sogar ein oder zweimal versucht, mich auf ein Schiff zum Festland zu schleichen – doch sie haben mich erwischt.“

Reece war überwältigt all das zu hören. Er hatte keine Ahnung gehabt. Er hatte sich immer gefragt wie Stara nach dem Bruch ihrer Familien über ihn denken würde. Doch das zu hören, ließ ihn sich ihr nur noch näher fühlen. Er wusste nun, dass nicht nur er so fühlte. Er kam sich nicht mehr ganz so verrückt vor. Was zwischen ihnen war, war tatsächlich real./

„Und ich habe nie aufgehört, von dir zu träumen“, antwortete Reece.

Schließlich erreichten sie den Gipfel des Gebirgszugs, und sie blieben Seite an Seite stehen um den Ausblick über die Oberen Inseln zu genießen. Von diesem Punkt aus, konnte man unendlich weit sehen, über die Inselgruppe hinweg zum Ozean, den Nebel, der darüber hing, die Brandung, und hunderte von Schiffen der Königin, die entlang der Küste vor Anker lagen.

 

Sie standen eine Zeit lang still da, hielten einander an den Händen und genossen den Augenblick; genossen es, zusammen zu sein, endlich, nach all diesen Jahren und all diesen Menschen und Ereignissen, die das Schicksal ihnen in den Weg gestellt hatte, um sie voneinander fern zu halten.

„Endlich sind wir zusammen – und doch ironischerweise, bist du es nun der gebunden ist – deine Hochzeit ist in wenigen Tagen. Es scheint, als ob es uns bestimmt ist, dass immer etwas zwischen uns stehen soll.“

„Und doch bin ich heute hier“, antwortete Reece. „Vielleicht sagt uns das Schicksal ja damit etwas anderes?“

Sie drückte seine Hand, und Reece erwiderte die Geste. Während sie den Blick über das Meer schweifen ließen, pochte sein Herz, und er war so verwirrt wir nie zu vor. Sollte es etwa so sein? War es ihm vorherbestimmt gewesen, Stara hier zu begegnen, nur Tage vor seiner Hochzeit, um ihm davon abzuhalten, den Fehler zu begehen, jemand anderen zu heiraten? Hat das Schicksal sich nach all den Jahren doch dazu entschlossen, sie zusammen zu bringen?

Reece konnte das Gefühl nicht loswerden, dass dem so war. Er spürte, dass das Schicksal ihn hierher zu ihr geführt hatte, um ihm vor seiner Hochzeit eine letzte Chance zu gewähren.

„Was das Schicksal vereint, kann kein Mensch trennen“, sagte Stara.

Ihre Worte drangen tief in Reeces Gedanken ein und er sah in ihre hypnotischen Augen.

„So viele Geschehnisses unseres Lebens haben versucht uns voneinander fern zu halten“, sagte Stara. „Unsere Clans. Unsere Heimat. Ein Ozean. Die Zeit selbst… Doch nichts konnte uns je wirklich trennen. So viele Jahre sind vergangen, und unsere Liebe ist so stark wie eh und je. Ist es ein Zufall, dass du genau jetzt hierhergekommen bist, so kurz vor deiner Hochzeit? Das Schicksal spricht zu uns. Es ist noch nicht zu spät.“

Reece sah sie mit klopfendem Herzen an. Sie blickte mit ihren durchdringenden Augen zurück. Der Himmel über ihnen und der Ozean unter ihnen spiegelten sich darin, und ließen ihre Liebe zu ihm sichtbar werden. Er war verwirrter denn je, und konnte keinen klaren Gedanken fassen.

„Vielleicht sollte ich die Hochzeit absagen“, sagte er.

„Ich kann das nicht für dich entscheiden.“, antwortete sie. „Dein Herz muss das entscheiden.“

„Jetzt, in diesem Augenblick, sagt mein Herz mir, dass du diejenige bist, die ich liebe. Ich habe dich immer geliebt.“, sagte er.

Sie blickte ihm ernst in die Augen.

„Und ich habe nie einen anderen geliebt.“

Reece konnte nicht anders. Er lehnte sich vor und seine Lippen trafen auf ihre. Die Welt um ihn herum schien zu schmelzen, er fühlte sich von Wogen der Liebe getragen, als sie seinen Kuss erwiderte.

Sie küssten sich, bis sie nicht mehr atmen konnten, und Reece erkannte, dass er, auch wenn alles in ihm schrie und protestierte, niemals jemand anderen als Stara heiraten könnte.

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KAPITEL VIER

Gwendolyn stand auf einer goldenen Brücke. Sie hielt sich an der Brüstung fest und als sie über den Rand blickte, sah sie einen reißenden Fluss unter sich. Die Stromschnellen brüllten wütend und das Wasser schien zu steigen, während sie zusah. Sie konnte das Stieben des Wassers sogar von hier spüren.

„Gwendolyn meine Liebe!“

Gwen drehte sich um. Auf der anderen Seite, vielleicht sechs Meter entfernt, stand lächelnd Thorgrin, der die Hand nach ihr ausstreckte.

„Komm zu mir“, bat er sie. „Überquere den Fluss.“

Erleichtert ihn zu sehen, begann Gwen, auf ihn zuzulaufen – bis eine andere Stimme sie innehalten ließ.

„Mutter“, hörte sie eine leise Stimme sagen.

Gwendolyn fuhr herum und sah einen Jungen auf der anderen Seite stehen, vielleicht zehn Jahre alt. Er war groß, stolz, mit breiten Schultern, einem edlen Kinn, ausgeprägtem Kiefer und glitzernden grauen Augen. Wie sein Vater. Er trug eine schöne glänzende Rüstung aus einem Material, das sie nicht kannte, und trug die Waffen eines Kriegers am Gürtel. Sie konnte seine Macht von selbst von hier spüren. Eine unaufhaltsame Macht.

„Mutter ich brauche dich“, sagte er.

Der Junge streckte seine Hand aus und Gwendolyn ging auf ihn zu.

Gwendolyn blieb stehen. Sie blickte zwischen Thor und ihrem Sohn hin und her, die beide eine Hand ausgestreckt hatten und fühlte sich hin und her gerissen. Sie wusste nicht, wohin sie gehen sollte.

Plötzlich gab die Brücke unter ihr nach.

Gwendolyn schrie, als sie auf die Stromschnellen zu fiel. Das eiskalte Wasser umgab sie und zog sie immer wieder nach unten.

Keuchend nach Luft kam sie an die Oberfläche und sah, wie ihr Gemahl und ihr Sohn an den gegenüberliegenden Ufern standen und beide ihre Hände nach ihr ausstreckten. Beide brauchten sie.

„Thorgrin!“, schrie sie. „Mein Sohn!“

Gwendolyn wollte beide erreichen – doch bald spürte sie, wie sie über den Rand eines Wasserfalls gespült wurde. Sie schrie.

Gwendolyn erwachte schreiend.

Mit kaltem Schweiß bedeckt sah sie sich verwirrt um und überlegte, wo sie war.

Langsam erkannte sie, dass sie in einem Bett lag, in einer Kammer des Schlosses, die nur spärlich von ein paar Fackeln erleuchtet wurde. Sie blinzelte ein paarmal und versuchte, immer noch schwer atmend, zu verstehen, was geschehen war. Langsam erkannte sie, dass alles nur ein Traum gewesen war, ein furchtbarer Traum.

Als sich Gwendolyns Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah sie mehrere Diener, die im Raum herumstanden. Sie bemerkte, dass Illepra und Selese neben ihr standen und ihre Arme und Beine mit feuchten Tüchern abtupften. Selese wischte ihr sanft über die Stirn.

„Schhh“, beruhigte sie sie. „Es war nur ein Traum, Mylady.“

Gwendolyn spürte, wie sie ihre Hand drückte und sah sich um. Ihr Herz machte einen Sprung, als sie Thorgrin sah. Er kniete sich neben ihr Bett und hielt ihre Hand. Seine Augen strahlten vor Freude darüber, dass sie aufgewacht war.

„Meine Liebste!“, sagte er. „Es geht dir besser!“

Gwendolyn blinzelte. Sie versuchte zu erkennen wo sie war, warum sie im Bett lag, und was all diese Menschen hier wollten. Dann plötzlich, als sie versuchte, sich zu bewegen, spürte sie einen schrecklichen Schmerz in ihrem Bauch – und erinnerte sich.

„Mein Baby!“, rief sie, plötzlich aufgeregt. „Wo ist er? Ist er am Leben?“

Verzweifelt sah Gwendolyn von einem Gesicht zum anderen. Thor drückte ihren Arm und lächelte, und sie wusste, dass alles gut war. Sie fühlte ihre ganze Existenz in diesem einen Lächeln bestätigt.

„Ja er lebt“, antwortete Thor. „Wir müssen Gott dafür danken. Und Ralibar. Ralibar hat euch beide gerade noch rechtzeitig hierher gebracht.“

„Er ist vollkommen gesund“, fügte Selese, ebenfalls lächelnd, hinzu.

Plötzlich zerriss ein Schrei die Stille des Raumes und Gwendolyn sah sich um. Illepra trat mit einem Bündel im Arm vor.

Gwendolyn wurde von Erleichterung überwältigt, und brach in Tränen aus. Sie begann, hysterisch zu weinen als sie ihn sah. Sie war so erleichtert, dass die Freudentränen gar nicht mehr zu fließen aufhören wollten. Ihr Baby lebte. Sie lebte. Sie hatten es geschafft. Irgendwie hatten sie den furchtbaren Alptraum überstanden.

Nie zuvor in ihrem Leben war sie dankbarer gewesen.

Illepra beugte sich über sie und legte ihr das Baby in die Arme.

Gwendolyn setzte sich auf und betrachtete ihn. Sie fühlte sich wie neu geboren, als sie seine Haut berührte, sein Gewicht in ihren Armen spürte, seinen Geruch wahrnahm, sein Aussehen. Sie wiegte ihn und hielt ihn fest. Gwendolyn spürte eine allumfassende Liebe für ihn und war unglaublich dankbar. Sie konnte es kaum glauben; sie hatte ein Baby.

Sobald er in ihren Armen lag, hörte er auf zu schreien. Er wurde ruhig, wandte ihr sein winziges Gesicht zu, öffnete die Augen und sah sie direkt an.

Sie erschrak ein wenig, als sich ihre Blicke kreuzten. Das Baby hatte Thors Augen – graue, glitzernde Augen, die aus einer anderen Dimension zu kommen schienen. Es war, als würde er durch sie hindurch sehen. Während sie ihn betrachtete, hatte Gwendolyn das Gefühl, dass sie ihn aus einer anderen Zeit kannte. Aus der Ewigkeit.

In diesem Augenblick spürte Gwendolyn ein stärkeres Band zu ihm, als sie es je mit einem anderen Menschen gespürt hatte. Sie drückte ihn an sich und schwor, ihn niemals im Stich zu lassen. Sie würde für ihn durchs Feuer gehen.

„Er sieht aus wie du“, sagte Thor und lächelte, während er sich zu ihr hinunterbeugte und ihn betrachtete.

Gwendolyn lächelte und Tränen liefen ihr über das Gesicht. Sie war immer noch überwältigt von ihren Gefühlen. Sie war in ihrem Leben noch nie so glücklich gewesen. Das war alles, was sie sich immer gewünscht hatte: Mit Thorgrin und ihrem Kind zusammen zu sein.

„Er hat deine Augen“, antwortete sie.

„Alles was ihm jetzt noch fehlt ist ein Name“, stellte Thor fest.

„Vielleicht sollten wir ihn nach dir benennen“, schlug Gwendolyn vor.

Thor schüttelte entschieden den Kopf.

„Nein. Er ist dein Sohn. Er sieht aus wie du. Ein wahrer Krieger sollte den Geist seiner Mutter und die Fähigkeiten seines Vaters in sich tragen. Beides wird ihm gute Dienste leisten. Er wird meine Fähigkeiten haben, darum sollten wir ihn nach dir benennen.“

„Was schlägst du vor?“

Thor überlegte.

„Sein Name sollten deinem ähnlich sein. Gwendolyns Sohn sollte … Guwayne heißen.“

Gwen lächelte. Ihr gefiel der Klang des Namens sofort.

„Guwayne“, sagte sie. „Gefällt mir.“

Sie lächelte und drückte ihr Baby an sich.

„Guwayne“, sagte sie zu ihm.

Guwayne wandte ihr sein kleines Gesicht zu und öffnete seine Augen. Und als er wieder direkt in ihr Herz blickte, hätte sie schwören können, ein Lächeln auf seinen Lippen gesehen zu haben. Sie wusste, dass er dafür zu jung war, doch sie hatte ein Flackern gesehen, und sie war sich sicher, dass ihm der Name gefiel.

Selese beugte sich über Gwen, trug eine Salbe auf ihre Lippen auf und gab ihr etwas zu trinken, ein dickflüssiges, dunkelbraunes Gebräu. Gwendolyn fühlte sich sofort gestärkt. Sie hatte das Gefühl, dass sie langsam wieder zu sich kam.

„Wie lange sind wir schon hier?“, fragte sie.

„Du hast fast zwei Tage lang geschlafen, Mylady“, sagte Illepra. „Seit der großen Sonnenfinsternis.“

Gwendolyn schloss ihre Augen und erinnerte sich. Mit einem Mal fiel ihr alles wieder ein. Sie erinnerte sich an die Sonnenfinsternis, den Hagel, das Erdbeben… Sie hatte noch nie zuvor so etwas erlebt.

„Unser Baby bringt bedeutende Omen mit sich“, sagte Thor. „Das gesamte Königreich ist Zeuge der Ereignisse geworden. Man spricht überall von seiner Geburt.“

Während Gwen den Jungen fest in ihren Armen hielt spürte sie, wie sich eine Wärme in ihr ausbreitete, und ahnte, dass er etwas ganz besonderes war. Ihr ganzer Körper prickelte und sie wusste, dass er kein normales Kind war. Sie fragte sich, welche Kräfte in ihm schlummern mochten.

Sie sah Thor an und überlegte. War ihr Baby auch ein Druide?

„Warst du die ganze Zeit über hier?“, fragte sie Thor. Sie spürte, dass dem so war und war überwältigt von Dankbarkeit.

„Ja. Ich bin sofort gekommen, als ich es gehört habe. Außer letzter Nacht. Ich habe die Nacht am Sorgensee verbracht und für deine Genesung gebetet.“

Wieder brach Gwen in Tränen aus. Sie war nie in ihrem Leben zufriedener gewesen; Ihr Kind in den Armen zu halten ließ sie sich in einer Weise vollkommen fühlen, wie sie es nie für möglich gehalten hatte. Trotz allem musste Gwendolyn an den schicksalhaften Moment im Reich der Toten denken, als sie gezwungen worden war, eine Wahl zu treffen. Sie drückte Thors Hand und hielt das Baby fest. Sie wollte beide nah bei sich haben, wollte für immer mit beiden zusammen sein.

 

Doch sie wusste, dass einer von ihnen sterben musste. Sie weinte.

„Was ist los, meine Liebe?“, fragte Thor schließlich.

Gwendolyn schüttelte den Kopf. Sie konnte es ihm nicht sagen.

„Mach dir keine Sorgen“, sagte er. „Deine Mutter ist noch am Leben – falls das der Grund ist, weswegen du weinst.“

Plötzlich erinnerte Gwendolyn sich.

„Sie ist sehr krank“, fügte Thor hinzu. „Doch es ist noch Zeit, sie zu sehen.“

Gwendolyn wusste, dass sie gehen musste.

„Ich muss sie sehen“, sagte sie. „Bring mich bitte zu ihr.“

„Bist du sicher?“, fragte Selese.

„In deinem Zustand solltest du dich nicht bewegen“, fügte Illepra hinzu. „Die Geburt war alles andere als normal, und du musst dich erholen. Du hast Glück, dass du überhaupt am Leben bist!“

Gwendolyn schüttelte entschieden den Kopf.

„Ich will meine Mutter sehen, bevor sie stirbt. Bringt mich zu ihr. Sofort.“

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