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Arena Eins: Die Sklaventreiber

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Aus der Reihe: Trilogie Des Überlebens #1
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Ich gewinne die Kontrolle zurück, als der Sklaventreiber links abbiegt, auf die Fifth Avenue. Er hat noch etwa dreißig Meter Vorsprung, aber ich werde nicht aufgeben, wie ein Hund, der einem Knochen hinterherjagt. Ich hoffe nur, dass das Benzin reicht.

Ich bin verblüfft, was aus der Fifth Avenue geworden ist. Die berühmte Avenue, einst das Leuchtfeuer des Wohlstands und des Materialismus, ist jetzt wie alle anderen nur eine verlassene, zerfallene Hülle. Die Geschäfte sind geplündert, die Verkaufsräume zerstört. Riesige Unkräuter wachsen direkt in ihrer Mitte, so dass sie aussehen wie ein Sumpfgebiet. Zu meiner Rechten Bergdorf's, die Etagen komplett leer, keine Fenster mehr, wie ein Geisterhaus. Ich weiche Autowracks aus, und als auf die 57th Street treffen, entdecke ich, was einmal Tiffany's war. Dieser Ort, einst der Inbegriff von Schönheit, ist nur ein weiteres Spukhaus, wie alles andere auch. Nicht ein einziger Juwel ist in seinen leeren Fenstern übriggeblieben.

Ich trete aufs Gas, und wir überqueren die 55th, dann die 54th, dann die 53th Straße … Ich passiere eine Kathedrale, Saint Patrick's, auf meiner Linken, seine riesigen Gewölbetüren sind schon vor langer Zeit herausgerissen worden und liegen jetzt flach im Treppenhaus. Ich kann direkt in das offene Gebäude hineinsehen, direkt bis zu den Buntglasfenstern auf der anderen Seite.

Ich habe meinen Blick zu lange von der Straße genommen, und plötzlich biegt der Sklaventreiber scharf rechts in die 48th Street ab. Ich fahre zu schnell, und als ich versuche, die Kurve ebenfalls zu nehmen, mache ich eine 360°-Drehung. Glücklicherweise treffe ich nichts.

Ich folge ihm wieder, aber sein Trick hat ihm einen kleinen Vorsprung verschafft. Ich folge ihm über die 48th, Richtung Westen, quer durch die Stadt, vorbei an dem, was einmal das Rockefeller Center war. Ich erinnere mich, wie ich zur Weihnachtszeit mit Papa hergekommen bin, erinnere mich, als wie magisch ich diesen Ort empfunden habe. Ich kann nicht glauben, wie es jetzt aussieht: Überall Schutt, zerfallende Gebäude. Das Rock Center hat sich in ein riesiges Ödland verwandelt.

Wieder habe ich meinen Blick zu lange von der Straße genommen, und als ich zurückschaue, trete ich auf die Bremsen, aber es nicht mehr genug Zeit. Direkt vor mir liegt, auf der Seite, der riesige Rockefeller Weihnachtsbaum. Wir werden ihn treffen. Direkt vor dem Aufprall kann ich sehen, dass noch einige Lampen und Ornamente daran hängen. Der Baum ist braun, und ich frage mich, wie lange er hier gelegen hat.

Ich fahre mit 120 direkt hinein. Ich treffe ihn mit solcher Kraft, dass sich der ganze Baum im Schnee bewegt, und ich schiebe ihn weiter. Schließlich schaffe ich es, scharf nach rechts auszuweichen, um die schmale Spitze herumzukommen. Tausende von Kiefernadeln rieseln durch die klaffenden Löcher in unserem Dach. Das Blut, das noch auf unserer Windschutzscheibe klebt, wird noch weiter verschmiert. Ich kann mir nicht vorstellen, wie unser Auto inzwischen von außen aussieht.

Dieser Sklaventreiber kennt die Stadt zu gut: Dieser clevere Trick hat ihm einen weiteren Vorsprung verschafft, und jetzt ist er nicht mehr zu sehen. Aber ich sehe seine Spuren noch, sehe, dass er links auf die Sixth Avenue abgebogen ist. Ich folge ihm.

Die Sixth Avenue ist eine weitere Brache, die Straße voller verlassener Panzer und Humvees, die meisten kopfüber, bei allen fehlt alles, was irgendwie nützlich sein kann, einschließlich der Reifen. Ich weiche ihnen allen aus, als ich den Sklaventreiber wieder sehen kann. Zum millionsten Mal frage ich mich, wo er hinwollen kann. Fährt er nur kreuz und quer durch die Stadt, um mich abzuschütteln? Hat er ein Ziel vor Augen? Ich denke noch einmal nach, versuche mich zu erinnern, wo sich die Arena Eins befindet. Aber ich habe keine Ahnung. Bis heute war ich noch nicht einmal sicher, dass es sie wirklich gibt.

Er rast die Sixth hinunter und ich folge ihm, gewinne wieder an Geschwindigkeit. Als wir die 43rd kreuzen, erhasche ich zu meiner Linken einen Blick auf den Bryant Park und die Rückseite dessen, was einmal die New York Public Library war. Mein Mut schwindet. Ich habe dieses beeindruckende Gebäude geliebt. Jetzt ist das nur noch Schutt.

Der Sklaventreiber biegt scharf in die 42nd Street ab, und dieses Mal bin ich direkt hinter ihm. Wir schlittern beide etwas, dann fahren wir wieder geradeaus. Wir rasen die 42nd hinunter, Richtung Westen, und ich frage mich, ob er auf den West Side Highway will.

Die Straße öffnet sich, und wir sind am Times Square. Er rast auf den Platz und ich folge ihm auf die riesige Kreuzung. Ich erinnere mich, wie ich als Kind herkam und überwältigt war, von der schieren Größe des Platzes und von all den Menschen. Ich erinnere mich, wie schwindlig mich all die Lichter gemacht haben, die blinkenden Reklametafeln. Jetzt ist der Platz eine Ruine, wie alles andere auch. Natürlich funktioniert keines der Lichter mehr, und es ist kein einziger Mensch zu sehen. Die Reklametafeln, die einst so stolz hingen, baumeln jetzt entweder ziellos im Wind oder liegen falschherum auf der Straße unten. Riesige Unkräuter überwuchern die Kreuzung. In seiner Mitte, wo einst das Armee Recruiting Center stand, liegen jetzt ironischerweise die Überreste mehrerer Panzer, alle verbogen und gesprengt. Ich frage mich, welcher Kampf sich hier entsponnen hat.

Plötzlich biegt der Sklaventreiber scharf links ab, den Broadway hinunter. Ich folge ihm, und während ich das tue, bin ich schockiert über das, was ich vor mir sehe: eine riesige Betonmauer, wie die Mauer eines Gefängnisses, erhebt sich hoch in den Himmel, bewehrt mit Stacheldraht. Die Mauer erstreckt sich soweit, wie ich sehen kann, riegelt den Times Square von allem ab, was südlich von ihm liegt. Als wollte man etwas aussperren. In der Mauer befindet sich eine Öffnung, und der Sklaventreiber fährt direkt hindurch. Als er durch ist, schließt sich ein massives eisernes Tor hinter ihm und verschließt mir den Weg.

Ich trete auf die Bremsen, komme quietschend zum Stehen, bevor wir auf das Tor aufprallen. Dahinter fährt der Sklaventreiber weiter. Es ist zu spät. Ich habe sie verloren.

Ich kann es nicht glauben. Ich fühle mich wie betäubt. Da sitze ich, erfroren, in der Stille, und kann meinen Körper zittern fühlen, unser Auto hat das erste Mal seit Stunden angehalten. Das hatte ich nicht vorhergesehen. Ich frage mich, warum diese Mauer dort steht, warum sie einen Teil von Manhattan durch eine Mauer abtrennen würden. Wovor sie Schutz benötigen würden.

Und dann, einen Moment später, habe ich meine Antwort.

Ein unheimliches Geräusch erhebt sich um mich herum, das Geräusch von quietschendem Metall, und die Haare in meinem Nacken stellen sich auf. Leute erheben sich aus der Erde, tauchen aus Kanaldeckeln auf, aus allen Richtungen. Bioopfer. Auf dem ganzen Times Square. Sie sind ausgemergelt, in Lumpen gekleidet, und sehen verzweifelt aus. Die Psychos.

Sie existieren wirklich.

Sie erheben sich aus der Erde, überall um uns herum, und sie kommen direkt auf uns zu.

ZWÖLF

Bevor ich auch nur reagieren kann, fühle ich eine Bewegung hoch oben über uns und schaue nach oben. Hoch oben auf der Mauer stehen mehrere Sklaventreiber, die ihre schwarzen Gesichtsmasken tragen und Maschinengewehre halten. Sie zielen auf uns.

„FAHR!“, schreit Ben, außer sich.

Ich trete schon aufs Gas, will hier weg, als die ersten Schüsse fallen. Ein Kugelsturm regnet auf unser Auto, prallt vom Dach ab, vom Metall, vom Panzerglas. Ich bete nur, dass keine Kugeln durch die Löcher hereinkommen.

Gleichzeitig eilen die Psychos von allen Seiten auf uns zu. Einer von ihnen wirft eine Glasflasche mit einem brennenden Lappen auf uns. Der Molotow-Cocktail landet direkt vor unserem Auto, die Flammen steigen vor uns auf. Ich weiche gerade noch rechtzeitig auf, die Flammen berühren unser Auto nur an der Seite.

Noch einer kommt herangerannt und springt auf die Windschutzscheibe. Er hält sich fest und lässt nicht mehr los, sein Gesicht starrt mich durch das Glas an, nur wenige Zentimeter entfernt. Wieder weiche ich aus, schramme einen Poller, schüttle ihn ab.

Mehrere von ihnen springen auf die Motorhaube und auf den Kofferraum, beschweren uns. Ich beschleunige weiter, versuche, sie abzuschütteln, während wir auf der 42nd Street weiter Richtung Westen fahren.

Aber drei von ihnen schaffen es, sich weiter auf unserem Auto zu halten. Einer von ihnen schleift über den Zement, ein anderer kriecht die Motorhaube hoch. Er hält ein Brecheisen und will es auf die Windschutzscheibe schmettern.

Ich biege scharf linke auf die Eighth Avenue ab, und das bringt es. Alle drei fliegen vom Auto runter und rutschen durch den Schnee auf dem Boden.

Das war knapp. Zu knapp.

Ich rase die Eighth Avenue hinunter und entdecke eine weitere Öffnung in der Mauer. Mehrere Wachen, Sklaventreiber, stehen davor, und ich begreife, dass sie vielleicht nicht wissen, dass ich keiner von ihnen bin. Schließlich ist der Eingang am Times Square eine ganze Avenue entfernt. Wenn ich direkt darauf zufahre, selbstbewusst, dann werden sie vielleicht annehmen, dass ich einer von ihnen bin, und das Tor offen lassen.

Ich fahre also direkt darauf zu, werde schneller und schneller, der Abstand wird kleiner. Noch hundert Meter … Fünfzig … Dreißig … Ich rase auf die Öffnung zu, und noch ist das Tor offen. Jetzt gibt es kein Anhalten mehr. Wenn sie das Gitter herunterlassen, sind wir tot.

Ich reiße mich zusammen, Ben geht es nicht anders. Ich erwarte fast, dass wir verunglücken.

Aber einen Moment später sind wir durch. Wir haben es geschafft. Ich atme erleichtert aus.

Wir sind drin. Ich fahre jetzt 100, rase die Eighth Avenue hinunter, auf der falschen Richtung in der Einbahnstraße. Ich will gerade links abbiegen und versuchen, sie auf dem Broadway zu kriegen, als Ben sich plötzlich nach vorne lehnt und auf etwas zeigt.

 

„Da“, schreit er.

Ich blinzele, versuche zu erkennen, auf was er zeigt. Die Windschutzscheibe ist immer noch mit Blut und Nadeln bedeckt.

„DORT!“, schreit er wieder.

Ich schaue wieder in die Richtung, und dieses Mal sehe ich es: Dort, zehn Blocks vor uns. Eine Gruppe von Humvees, an der Penn Station geparkt. Ich sehe das Auto des Sklaventreibers, das ich verfolgt habe, dort ebenfalls geparkt, beschädigt, aber noch rauchend. Der Fahrer ist aus dem Auto raus, eilt die Stufen zur Penn Station hinunter, dabei zieht er Bree und Bens Bruder, beide in Handschellen und zusammengekettet, hinter sich her. Mein Herz macht einen Sprung bei ihrem Anblick.

Mein leerer Benzintank piept lauter als je zuvor, und ich beschleunige wieder. Ich muss nur noch diese paar Blocks schaffen. Komm schon. Komm schon!

Wir werden es irgendwie schaffen. Quietschend erreiche ich den Eingang, und ich will gerade schon anhalten und herausspringen, als mir klar wird, dass wir zu viel Zeit verloren haben. Es gibt nur einen Weg, wie wir sie kriegen können: Ich muss weiterfahren, direkt in die Penn Station hinein. Es ist eine steile, enge Treppe zum Eingang. Eine Treppe, die nicht für Autos gedacht ist, und ich frage mich, ob unseres es schaffen wird. Es wird schmerzhaft. Ich reiße mich zusammen.

„HALT DICH FEST!“, schreie ich.

Ich biege scharf links ab und beschleunige. Ich bin über 140. Ben hält sich wieder am Armaturenbrett fest, als ihm klar wird, was ich vorhabe. „FAHR LANGSAMER!“, schreit er.

Aber jetzt ist es zu spät. Wir werden von der Luft getragen, fliegen über den Treppenabsatz und fahren dann direkt die Steinstufen hinunter. Mein Körper wird so ruckartig durcheinandergeschüttelt, die Reifen prallen an jeder Stufe zurück, dass ich das Auto nicht mehr kontrollieren kann. Wir fliegen schneller und schneller, von unserer eigenen Dynamik getragen, und ich bereite mich darauf vor, dass wir direkt durch die Türen der Penn Station brechen. Sie fliegen aus ihren Angeln und das Nächste, was ich weiß, ist, dass wir drinnen sind.

Wir bekommen wieder Bodenhaftung und ich habe wieder die Kontrolle über das Auto, als wir zum ersten Mal wieder auf trockenem Boden fahren. Wir fahren eine weitere Treppe hinunter, quietschend. Es gibt einen enormen Aufprall, als wir auf dem Erdgeschoss aufprallen.

Wir sind in der riesigen Schalterhalle von Amtrak, und während ich durch der höhlenartigen Raum fahre, quietschen die Reifen, als ich versuche, das Auto wieder in eine Balance zu bekommen. Vor uns laufen Dutzende von Sklaventreibern herum. Sie drehen sich zu mir um, schockiert, ganz offensichtlich verstehen sie nicht, wie ein Auto hier unten hereinkommen konnte. Ich will ihnen keine Zeit geben, sich zu sammeln. Ich ziele direkt auf sie, wie auf Kegel.

Sie versuchen, aus dem Weg zu rennen, aber ich beschleunige und erwische mehrere von ihnen. Dumpf prallen sie auf unser Auto auf, verdrehte Körper fliegen über die Motorhaube.

Ich fahre weiter und in der Ferne sehe ich den Sklaventreiber, der meine Schwester entführt hat. Ich entdecke auch Bens Bruder, der gerade auf einen Zug verladen wird. Ich nehme an, Bree ist bereits drin.

„Das ist mein Bruder“, schreit Ben.

Die Zugtür schließt sich und ich beschleunige unser Auto ein letztes Mal, was das Zeug hält, ich fahre direkt auf den Sklaventreiber zu, der sie mir geraubt hat. Er steht da wie ein Reh in den Scheinwerfern, nachdem er gerade Bens Bruder in den Zug geschoben hat. Er starrt mich an, als ich näherkomme.

Ich fahre mit Wucht in hinein, drücke ihn gegen den Zug und teile ihn entzwei. Wir treffen mit 80 auf den Zug auf, und mein Kopf schlägt gegen das Armaturenbrett. Ich fühle es wie einen Peitschenschlag, als wir zum Stehen kommen.

Mein Kopf dreht sich, meine Ohren klingeln. Schwach kann ich die anderen Sklaventreiber hören, wie sie sich sammeln und mir nachjagen. Der Zug bewegt sich noch – wir haben ihn nicht einmal gebremst. Ben sitzt dort, bewusstlos. Ich frage mich, ob er tot ist.

Es erfordert eine übermenschliche Anstrengung, aber irgendwie komme ich aus dem Auto heraus.

Der Zug beschleunigt jetzt, und ich muss rennen, um ihn einzuholen. Ich renne neben dem Zug her und schließlich springe ich, kann einen Fuß auf eine Stufe bekommen und mich an einer Metallstange festhalten. Ich halte meinen Kopf in ein Fenster, suche nach Bree. Ich klettere an der Außenseite entlang, suche Fenster für Fenster ab, auf dem Weg zu einer Zugtür, um in den Zug zu gelangen.

Der Zug ist so schnell, ich kann den Wind in meinen Haaren spüren, während ich verzweifelt versuche, die Zugtür zu erreichen. Als ich nach vorne sehe, schwindet mir der Mut, wir fahren auf einen Tunnel zu. Dort ist kein Platz mehr. Wenn ich nicht bald reinkomme, werde ich an der Wand zerschmettert.

Schließlich schaffe ich es, ich bekomme den Türgriff zu fassen. Als ich sie gerade öffnen will, trifft mich ein entsetzlicher Schmerz auf die Seite meines Kopfes.

Ich fliege durch die Luft und lande hart auf meinem Rücken, auf dem Betonboden. Ich bin zehn Fuß gefallen, und meine Lebensgeister verlassen mich, als ich dort liege, und dem Zug nachsehe. Jemand muss mich geschlagen haben, mich von dem Zug heruntergeprügelt haben.

Ich schaue auf und sehe in das Gesicht eines bösartigen Sklaventreibers, der über mir steht und finster auf mich herabstarrt. Mehrere weitere Sklaventreiber eilen ebenfalls herüber. Sie schließen einen Kreis um mich. Mit mir ist es vorbei.

Aber es spielt keine Rolle mehr: Der Zug rast davon, und meine Schwester ist da drin.

Mein Leben ist schon vorbei.

TEIL III

DREIZEHN

Ich erwache in Schwärze. Ich bin so desorientiert, alles tut so weh, dass ich mich zuerst frage, ob ich tot oder lebendig bin. Ich liege mit dem Gesicht nach unten auf einem kalten Metallboden, in eine unnatürliche Position verdreht. Ich drehe mich um, langsam, lege meine Handflächen nach unten und versuche,  mich hochzuziehen.

Jede Bewegung tut weh. Es scheint keinen Teil in meinem Körper zu geben, der nicht schmerzt. Als ich langsam aufrecht sitze, fühlt sich mein Kopf an, als müsste er zerbrechen. Mir ist schwindelig, schlecht, schwach und hungrig zugleich. Ich habe seit mindestens einem Tag nichts gegessen. Mein Rachen ist ausgetrocknet. Ich fühle mich, als hätte man mich durch einen Mixer gepresst.

Ich sitze dort, mein Kopf dreht sich, aber schließlich begreife ich, dass ich nicht tot bin. Irgendwie bin ich immer noch am Leben.

Ich sehe mich in dem Raum um, versuche, mich zu orientieren und frage mich, wo ich bin. Es ist schwarz hier drin. Das einzige Licht fällt durch einen schmalen Schlitz unter einer Tür ein, irgendwo auf der anderen Seite des Raums. Das ist nicht genug, um irgendetwas sehen zu können.

Allmählich hebe ich mich auf ein Knie, halte meinen Kopf, versuche, die Schmerzen zu lindern. Schon diese kleine Bewegung führt dazu, dass die Welt sich wieder um mich dreht. Ich frage mich, ob ich unter Drogen gesetzt worden bin oder ob mir nur einfach von der endlosen Reihe von Verletzungen schwindlig ist, die mir in den letzten 24 Stunden zugefügt worden sind.

Mit höchster Anstrengung zwinge ich mich auf die Füße. Großer Fehler. Auf einmal kann ich Schmerz an mindestens einem Dutzend verschiedener Stellen fühlen: die Wunde in meinem Arm, meine gebrochenen Rippen, meine Stirn, wo sie gegen das Armaturenbrett geknallt ist, und die Seite meines Gesichtes. Ich fasse dort an und ertaste eine riesige Beule. Dort muss mich der Sklaventreiber getroffen habe.

Ich versuche, mich zu erinnern … Penn Station … Die Sklaventreiber überfahren … In den Zug hineinfahren … Hinter dem Zug hinterherrennen … Aufspringen … Und dann geschlagen werden … Ich blicke zurück und realisiere, dass Ben nicht bei mir war. Ich erinnere mich, dass er im Auto saß, bewusstlos. Ich frage mich, ob er den Zusammenstoß überhaupt überlebt hat.

„Ben?“ Ich rufe zögerlich in die Dunkelheit.

Ich warte, hoffe auf eine Antwort, hoffe, dass er vielleicht hier drin ist mit mir. Ich kneife die Augen zusammen, aber im Dunkeln kann ich nichts erkennen. Da ist nichts als Schweigen. Mein Gefühl der Angst wird tiefer.

Ich frage mich wieder, ob Bree in diesem Zug saß, und wo er hinfuhr. Ich erinnere mich, dass ich Bens Bruder darin gesehen habe, aber ich kann mich nicht daran erinnern, Bree tatsächlich gesehen zu haben. Ich bin überrascht, dass dieser Tage überhaupt noch irgendein Zug fährt. Bringen sie sie vielleicht in die Arena Eins?

Nichts davon spielt jetzt eine Rolle. Wer weiß, wie viele Stunden ich ausgeknockt war, wie viel Zeit ich verloren habe. Wer weiß, wo der Zug hingefahren ist, oder wie viele hunderte von Kilometern er bereits gewonnen hat. Es gibt keine Möglichkeit, sie noch einzuholen – vorausgesetzt, ich kann hier überhaupt entfliehen. Was ich bezweifle. Ich habe das Gefühl von Wut und Verzweiflung, als mir klar wird, dass es alles umsonst war. Jetzt kann es nur noch darum gehen, meine Strafe zu erwarten, meinen sicheren Tod, die Vergeltung, die die Sklaventreiber ausüben werden. Sie werden mich wahrscheinlich foltern und dann töten. Ich bete nur, dass es schnell vorbei sein wird.

Ich frage mich, ob es irgendeine Möglichkeit gibt, hier zu entfliehen. Ich versuche, ein paar zaghafte Schritte in die Schwärze zu gehen, strecke meine Hände vor mir aus. Jeder Schritt ist eine Höllenqual, mein Körper ist so erschöpft von Beschwerden und Schmerzen. Es ist kalt hier drin, und ich zittere. Schon seit Tagen war mir nicht mehr wirklich warm, und ich habe das Gefühl, ich habe Fieber. Selbst wenn ich durch einen Glücksfall einen Weg finde, zu entkommen, bezweifle ich, dass ich gut genug in Form bin, um allzu weit zu kommen.

Ich komme an eine Wand und fahre mit meinen Händen daran entlang, bewege mich weiter durch das Zimmer in Richtung Tür. Plötzlich höre ich ein Geräusch von draußen. Darauf folgt das Geräusch von Schritten, von mehreren Paaren Springerstiefeln, die auf Stahlböden marschieren. Ihr Echo ertönt ominös im Dunklen, als sie sich nähern.

Dann ein Rasseln von Schlüsseln, und meine Zellentür wird aufgestoßen. Licht durchflutet den Innenraum, und ich hebe meine Hände an meine Augen, geblendet.

Meine Augen haben sich noch nicht angepasst, aber ich sehe genug, um die Silhouetten von einigen Menschen im Eingang ausmachen zu können. Sie sind groß und muskulös und sehen beeindruckend aus in ihren Sklaventreiber-Uniformen mit schwarzen Gesichtsmasken.

Langsam senke ich meine Hände, als meine Augen sich an das Licht gewöhnt haben. Es sind fünf von ihnen. Der eine, der in der Mitte steht, streckt schweigend ein Paar geöffnete Handschellen aus. Er spricht und bewegt sich nicht, aber seine Geste sagt offensichtlich, dass ich dort hinübergehen und ihm erlauben soll, mir die Handschellen anlegen zu lassen. Offensichtlich warten sie darauf, mich irgendwo hinzubringen.

Schnell sehe ich mir meine Zelle an, die jetzt mit Licht durchflutet ist, und sehe, dass es ein schlichter Raum ist, zehn mal zehn Fuß, mit Stahlböden und -wänden und sonst nichts darin. Und ohne jegliche Fluchtmöglichkeit. Ich fahre mit meinen Händen an meiner Hüfte entlang und kann fühlen, dass mir mein Waffengürtel abgenommen worden ist. Ich bin wehrlos. Es hätte keinen Sinn, zu versuchen, sich diesen gut bewaffneten Soldaten zu widersetzen.

Ich wüsste nicht, was ich zu verlieren hätte, wenn ich ihnen erlauben würde, mir Handschellen anzulegen. Nicht, dass ich eine Wahl hätte. So oder so, das hier ist meine Fahrkarte nach draußen. Und wenn es die Fahrkarte in meinen Tod ist, werde ich es zumindest hinter mir haben.

Langsam gehe ich auf sie zu und drehe mich um. Sie schließen die kalten, metallenen Handschellen um meine Handgelenke, viel zu eng. Dann fassen sie mich von hinten, greifen mich an meinem Shirt, und stoßen mich in den Flur.

Ich stolpere den Gang hinunter, die Sklaventreiber direkt hinter mir, ihre Stiefel klingen wie die der Gestapo. Die Flure werden sporadisch von matten Notleuchten erhellt, alle zwanzig Meter etwa, sie bieten gerade genug Licht, dass man den Weg vor Augen sieht. Es ist ein langer, steriler Flur mit Metallböden und -wänden. Wieder werde ich gestoßen, und ich gehe schneller. Mein Körper protestiert bei jedem Schritt, aber je mehr ich gehe, desto mehr löst sich diese Steifigkeit.

Der Flur endet und ich habe keine andere Wahl, als rechts abzubiegen. In der Ferne öffnet er sich. Wieder werde ich gestoßen, als ich diesen neuen Korridor entlanggehe, und das Nächste, was ich weiß, ist, dass ich in einem riesigen, weiten Raum stehe, zusammen mit Hunderten von Sklaventreibern. Sie sind in ordentlichen Reihen entlang der Wände aufgereiht, sie formen einen Halbkreis, gekleidet in ihre schwarzen Uniformen und Gesichtsmasken. Wir müssen uns immer noch irgendwo unter der Erde aufhalten, weil ich keine Fenster oder Tageslicht sehe. Der dämmrige Raum wird nur von Fackeln an den Wänden erhellt, die in der Stille knacken.

 

In der Mitte des Raumes, auf der anderen Seite, steht, was ich nur als einen Thron beschreiben kann – ein riesiger Stuhl auf einer selbstgebauten Plattform. Auf diesem Stuhl sitzt ein einzelner Mann, ganz offensichtlich ihr Anführer. Er sieht jung aus, vielleicht ist einer in seinen Dreißigern, dennoch hat er einen weißen Haarschopf, der hoch- und in alle Richtungen absteht, wie bei einem verrückten Wissenschaftler. Er trägt eine elaborierte Uniform aus grünem Samt, mit militärischen Knöpfen und einem hohen Kragen, der seinen Hals einrahmt. Er hat große, graue, leblose Augen, die weit geöffnet sind und mich anstarren. Er sieht aus wie ein Verrückter.

Die Reihen der Sklaventreiber öffnen sich vor mir, und ich werde von hinten geschoben. Ich stolpere vorwärts, auf die Mitte des Saales hin, und werde so geführt, dass ich vor ihrem Anführer zum Stehen komme.

Ich stehe etwa zehn Meter entfernt, sehe zu ihm hoch, die Sklaventreiber halten hinter mir Wache. Und ich kann nicht umhin, mich zu fragen, ob sie mich auf der Stelle exekutieren werden. Schließlich habe ich viele von ihnen getötet. Ich suche den Raum nach einem Zeichen von Bree, Ben oder seinem Bruder ab. Da ist niemand. Ich bin allein.

Geduldig warte ich in der angespannten Stille, während der Anführer mich von oben bis unten anschaut. Ich kann nichts tun außer warten. Mein Schicksal liegt jetzt in den Händen von diesem Menschen, offenbar.

Er sieht mich an, als wäre ich ein Teil einer Beute, und dann, nach einem Zeitraum, der sich wie eine Ewigkeit anfühlt, überrascht er mich, indem er langsam beginnt, zu lächeln. Es ist eher ein höhnisches Lächeln, verdorben durch die riesige Narbe entlang seiner Wange. Er beginnt, zu lachen, lauter und lauter. Es ist das kälteste Geräusch, das ich je gehört habe, und es hallt in dem abgedunkelten Raum wider. Mit glitzernden Augen starrt er auf mich herab.

„Du bist das also“, sagt er schließlich. Seine Stimme ist unnatürlich rau und tief, als würde sie einem hundert Jahre alten Mann gehören.

Ich starre zurück, weil ich nicht weiß, was ich antworten soll.

Du bist also die, die solche Verwüstung unter meiner Männern angerichtet hat. Du bist die, die es geschafft hat, uns durch die ganze Stadt zu jagen. Durch MEINE Stadt. New York gehört jetzt mir. Wusstest Du das?“, fragt er. Plötzlich wird seine Stimme scharf vor Wut, seine Augen treten aus ihren Höhlen. Seine Arme zittern, als er sich an den Stuhl klammert. Er sieht aus, als wäre er gerade aus einer psychiatrischen Klinik ausgebrochen.

Wieder weiß ich nicht, was ich antworten soll, also schweige ich.

Langsam schüttelt er seinen Kopf.

„Einige andere haben es versucht – aber kein anderer hat es bisher geschafft, meine Stadt auch nur zu betreten. Geschweige denn, den ganzen Weg bis zu meinem Haus zu schaffen. Du wusstest, dass das Deinen sicheren Tod bedeutet. Und trotzdem bist Du gekommen.“ Er sieht mich von oben bis unten an.

„Ich mag Dich“, schließt er.

Als er mich so anstarrt, mich erfasst, fühle ich mich mehr und mehr unwohl. Ich bereite mich darauf vor, dass jetzt alles kommen kann.

„Und sieh Dich an“, fährt er fort. „Nur ein Mädchen. Ein dummes, junges Mädchen. Nicht einmal groß oder stark. Kaum irgendwelche Waffen, die der Rede wert wären. Wie kann es sein, dass Du so viele meiner Männer getötet hast?“

Er schüttelt seinen Kopf.

„Es ist, weil Du ein Herz hast. Das ist es, was wertvoll ist in dieser Welt. J, das ist es, was wertvoll ist. Plötzlich lacht er. „Aber natürlich hattest Du keinen Erfolg. Wie könntest Du? Das ist MEINE Stadt“, kreischt er, sein Körper schüttelt sich.

Er sitzt da, zitternd, es fühlt sich an wie eine Ewigkeit. Meine Befürchtung bestätigt sich. Ganz offensichtlich liegt mein Schicksal in den Händen eines Verrückten.

Schließlich räuspert er sich.

„Du hast einen starken Geist. Fast wie ich. Das bewundere ich. Das reicht, um Dich schnell töten zu wollen, anstatt langsam.“

Ich schlucke hart, weil sich das nicht gut anhört.

„Ja“, spricht er weiter, und starrt mich an. „Ich kann es in Deinen Augen sehen. Der Geist eines Kriegers. Ja, Du bist genau wie ich.“

Ich weiß nicht, was er in mir sieht, aber ich bete, dass ich nichts mit diesem Mann gemeinsam habe.

„Es ist schwierig, jemanden wie Dich zu finden. Nur wenige haben es geschafft, da draußen zu überleben, in all diesen Jahren. Nur wenige haben einen solchen Geist … Daher werde ich Dich, statt Dich zu exekutieren, wie Du es verdient hättest, belohnen. Ich werde Dir ein großes Geschenk machen. Das Geschenk des freien Willens. Eine Wahl.

Du kannst uns beitreten. Einer von uns werden. Ein Sklaventreiber. Du wirst allen Luxus haben, den Du Dir vorstellen kannst – mehr Essen, als Du Dir auch nur erträumen kannst. Du wirst eine Abteilung von Sklaventreibern leiten. Du kennst Dein Gebiet gut. Diese Berge. Ich kann Dich brauchen, ja. Du wirst Expeditionen leiten, alle verbliebenen Überlebenden fangen. Du wirst uns dabei unterstützen, unsere Armee zu vergrößern. Im Gegenzug schenke ich Dir das Leben. Ein Leben in Luxus.“

Er hält inne, starrt mich an, als würde er auf eine Antwort warten.

Natürlich macht der Gedanke mich krank. Ein Sklaventreiber. Ich kann mir nichts vorstellen, was ich mehr verabscheuen würde. Ich öffne meinen Mund, um zu antworten, aber zuerst ist mein Hals so verdorrt, dass nichts herauskommt. Ich räuspere mich.

„Und wenn ich mich weigere?“, frage ich. Es klingt sanfter, als ich will.

Seine Augen öffnen sich weit vor Überraschung.

„Weigere?“, echot er. „Dann wirst Du in der Arena sterben. Du wirst einen qualvollen Tod sterben, zu unser alle Vergnügen. Das ist Deine andere Option.“

Ich denke angestrengt nach, zermartere mir den Kopf, versuche, mehr Zeit zu kaufen. Auf keinen Fall werde ich seinen Vorschlag jemals akzeptieren – aber ich muss mir einen Ausweg überlegen.

„Und was ist mit meiner Schwester?“, frage ich.

Er lehnt sich zurück und lächelt.

„Wenn Du bei uns dabei ist, werde ich sie freilassen. Es steht ihr frei, in die Wildnis zurückkehren. Wenn Du Dich weigerst, wird sie natürlich auch getötet.“

Mein Herz klopft bei dem Gedanken. Bree lebt noch. Angenommen, er sagt die Wahrheit.

Ich denke angestrengt nach. Würde Bree wollen, dass ich ein Sklaventreiber werde, wenn es bedeutete, ihr Leben zu retten? Würde sie nicht. Bree würde nie dafür verantwortlich sein wollen, dass ich andere junge Mädchen und Jungen entführte, ihnen ihre Leben stahl. Ich würde alles tun, um sie zu retten. Aber hier muss ich die Grenze ziehen.

„Du wirst mich töten müssen“, antworte ich schließlich. „Auf gar keinen Fall könnte ich jemals ein Sklaventreiber sein.“

Durch die Menge geht ein Raunen, ihr Anführer steht auf und schlägt seine Handfläche auf seine Armlehne. Sofort wird es still im Saal.

Er steht auf und sieht mich an.

„Ich werde Dich töten“, knurrt er. „Und ich werde in der ersten Reihe sitzen, um zuzusehen.“