Buch lesen: «Die Argonauten auf Long Island»

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Monika Plessner

Die Argonauten

auf Long Island


Als Monika Plessner 1951 ihren späteren Mann, den Philosophen und Soziologen Helmuth Plessner, kennenlernte – mit seinem viel zitierten im Exil entstandenen Buch „Die verspätete Nation“ bekam sein Name publizistische Verbreitung – tauchte sie in eine ihr bis dahin unbekannte Welt ein. Ihre Aufzeichnungen vergegenwärtigen die Welt des deutschen Exils: von Hannah Arendt bis Gershom Scholem, von Adorno bis Kracauer, von Löwith bis Horkheimer.

Thomas Karlauf betreute in den neunziger Jahren die Erstveröffentlichung dieser Erinnerungen und Detlev Claussen schrieb für die Neuausgabe ein Nachwort, welches den ideengeschichtlichen Kontext beleuchtet. Unvergessen bleibt ein Abend bei Adornos 1952, bei dem auch die Suhrkamps und Gershom Scholem eintreffen. Monika Plessner beobachtet genau, bemüht sich nicht, ihre Eindrücke nach Kriterien von Pietät und Gerechtigkeit zu ordnen, und auf diese Weise entstehen Bilder in ­kräftigen Farben.

Monika Plessner (1913–2008), Studium der Kunst- und Literaturwissenschaft, war nach dem Krieg in der Erwachsenbildung tätig. In den Jahren 1952/53 Assistentin am Frankfurter Institut für Sozialforschung.

Monika Plessner

Die Argonauten

auf Long Island

Mit einem Nachwort

von Detlev Claussen

CEP Europäische Verlagsanstalt

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Mittelbildes aus dem Triptychon

„Argonauten“ von Max Beckmann, 1950

© VG Bild-Kunst, Bonn 2015

© ebook-Ausgabe CEP Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2015

Neuausgabe mit einem Nachwort von Detlev Claussen

Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa« (1945)

ISBN 978-3-86393-533-7

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Inhalt

Vorwort

Ein neuer Tag

Der sechzigste Geburtstag

Mijnheer Jasper

Ein Abend bei Adornos

Gruppenbild mit Horkheimer

Die Argonauten auf Long Island

Mit Hannah Arendt bei Julie Braun Vogelstein

Pioneer’s Progress

Nicht in Andorra

Der neue Freund

Sils-Maria – zum letzten Mal

Der letzte Gast

Unterschiedliche Blickwinkel: Nachwort

Namenregister

Helmuth Plessner Vita

Vorwort

Während eines Empfangs, den die New Yorker «New School for Social Research» im September 1962 auf Long Island für ihren ersten Theodor-Heuss-Professor, Helmuth Plessner, gab, stand ich eine Weile allein und betrachtete das Gruppenbild vor mir: ein Fest, Willkommen und Wiedersehen. Die Gäste: deutsche Emigranten, Gelehrte, Schriftsteller, Künstler, die seit vielen Jahren in New York lebten. Dr. Alvin Johnson, Gründer der New School, der ihnen zu neuem Wirken verholfen hatte, nannte sie seine «Argonauten».

Ich glaube nicht, daß ich an den antiken Mythos dachte, als ich diese Argonauten mit ihren Damen vor mir hatte. Ohne noch zu wissen, warum, sah ich sie dennoch mit anderen Augen. Vor einer leeren Wand mir gegenüber saß, allein wie ich, ein alter Mann. Er sah müde aus und stützte sich mit beiden Armen auf eine Küchenleiter. Es muß diese Leiter gewesen sein, auf deren Sprossen ein Déjà-vu-Erlebnis aus der Tiefe aufstieg: Das Gruppenbild, das ich betrachtete, verwandelte sich in Max Beckmanns letztes Triptychon «Die Argonauten».

Beckmanns Atelier in Amsterdam war nach dem Einmarsch der Deutschen ein Ort, an dem Helmuth in aller Vorsicht manchmal andere Emigranten treffen konnte, so seinen Studienfreund, den Filmregisseur Ludwig Berger, oder den Schriftsteller Wolfgang Frommel. Dreißig Jahre nach dem Fest auf Long Island schickte mir ein junger Verehrer von Frommel ein Reclambändchen: «Max ­Beckmann. Die Argonauten» von Erhard Göpel. Im Anhang gibt Göpel, der die Entstehungsgeschichte des Triptychons bis ins Detail verfolgt hat, Wolfgang Frommel das Wort. In Form eines Briefes schildert dieser sein «Argonautenerlebnis» mit Beckmann. Der Maler sei der Ansicht gewesen, so Frommel, er habe mit seinem Œuvre «den Grundgehalt seiner Epoche zu totalem Ausdruck gebracht». Frommel widersprach. Darauf Beckmann: «Und was fehlt nach Ihrer Ansicht? Was gibt es noch nach Ihrer Ansicht?» Antwort: «Uns.» Beckmann: «Und was verstehen Sie unter ‹uns›?» Frommel: «Ich verstehe darunter das, was das Leben meiner Freunde bestimmt und vielleicht nicht nur das ihre. Oder sagen wir es mytholo­gischer, deutlicher: die Argonauten.»

Beckmann hat das Triptychon erst 1949 in Amerika begonnen. Im Tagebuch nennt er es «Die Künstler» – bis zum 9. Dezember 1950. In der Nacht vorher hatte er einen Traum, den er als Todesahnung empfand. In einem Brief an Göpel vom 26. April 1951 erzählt Quappi Beckmann dem Freund: «Am Morgen sagte er mir, er hätte von den Argonauten geträumt, nicht von der Legende, aber von den Gestalten auf seinem Bild. Auf meine Frage, was es gewesen sei, sagte er nur: ich weiß nicht mehr genau – es war nur sehr unheimlich – toll – sie sind einfach auf mich zugekommen (die Figuren) – sowas hab ich noch nie erlebt.» Seit dem 9. Dezember 1950 heißt das Triptychon im Tagebuch «Die Argonauten». Beckmann hat es am 26. Dezember 1950, am Vorabend seines Todestages, beendet.

Wahrscheinlich sind alle Argonauten, denen ich in 34 Jahren des Zusammenlebens mit einem von ihnen, Helmuth Plessner, begegnet bin, lange tot. Einige, von denen ich im folgenden erzähle, sind längst Idole einer jüngeren Generation geworden. Ohne ihre schöpferische Leistung würdigen zu können, habe ich sie in ihrer Menschlichkeit auftreten lassen, so wie ich sie erlebt habe, einen jeden an jedem neuen Tag, den er, lachend und weinend, der Vertreibung abgetrotzt hat. Idole sind leblos. Aber Lachen und Weinen sind Monopole des Menschen.

Ein neuer Tag

«Aus Lachen und Weinen ein neuer Tag» lautet die Widmung eines seiner Bücher, das Helmuth mir im Mai 1952 schenkte. Heute weiß ich, daß dem neuen Tag eine lange Dämmerung vorausgegangen war, die mit meiner Flucht aus Breslau Ende Januar 1945 begonnen hatte. Meine beiden kleinen Töchter und ich fanden Zuflucht bei einer Freundin in Thüringen. Ihr Mann, Hans Urban von Hirschfeld, starb in der Nacht nach unserer Ankunft an den Folgen eines Verhörs durch die Gestapo. Er hatte das Bewußtsein nicht wiedererlangt.

Im April kamen wir in Lemgo in Lippe, der Heimat meines ersten Mannes, an. Sein Vater, Lebensmittelgroßhändler, hatte ein Puddinglager für uns räumen lassen. Die Kinder, vier und acht Jahre alt, und ich haben darin über fünf Jahre lang gewohnt. Ihr Vater, Kunsthistoriker und Maler, zog nach Göttingen, sobald die Universität den Betrieb wiederaufnahm. Von Oktober 1945 an haben wir bei gutem Einvernehmen keinen gemeinsamen Haushalt mehr geführt.

Vom 4. Januar 1950 an leitete ich die Volkshochschule der Stadt Lemgo. Gleich nach der Währungsreform hatte ich ein Modell entworfen, das Erwachsenenbildung bis ins letzte Dorf des ehemaligen Fürstentums Lippe-Detmold tragen sollte. Die kultur- und bildungspolitische Studie, die ich den Bürgermeistern und Landräten, dem Landesverband Lippe in Detmold und dem Kultusministerium in Düsseldorf einreichte, fand Anklang. Nur verlangte der Regierungspräsident von Detmold-Minden, Heinrich Drake, der in Personalunion Vorsteher des Landesverbandes Lippe war, ein wissenschaftliches Gutachten. Dr. Karl Pfauter, Kulturdezernent und Volkshochschulleiter in Göttingen, verschaffte mir einen Termin bei dem aus der Emigration zurückgekehrten Professor für Soziologie und Philosophie, Helmuth Plessner. Bevor ich ihn aufsuchte, schickte ich ihm eine Kopie ­meiner Studie.

Der Sturm der Befreiung hatte die ehrwürdige ­Georgia Augusta zwar kräftig geschüttelt. Aber 1951 wirbelte noch viel braunes Laub durch ihr Gehege. Um die Besetzung des neu geschaffenen Lehrstuhls für Soziologie war lange gerungen worden. Als Frucht der Aufklärung und der Republik war das Fach keineswegs jedermanns Sache. Die Berufung des 1933 aus Köln vertriebenen Philosophen Plessner war ein Kompromiß zwischen Streitern, die so gegensätzliche Geister beschworen wie Hans Freyer und Eugen ­Rosenstock-Huessy.

Das erste soziologische Institut lag im Hochparterre des Auditoriengebäudes an der Weender Straße. Es bestand aus zwei einfenstrigen Räumen, offenbar hatte man eine Wand durch einen kleinen Hörsaal gezogen. Im vorderen Raum stand ein Tisch für etwa zwölf Personen. An den Wänden gähnten leere Bücherregale. Eine junge Frau, die Sekretärin, begrüßte mich: «Der Herr Professor erwartet Sie. In einer halben Stunde beginnt sein Kolleg.» Das Zimmer, in das sie mich führte, war noch kleiner als das erste. Es wurde fast ausgefüllt von einem mächtigen Schreibtisch, dessen Platte wie ein gespannter Bogen geformt war. Die tiefstehende Sonne blendete mich, so daß ich nur die Umrisse des Herrn hinter dem Schreibtisch erkennen konnte. «Wechseln wir die Seiten», sagte er – ein Vorschlag, damals noch undenkbar bei einem «ordentlichen» deutschen Professor im Amt. Mir war, auf der anderen Seite des Schreibtischs, als befände ich mich in einem anderen Land.

Der Professor hatte sein Gutachten schon nach Detmold geschickt und, so erzählte er, sich selbst vorsorglich zur Gründungssitzung angemeldet. Während er über meine Arbeit sprach, fiel mein Blick auf ein Ölgemälde, das auf dem Fußboden an einem Wandschrank lehnte: das Brustbild eines Mannes in braunem Jackett vor grünem Hintergrund. Die gleichgültigen Augen waren ins Unbestimmte außerhalb des Rahmens gerichtet. Statt des rechten Unterarmes ruhte ein toter Fisch auf der Stuhllehne. «Beckmann?» fragte ich. Der Professor nickte, sah mich etwas verwundert an, zögerte einen Moment und begann zu erzählen. Er sei oft in Amsterdam bei Beckmann gewesen, in dessen Atelier zahlreiche deutsche Emigranten verkehrten. Das Bild des Mannes mit dem Fischarm habe er am Tag der Befreiung Amsterdams gegen einen kleinen Brillanten eingetauscht, seinen «letzten Heller», den er immer im Brustbeutel bei sich trug. Übrigens habe Beckmann ihn im Auftrag holländischer Freunde por­trätieren sollen. Aber dazu war es nicht mehr gekommen, weil der Maler nach St. Louis berufen wurde.

Dann erzählte ich: vom Kunsthändler Wiese im Riesengebirge, bei dem sich manche Gesinnungsgenossen getroffen hatten. Er war als Museumsdirektor in Breslau entlassen worden, weil er sich in seinem Eintreten für die «entartete» Kunst nicht beirren ließ. Ich hatte in seinem Antiquitätengeschäft in Hirschberg ein Selbstbildnis von Beckmann erstanden, eine Kaltnadelradierung. Sie ist in Breslau geblieben und hat hoffentlich einen polnischen Liebhaber gefunden. Herr Plessner sah, während er mir zuhörte, nachdenklich aus dem Fenster. So hätte Beckmann ihn malen können. Merkwürdig, wie ähnlich sein Kopf dem auf meiner verlorenen Kaltnadelradierung sah. Draußen lag ein verkrauteter Behördengarten. Die Sonne stellte seine Freudlosigkeit erbarmungslos bloß.

Plötzlich sprang er auf: «Das Kolleg. Es ist höchste Zeit.» Erst jetzt sah ich, daß der rechte Arm verkürzt, die Hand kleiner, die Schulter schmaler war. Er mußte einen sehr geschickten Schneider haben. «Darf ich mit ins Kolleg kommen?» fragte ich. Wir stiegen zusammen die Treppe zum Auditorium maximum hinauf.

Er las im Wintersemester 1951/52 «Einführung in die Soziologie» und «Philosophische Anthropologie». Die soziolo­gische Vorlesung war so überfüllt, daß ich nur noch ganz oben in der hintersten Reihe Platz fand. Die Studenten, die Hitlerjugend, Krieg, Lazarett, Gefangenschaft hinter sich hatten, drängten zu den Vorlesungen, viele in der Hoffnung, Klarheit über ihre aus den Fugen geratene Existenz zu gewinnen. Auch vor mir öffnete sich ganz neues Gelände, besonders in der philosophischen Vorlesung. Die Leibhaftigkeit des Menschen, seine Eingebundenheit in Natur und Lebenswelt, seine Sonderstellung in der Vielfalt der Arten – all das war in der Klosterschule und im Studium der Kunstgeschichte kein Thema gewesen. Auch die Art des Vortrags war neu. Ich hatte noch nie einen Dozenten erlebt, der ganz ohne Manuskript auskam. Dieser sprach frei und unpathetisch. Hin und wieder griff er nach einem Zettel mit Quellenangaben oder nahm ein Buch von dem Stapel neben dem Katheder. Eine solche Vortragsweise schafft direkten Kontakt zu den Hörern. Kant, Hegel und Marx, Herder und Husserl schienen selbst zu sprechen und einzugreifen in die Auseinandersetzungen der Gegenwart.

Während er sprach, prägte sich mir das Äußere des Vortragenden ein. Er war etwas über mittelgroß und stämmig, hatte eine gesunde braune Farbe und glänzende dunkle Augen. Der Haarkranz, unterbrochen von weit abstehenden Ohren, war weiß gesprenkelt. Die breite Stirn über großzügigen schwarzen Brauen verlief kantenlos auf dem kahlen Schädel. Das breite Gesicht, beherrscht von den Augen – daß ihr Schnitt die Herkunft von sephardischen Juden verriet, lernte ich erst später –, verjüngte sich drastisch in der unteren Hälfte. Der schmallippige Mund mit den beweglichen Winkeln verriet Menschenfreundlichkeit und Skepsis, aber auch Genußfähigkeit und Humor. Die Körperhaltung war erstaunlich gleichbleibend. Der rechte Arm stützte sich angewinkelt auf das Katheder, während der linke gestikulierte. Als wir uns besser kannten, erzählte Helmuth mir, daß ihm ein väterlicher Freund, der Philosoph Nikolai Hartmann, den Rat gegeben habe, sich im Kolleg möglichst wenig zu bewegen und den Studenten immer frontal gegenüberzustehen. Einen anderen Rat Hartmanns hat er allerdings nicht befolgt: immer denselben, möglichst dunklen Anzug in der Vorlesung zu tragen – «Ich mag halt keine Uniformen».

Nach dem Kolleg bat er mich noch einmal in sein Zimmer. Er wirkte etwas befangen, als er sagte, er habe vorhin vergessen, mich etwas zu fragen. Ob ich zufällig in Lemgo die Brüder Fritz und Carl Wagener kenne. Sie seien Vettern von ihm, Söhne einer Schwester seiner Mutter, die aus Schaumburg-Lippe stammte. Seit 1933 habe er zwar nichts mehr von ihnen gehört, aber… Ich spürte, worauf er hinauswollte. Über Fritz Wagener konnte ich nichts berichten. Um so mehr über Carl, den Fraktionsführer der CDU im Kreistag. Er hatte mir tatkräftig beim Aufbau der Volkshochschule geholfen. Die ersten Programme hatte mir seine Druckerei umsonst geliefert, und auch jetzt setzte er sich für das neue Projekt ein. Mein Gegenüber sah wieder nachdenklich aus dem Fenster, sprang dann auf und fragte, ob ich Herrn Wagener ein paar Zeilen von ihm überbringen würde. Aber selbstverständlich.

Allerdings wohnte ich seit Anfang Oktober nicht mehr in Lemgo, sondern pendelte zwischen Detmold, Lemgo und Göttingen hin und her. Mein Schwiegervater, dem meine Arbeit noch suspekter war als die seines aus der guten, alten Kaufmannsart geschlagenen Sohnes, hatte uns das Puddinglager gekündigt. Die Kinder, mittlerweile zehn und vierzehn Jahre alt, waren daraufhin zu ihrem Vater gezogen. Hatte er sie bisher in Lemgo besucht, so besuchte nun ich sie in Göttingen. Für die Leitung der Volkshochschule hatte ich zum Jahreswechsel einen Nachfolger gefunden, so daß ich mich ganz der neuen Aufgabe widmen konnte. Fürs erste wohnte ich bei Freunden in Detmold, von wo ich alle Kleinstädte und Dörfer meines Gebietes bequem per Bahn und Bus erreichen konnte.

Die frischgeknüpften verwandtschaftlichen Bande zwischen Herrn Plessner und dem Hause Wagener in Lemgo entwickelten sich offenbar so erfreulich, daß ich ihn hin und wieder auf dem Bahnhof in Detmold traf und die komplizierte Fahrt nach Göttingen – man mußte damals noch dreimal umsteigen – mit ihm zusammen machte. Auch in Göttingen sahen wir uns: im Deutschen Theater mit Heinz Hilpert, Hellmut Henrichs, Erich Ponto, Johanna Terwin-Moissi, Elisabeth Müller – Bekanntschaften, dank derer im Sommer 1951 Hofmannsthals «Jedermann» auf dem ­mittelalterlichen Marktplatz von Lemgo aufgeführt ­worden war.

Am letzten Adventssonntag gab mein Mann eine kleine Gesellschaft, zu der er auch Herrn Plessner einlud. Die anderen Gäste waren «Mama» Oncken, Witwe des Historikers Hermann Oncken, mit Tochter Alste, einer Freundin von mir, und Schwiegersohn Rudolf Horn, dem Göttinger Archäologen.

Das übliche Getränk in dieser bescheidenen Zeit war Cinzano, zu dem es fast überall selbstgebakkene Waffeln gab. Ich fand in der Küche kein Waffeleisen und entschuldigte mich. Herr Plessner atmete auf und sagte: «Die Waffeln nieder.» Der Abend fing gut an. Mama Oncken, eine vitale Siebzigerin, ihres Mutterwitzes wegen bewundert und gefürchtet, weil sie nie ein Blatt vor den Mund nahm, schien sich wohl zu fühlen und in Herrn Plessner einen ebenbürtigen Gesprächspartner zu sehen. Nach einem besonders gelungenen Ballwechsel mit ihm lehnte sie sich erschöpft zurück und rief: «Kinder, bei euch ist es wieder wie früher in Berlin.» Ich dagegen kannte meinen ernsten Reisegefährten kaum wieder. Gewiß, die Fragen, die uns Deutschen auf den Nägeln brannten, waren kein Gesprächsstoff für einen solchen Abend. Aber war es denn wirklich, konnte es denn je wieder sein «wie früher in Berlin»?

Daß Herr Plessner absichtlich jeglichem Ernst auswich, merkte ich erst, als Herr Horn mich, weniger interessiert als höflich, nach dem Fortgang meiner Arbeit in Lippe fragte. Mama Oncken gähnte verstohlen. Ich erzählte, daß ich tüchtige Mitarbeiter für die vorgesehenen wirtschaftswissenschaftlichen, soziologischen und politischen Kurse gefunden hatte. Frau Oncken sah mich empört an: «Politik gehört nicht in die Volkshochschule!» Mein Mann sekundierte vorwurfsvoll: «Du bist doch Kunsthistorikerin.» Er saß auf einer alten Truhe und wippte mit den Füßen. Über seinem Kopf hing ein Aquarell, das Josef Hegenbarth ihm geschenkt hatte: Pfauen auf einer Stange, grüne, braune, schwarze und goldene Augen auf dem Schwanzgefieder, das gefaltet ­herabhing.

Ich wollte gerade etwas zu meiner Verteidigung sagen, als ich noch rechtzeitig einen warnenden Blick von Herrn Plessner auffing. Wie zufällig legte er einen Finger an den Mund und schüttelte den Kopf. Ich schwieg. Er bewunderte das Aquarell und lenkte dann das Gespräch geschmeidig auf einen Roman, der in Göttingen gerade die Runde machte: «Der Blaue Kammerherr». Mein Mann war entzückt. Der Autor, Wolf von Niebelschütz, war ein Freund von ihm.

Beim allgemeinen Aufbruch dann geschah noch etwas Sonderbares. Während der Hausherr die Familie Oncken die Treppe hinunter geleitete, kramte Herr Plessner umständlich in den Taschen seines Überziehers. Schließlich fand er das Gesuchte, einen Brief, und übergab ihn mir. «Würden Sie die Güte haben, das für mich zu expedieren?» fragte er förmlich. Warum ich? Er würde auf dem Weg in sein Domizil an mehreren Briefkästen vorbeikommen. Überdies wollte er in den nächsten Tagen nach Holland fahren. Der Brief war an eine Dame in Groningen gerichtet.

Nach den Weihnachtsferien besuchte mich Heinz Kühn in Detmold. Der spätere Ministerpräsident von Nordrhein-­Westfalen war damals Starredner der SPD im Landtag, verantwortlich für die Kulturpolitik der Opposition. Wir kannten uns aus Detmold, wo ich im Winter 1949 an einem von ihm geleiteten Gespräch über neue Wege der politischen Bildung teilgenommen hatte. Er hatte Helmuth Plessners Gutachten über mein Projekt gelesen, kannte aber noch etwas ganz anderes von ihm: ein verschollenes Buch, «Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche», 1935 in der Schweiz erschienen. Kühn hatte es als Emigrant in Belgien in die Hände bekommen. Wenn es nach ihm ginge, sagte er, würde es Pflichtlektüre in der Oberstufe aller höheren Schulen. Im Laufe des Abends – wir aßen zusammen im «Lippischen Hof» – bot er mir an, mich als Nachfolgerin des Dezernenten für Erwachsenenbildung und Volksbüchereien im Kultusministerium in Düsseldorf vorzuschlagen. Der jetzige Amtsinhaber, ein Oberregierungsrat, stehe kurz vor der Pensionierung. Verdankte ich diese Anerkennung dem Gutachten? Als ich Herrn Plessner beim nächsten Zusammensein von der Aussicht, nach Düsseldorf zu gehen, erzählte, sagte er ungläubig: «Aber das kann doch nicht Ihr Ernst sein.»

Mitte Februar endete das Wintersemester. Mein Mann fuhr wie in allen Universitätsferien nach Italien zum Arbeiten in Museen und Archiven und zum Zeichnen an die ligurische Küste. Für mich hieß das, sehr viel mehr in Göttingen bei den Kindern zu sein. An einem Nachmittag im März rief Herr Plessner an und schlug einen Spaziergang vor. Warum er denn nicht wie in den Weihnachtsferien nach Holland gefahren sei, fragte ich. Ach, er wolle seine Arbeit jetzt nicht unterbrechen. Er schrieb gerade einen Aufsatz für die Festschrift zu Karl Jaspers’ 70. Geburtstag: «Über Menschenverachtung». Warum ein so tristes Thema, wunderte ich mich. Ja, warum? Pause. Danach: «Ich finde es nicht trist.»

Wir gingen durch kahle Wälder zum Kerstlingröder Feld, das damals Truppenübungsplatz war. In den Furchen, die die Kettenfahrzeuge gezogen hatten, standen ölige Lachen. Am Waldrand blühte violett ein Seidelbastbusch. Mein Begleiter wollte ihn ganz nahe sehen, machte einen großen Schritt, glitt aus und fiel auf den Rücken. Ich wollte ihm aufhelfen. Er winkte ab. Ich ging weiter, bis er sich trotz des steifen Armes allein aufgerichtet hatte. Sein Hut blieb im Gestrüpp hängen. Ich bewunderte seinen Galgenhumor: Auf den Schreck hin müsse ich eben unbehütet mit ihm «bon essen» gehen. Vom «Rhons» – damals ein Nobelrestaurant – rief ich zu Hause an. «Hab’s schön, Mammi.»

Der Kellner kannte ihn offenbar. Der verdreckte Überzieher verschwand und kam sauber und trocken wieder. Wir setzten uns an einen Fenstertisch. Unten gingen langsam die Lichter der Stadt an. Noch kein Hochhaus, kein «blauer Turm», kein Neues Rathaus. Wir bestellten Wiener Schnitzel und Moselwein. Herr Plessner trank mir zu: «Auf unser erstes Abendessen zu zweit.» Zum Kaffee zündete er sich eine Zigarre an, Marke Willem Twee aus Holland.

An diesem Abend fragte ich ihn zum ersten Mal nach seiner philosophischen Anthropologie. Was ich zuerst lesen solle. «Wohl doch die ‹Stufen des Organischen›», meinte er. Er sei da nämlich vielleicht auf ein paar neue Gedanken gekommen. «Na ja, neu…» Und dann entwickelte er mir den Gedankengang seines Hauptwerkes: die Bedeutung der Grenze zwischen dem Lebewesen und seiner Umwelt; das unterschiedliche Verhältnis zur Umwelt bei Pflanze, Tier und Mensch; die «exzentrische Positionalität» des Lebewesens Mensch und dessen Sonderstellung unter allen Organismen; die drei Merkmale, die ihn auszeichnen und zwingen, sein Leben zu «führen»: vermittelte Unmittelbarkeit, natürliche Künstlichkeit und der utopische Standort. Es klang alles so selbstverständlich, so einfach. «Das ist es ja auch», sagte er, und dann: «Wissen Sie, weshalb ich Philosoph geworden bin?» Er hob den rechten mit dem linken Arm auf den Tisch: «Deshalb!»

Vierzehn Tage später wurde in Detmold «Das Lippische Volksbildungswerk» statuiert. Außer dem Vertreter des Kultusministeriums, Herrn Plessner und mir waren alle Anwesenden Lipper. Entsprechend nüchtern war der Festakt. Der eingetragene Verein unter dem Schutz des Lippischen Landesverbandes und der Schirmherrschaft seines Präsidenten hat fast dreißig Jahre bestanden.

Am nächsten Morgen, einem Sonntag, trafen wir uns wieder auf dem Bahnhof in Detmold. Herr Plessner hatte bei Wageners in Lemgo übernachtet. Wir stiegen in ein leeres Abteil und setzten uns ans Fenster. Nach dem Tunnel bei Altenbeken lag das Lipperland hinter uns. Als der Zug die Weser überquerte, holte mein Reisegefährte eine kleine Fotografie aus der Tasche, die, abgegriffen und verblaßt, eine junge Frau darstellte: hochbrüstig, bis zum Hals zugeknöpft, Cul de Paris, die Gesichtszüge kaum auszumachen. «War sie nicht bildschön, meine Mutter?» Er gab mir das Bild in die Hand. Ich betrachtete es. Es blieb Umriß und Schatten. Er nahm es mir ab, sah mich ruhig an und fragte: «Wollen Sie nicht meine Frau werden?»

Wir heirateten am 6. Dezember 1952 in Frankfurt.

Der sechzigste Geburtstag

Am 4. September 1952 fuhren wir morgens von Frankfurt – ich arbeitete seit einem Monat im Institut für Sozialforschung – nach Wiesbaden, um dort, nur wir zwei, Helmuths sechzigsten Geburtstag zu feiern. Als wir aus dem Bahnhof ins Freie traten, zog er den Hut, winkte den fernen Taunushügeln zu und sagte: «Darf ich vorstellen?» Um nur keine innere Bewegung zu zeigen, machte er mich auf diese Weise mit seiner Heimat bekannt.

Nach dem hektischen Frankfurt mit seinen Ruinen war das heile Wiesbaden zunächst ein Augentrost. Die Wilhelmstraße war noch menschenleer. Vor dem Café Blum deckte ein Kellner eben die Tische. Wir frühstückten in der Morgensonne. Mit der ersten Zigarette wies Helmuth auf das Theater gegenüber: «Da habe ich zum ersten Mal die ‹Meistersinger› gesehen. Und als ich sieben Jahre war, hab ich auf der anderen Straßenseite gestanden, als der Kaiser mit seinem Gefolge durch die Wilhelmstraße ritt.»

Allmählich füllte sich das Café: amerikanische Offiziere mit ihren Damen, neudeutsche Schickeria, Geschäftsleute mit Aktentaschen und Zeitungen. Ein bejahrtes Paar – er mit Monokel, sie mit Nerzstola und violetter Frisur – ­studierte die Speisekarte. Helmuth sprang auf: «Komm, laß uns gehen.» Auf dem benachbarten Platz, wo die «größte Kuckucksuhr der Welt» steht, ächzte der Vogel, dick wie ein Truthahn, gerade die volle Stunde. Ich blieb vor der Auslage eines Lederwarengeschäfts stehen: Krokodilledertaschen, Kosmetikköfferchen, Gürtel aus Schlangen- und Eidechsenleder; gegenüber Spielwaren für kleine Dollarprinzen und ­-prinzessinnen. Helmuth drängte: seine «alte Penne», die schöne neugotische Backsteinkirche, in der er konfirmiert wurde, die noble Residenz der Hessen-Nassauer, in der jetzt Georg August Zinn als Landesvater waltete. Die großen Hotels im Kurviertel, «Die Rose» und der «Schwarze Bock», waren noch fest in Besatzungshand. Das «Palace», in dem Displaced Persons untergebracht waren, sah heruntergekommen aus. Um das Quellenhaus wogten heiße gelbe Dämpfe. In der Filiale der Dresdner Bank an der Taunusstraße war Helmuth um seine letzten 8000 Mark betrogen worden. Ein Angestellter hatte versprochen, sie ihm selbst nach Holland zu bringen. Weder er noch das Geld sind angekommen. Als der braune Spuk vorüber war, erinnerte sich niemand an den Angestellten.

Im Eckhaus Taunusstraße/Wilhelmstraße hat Dr. med. Fedor Pleszner, Helmuths Vater, zuletzt praktiziert. Im Stockwerk darüber wohnte der Gymnasiallehrer Kothe, mit dessen Söhnen, Zwillingen, Helmuth in dieselbe Klasse gegangen war. Gegenüber klaffte eine der wenigen Wiesbadener Baulücken, die die siegreichen Bomber hinterlassen hatten. Die Hauswand daneben war mit einer bunten Reklame beklebt: einer monumentalen Sektflasche, aus der schmutziger brauner Schaum sprudelte. «Loreley Extra Cuvée», sagte ich angewidert. «Pardon Madame», Helmuth lachte und griff nach der unsichtbaren Kappe eines Hotelpagen: «Thomas Mann hätte unsere Hausmarke empfehlen sollen.»

Am Eisengitter entlang, das die Sonnenbergerstraße zum Kurpark abgrenzte, gingen wir zum ehemaligen Sanatorium Dr. Pleszner, in dem Helmuth die ersten zwanzig Lebensjahre verbracht hat. Das noble weiße Haus wirkt durch seine ausgewogenen Proportionen kleiner, als es ist. Erst von der Rückseite, vom Kurpark aus sieht man, wieviel Platz es für die Kranken hatte. Auf den Veranden und Balkonen standen wie früher bunte Liegestühle und aufgespannte Sonnenschirme, und im Garten wehten die Kiefern, die Helmuth als Kind mit gepflanzt hatte, majestätisch im Septemberwind. Aber der Eindruck, es hätte sich nichts verändert, täuschte. Das Haus bestand jetzt aus vielen kleinen Mietwohnungen. Und die Hausnummer 11 a war durch jene 13 ersetzt worden, die man früher einem Sanatorium nicht zumuten konnte.

Helmuth zeigte mir, zu welchen Räumen die Fenster gehört hatten. Im Hochparterre gleich beim Haupteingang lagen Praxis und Wartezimmer. Ganz oben neben den Zimmern der Angestellten hatte er seine «Bude» gehabt. In den beiden Geschossen darunter und in der Beletage neben den Gesellschaftsräumen hatten die Patienten gewohnt. Im Keller lagen Küche und Anrichte und vor allem die Bäder. Das Wasser der Heilquelle mußte täglich in Fässern herbeigeschafft werden. Die Patienten waren zu anspruchsvoll, um die dafür vorgesehenen öffentlichen Einrichtungen zu benutzen. Die meisten kamen Jahr für Jahr: aus England, Rußland, Amerika. An einige erinnerte sich Helmuth noch: an Mrs. Townsend, die Frau eines hohen Kolonialbeamten, an Miss Alma French, eine reiche, gemütskranke Amerikanerin, an einen russischen Fürsten, der ständig Angst vor Meuchelmördern hatte, an einen malariakranken holländischen Pflanzer aus Indonesien und an einen schnauzbärtigen Aus­tralier, der ihm einmal zu Weihnachten die sämtlichen Werke von Conan Doyle schenkte.

Sobald der Sohn des Hauses dem Schutz der Kinderfrau entwachsen war, durfte er mit an der Table d’hôte essen. Einziges Gebot: Kinder sprechen bei Tisch nur, wenn sie gefragt werden. Freilich! Aber um so besser hören sie zu. Während 20 bis 25 Gäste deutsch, französisch, englisch durcheinander parlierten, muß sich Helmuths Ohr so geschärft haben, daß er später beliebige Akzente nachahmen konnte. «Du sprichst nur aus», klagte sein Vater, wenn die Noten in Französisch und Englisch zu wünschen übrigließen. Dafür wurde er später, wohin immer wir kamen, für einen Einheimischen gehalten. Und wenn er mir eine seiner Glanznummern, «Diner im Sanatorium», vorspielte, einen tabakkauenden alten General oder ein altes Mädchen mimte und entsprechend urig brummte oder zimperlich säuselte, mußte ich immer wieder Tränen lachen.

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