Bastis Welt

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Bastis Welt
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Moni Rehbein

BASTIS WELT

Schachmatt dem Chaos Die Liebe siegt

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Sämtliche Namen der im Buch vorkommenden Personen, außer dem der Autorin, wurden geändert.

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag

Alle Rechte bei der Autorin

Umschlagentwurf: Frank Hübner

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

www.engelsdorfer-verlag.de

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Einleitung

Schach matt!

Die Geißlein

Telefon

Kleidung

Wie ein wilder Stier

Blaue Flecken

Die Geldbörse

Köln

Ambulanz

Auf Reisen

Bletchley Park und London

Kripo

Im Krankenhaus

Polizei

Schriftstück

Frage-Antwort

Einfach anders

Danksagungen

Weitere Bücher

EINLEITUNG

Für die meisten Menschen ist es schwierig, sich in Autisten hineinzuversetzen oder ihnen Verständnis entgegenzubringen, weil sie einfach so anders sind als andere Menschen und doch keine offensichtliche Behinderung haben. Die meisten sind weder körperlich noch geistig behindert. Oft sind sie uns sogar in Teilbereichen weit überlegen. Sie leben sozusagen in Anderwelt.

Basti ist sehr intelligent, sodass er in Intelligenz-Tests (IQ-Test) in Teilbereichen über den messbaren Werten liegt und man nur schätzen kann. Man hat ihn schon vielen solcher Tests unterzogen, wohl in der Hoffnung, dass er seine Intelligenz eines Tages den Tests anpassen würde.

So musste Basti zum Beispiel ein Bild bewerten, auf dem ein Stuhl dargestellt war. Der Proband sollte erkennen und angeben, dass der Stuhl dreidimensional ist. Er war ja aber nicht dreidimensional, weil man unmöglich auf einem Blatt Papier mehr als zwei Dimensionen darstellen kann. Man kann lediglich eine falsche Wirkung oder eine optische Täuschung erzielen, deshalb ist das Bild aber immer noch zweidimensional und wird es auch so lange bleiben, bis man den Test zusammen mit dem Bild ins Feuer wirft.

Basti hat also festgestellt, dass der Sitz des Stuhles sich in eine Richtung verschmälert und zwei der Stuhlbeine kürzer und dünner sind als die anderen, wodurch er eine Bewertung von unter 60 bekam. Die Grenze von 60 war als sogenannte »Schwachsinnsgrenze« festgelegt. Sowohl in der Sprachbegabung als auch in der Mathematik lag er weit über der messbaren Obergrenze. Er wurde also bereits im Kindesalter als sprachbegabtes, schwachsinniges Mathegenie bewertet, das völlig normal ist und einen IQ von 100 hat. Ich nehme an, der Test selbst wurde nie auf Schwachsinn hin untersucht.

Basti hatte nie ungewöhnliche Verhaltensweisen, die nicht andere – normale – Menschen auch haben und der IQ-Test bestätigte seine Normalität. Alles prima, wenn da nicht »Anderwelt« wäre.

Der Unterschied zwischen Durchschnittsautisten und dem Rest der Durchschnittsmenschheit liegt wohl darin, dass der Autist die Umwelt völlig anders wahrnimmt als der Mensch, der noch durchschnittlicher ist. Ein Großteil der menschlichen Kommunikation läuft nicht über die Sprache ab, obwohl wir das meist denken. Aber das ist ein Irrtum. Der Großteil dessen, was wir den Menschen um uns herum mitteilen, geschieht über Gestik und Mimik, über Sprachmuster und zum Teil auch über andere Sinne, wie z. B. den Geruch. Es gibt viele wissenschaftliche Studien zu diesen Themen und oft vermag uns ein Pantomime mehr zu vermitteln, als der beste Nachrichtensprecher.

Stellen Sie sich doch bitte ein Gesicht vor, das zu lächeln beginnt. Zuerst zaghaft, dann immer mehr, bis das ganze Gesicht erstrahlt und mit Freude erfüllt ist. Am liebsten könnte man einen solchen Menschen doch umarmen und möchte gern in dessen Gesellschaft verweilen.

Nun nehmen wir dasselbe Gesicht, das ärgerlich die Stirn runzelt und dann langsam zur wutverzerrten Fratze wird. Alles in uns wird sich auf Abwehr stellen und wir werden die verschiedensten Reaktionen spüren wie Fluchtgedanke, Aggression oder Widerstand. Niemand möchte diese Person umarmen, obwohl sie immer noch die gleiche ist. Dabei hat die Person die ganze Zeit kein Wort gesprochen, aber wir haben wahrgenommen, was sie uns mitgeteilt hat.

Ein Autist erkennt das oft nicht. Gestik und Mimik sind für ihn wie eine Fremdsprache. Die meisten von uns würden es wohl verstehen, wenn ein Pantomime uns beibringen möchte, dass wir am Telefon zuerst die 3, dann die 5 und zuletzt die 2 wählen sollen. Wenn wir aber eine Bandansage abhören, die uns das Gleiche in Chinesisch erklärt, würden das die meisten von uns nicht verstehen, obwohl die Ansage auf Band sehr viel klarer und exakter ist, aber eben in einer für uns fremden Sprache. So geht es einem Autisten oft mit uns. Wir drücken uns in einer blumigen Sprache aus und benutzen auch noch Gestik und Mimik und der Autist fühlt sich wie in einem Gespräch mit einem Chinesen. In Anderwelt wird eine andere Sprache gefühlt und wahrgenommen.

Ich kenne einen Autisten, der ist verzweifelt aus dem Schulunterricht weggelaufen, weil der Lehrer die Bemerkung machte, die Schüler würden ihn auf die Palme bringen, dabei hatten sie den Lehrer nirgendwo hingebracht und es war auch nirgends eine Palme in der Nähe.

Die größten Katastrophen der Menschheitsgeschichte basieren vielleicht sogar auf solchen Missverständnissen, weil wir nur Worte wahrnehmen, ohne denjenigen zu kennen, der dahinter steckt und so verstehen wir ihn dann völlig falsch. Ich denke da zum Beispiel an die Bibel. Viele lesen die Worte und haben sicher die ehrbare Absicht, alles zu beherzigen, was da steht. Doch wollen sie sich nie auf den Autoren einlassen, mit ihm reden, ihn in ihr Leben lassen und eine persönliche Beziehung zu ihm herstellen. So kam und kommt es immer wieder zu Glaubenskriegen und zu tiefen zwischenmenschlichen Verletzungen. Viele denken sich einen zornigen, distanzierten oder gelassenen Gott und vergessen, dass er Mensch wurde. Sie sehen nicht sein Lächeln, seine Tränen, seine Freude, seinen übergroßen Humor, seinen Schmerz und diese mächtige Liebe, die nicht gekommen ist, die Menschen in seiner Allmacht zu bevormunden, sondern zu heilen, zu umarmen und zu trösten. Sie lesen von Sünde in der Bibel und davon, dass Gott die Sünde hasst und übersehen dabei sein Lächeln, das die Sünder zu sich ruft und seine Liebe, die schwerer wiegt und stärker ist als alle Sünde der Welt.

Viele Christen lesen die Worte, beten in sich rein oder an die Zimmerdecke und kommen gar nicht auf die Idee, dass man sich auf Jesus einlassen kann, dass man einfach mit ihm reden kann, dass er neben uns steht, ob wir ihn wahrnehmen oder nicht; dann wollen sie gegen die Sünde kämpfen und lassen sich hinreißen und kämpfen auch gegen den Sünder, anstatt ihre eigene Sünde einfach Jesus zu bringen. Oder Gott wird ihnen egal und sie wollen nichts von dem wissen, der das alles zulässt. Manche fangen sogar an, gegen Gott zu kämpfen oder gegen dessen Kinderlein. Die Menschen scheinen die einzigen Hunde zu sein, die die Hand beißen, die sie streichelt und füttert.

So ungefähr ist mein Sohn. Er nimmt nur das wahr, was er hört und liest und denkt nicht daran, dass man es vielleicht gar nicht so meint, weil er unser Lächeln nicht wahrnimmt, so wie viele Menschen das Lächeln Gottes nicht wahrnehmen. Oder er merkt nicht, dass jemand traurig ist und verletzt diesen durch seine scheinbare Gleichgültigkeit. Wenn ihm jemand vom Tod eines geliebten Menschen berichtet und dabei sogar Tränen in den Augen hat, reagiert er genauso monoton, als wenn ihm mit freudestrahlendem Gesicht von einem Lottogewinn erzählt wird. Er nimmt es zur Kenntnis und fängt eventuell augenblicklich einen Monolog z. B. über die weltpolitische Lage im Allgemeinen und Barack Obama im Besondern an. Er denkt nur geradlinig, nimmt alles wörtlich und es darf keine Fehler oder Zweideutigkeiten geben.

 

Oft ist diese Merkwürdigkeit anstrengend und zehrt an den Nerven. Doch manchmal ist er wirklich amüsant und wirkt bisweilen bizarr und ungewöhnlich. Genau davon handelt meine Geschichte mit dem Jungen aus Anderwelt.

SCHACH MATT!

Eines Tages entdeckte Basti durch einen Bekannten seine Leidenschaft für das Schachspiel. Er war damals gerade sechs Jahre alt und wollte in seiner Freizeit am liebsten nur noch Schach spielen.

Ich hatte das Schachspiel mit ihm zusammen erlernt und meinte, noch nicht mal ganz schlecht zu spielen, doch bald schon konnte ich mit meinem Dreikäsehoch nicht mehr mithalten.

Also suchte ich nach einem Verein. Da jeder Verein sich bei seiner Gründung im Handelsregister beim Amtsgericht eintragen muss, rief ich dort an, um mich zu erkundigen. Ich erfuhr so nicht nur, dass es einen Schachklub in Heidenheim gibt sondern auch den Namen, die Adresse und Telefonnummer des Vorstands, Herr Lay, und rief gleich dort an. Dieser teilte mir mit, dass jeden Freitagabend Trainingsstunden für Kinder und Jugendliche in einer renommierten Gaststätte unserer Stadt stattfinden.

Ich ging mit Basti zusammen zu seinem ersten Trainingsabend und bereits nach diesem ersten Abend war klar, dass Basti von nun an regelmäßig den Verein besuchen wollte. Herr Lay gab mir allerdings den Rat, ihn vorerst noch nicht anzumelden, sondern abzuwarten, ob er es sich vielleicht doch noch anders überlegt, es könne sich ja bei seiner neuentdeckten Liebe zu dieser Kampfsportart mit der geringsten Verletzungsgefahr auch nur um ein kurzzeitiges Interesse handeln.

Als er dann jedoch als Gastspieler bereits kurze Zeit später die Vereinsmeisterschaft gewann, musste ich ihn anmelden, damit er an der Kreismeisterschaft teilnehmen durfte. Er gewann nicht nur diese ungeschlagen, sondern auch die Bezirksmeisterschaft. In den kommenden Jahren gewann Bastian beständig und qualifizierte sich mehrfach zu den Landesmeisterschaften.

In seinem zweiten Jahr als Mitglied fand die Bezirksmeisterschaft in einer Jugendherberge statt. Die Kinder und Jugendlichen übernachteten dort auch, weil diese Schachmeisterschaft über zwei Tage andauerte.

Herr Lay erzählte mir einige Tage später, was sich in dieser Nacht zugetragen hatte. Die Kinder schliefen meist in Vierbettzimmern, so auch Basti. Um 20 Uhr sollten alle zu Bett gehen, sie durften sich noch unterhalten oder lesen und ab 21 Uhr war Bettruhe vorgesehen. Diese Regelung wurde den Kindern bereits zu Beginn des Turniers mitgeteilt.

Wie bei Kindern so üblich, hielten sich die meisten nicht an diese Anordnung. So herrschte bis nach 22 Uhr ein Lärmen und Kichern in den Schlafräumen und den Gängen der Herberge.

Nicht so in Bastis Zimmer. Pünktlich auf die Minute um 21 Uhr sorgte Basti für Ruhe. Er stand auf, löschte das Licht, legte sich wieder ins Bett und befahl den Zimmergenossen: »Es ist nun 21 Uhr, jetzt wird geschlafen.«

Da Basti durch seine Spielstärke und Souveränität ein gewisses Ansehen bei den Kindern gewonnen hatte, akzeptierten sie ihn sofort als Autoritätsperson und waren auf der Stelle mucksmäuschenstill, trotz des Lärms, der aus Flur und Zimmern der anderen Kinder zu vernehmen war.

Am Sonntag, dem zweiten und letzten Spieltag, fuhr ich nach der Kirche zu der Jugendherberge, um mir die letzten Spiele anzuschauen und Basti dann mit nach Hause zu nehmen. Ich mag die Atmosphäre eines Schachturniers sehr. Meist herrscht absolute Stille. Es ist noch nicht mal ein »Schach« zu hören, wenn ein gegnerischer König bedroht wird, wie das oft so in Filmen dargestellt wird. Ein Spieler weiß meist, wenn sein König angegriffen wird, auch ohne, dass es ihm gesagt wird. Übersieht er das dennoch einmal, was sehr selten vorkommt, und möchte einen anderen Zug machen, der den König in der Bedrohung stehen lässt, sagt der Angreifer: »Unmöglicher Zug.«

Ist eine Partie beendet, geben sich die beiden Spieler die Hand, um zum einen dem Gewinner zu gratulieren und zum anderen gegenseitigen Respekt auszudrücken.

Die meisten Anwesenden, auch Basti und ich, wurden beim vorletzten Spiel Zeugen einer etwas beängstigenden Szene.

Bereits bei so jungen Spielern war es nicht ungewöhnlich, dass ihnen persönliche Trainer zur Seite standen. So auch bei einem Jungen, der in derselben Altersstufe spielte wie Basti. Der Junge machte im Laufe seines vorletzten Spiels einen gravierenden Fehler und verlor diese Partie. Eigentlich nicht schlimm in einer so niederen Altersgruppe und selbst Schachgroßmeister machen Fehler. Der Junge war am Boden zerstört. Doch anstatt ihn zu trösten, kochte sein Trainer vor Wut und fing an, den Spieler aufs Übelste zu beschimpfen, was in etwa so klang: »Du bist doch zu blöd zum Schachspielen mit deinem Spatzenhirn. So einen Fehler macht doch noch nicht mal ein Anfänger. Schalt gefälligst in Zukunft dein Gehirn ein! Aus dir wird nie ein guter Schachspieler!«

Alle Anwesenden hatten diese Szene mitbekommen, aber keiner wagte es, dem wütenden Trainer ins Wort zu fallen. Der Junge, der nun im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses stand, hatte einen knallroten Kopf bekommen und Tränen standen ihm in den Augen.

Kein Wort fiel, die Köpfe der anderen Spieler senkten sich wieder und die Spiele gingen ruhig weiter.

Ich hatte schon zu Beginn des Wutanfalls des Trainers meinen Sohn beobachtet, doch er zuckte mit keiner Wimper, blieb über sein Schachspiel gebeugt und es war unmöglich zu beurteilen, ob er diese Szene überhaupt mitbekommen hatte, obwohl er ja in unmittelbarer Nähe saß. Basti ging in seiner Altersgruppe als Sieger hervor und verteidigte so seinen Titel als Bezirksmeister.

Als die Spiele beendet waren, erfolgte nach einer kurzen Pause die Siegerehrung im Eingangsbereich der Jugendherberge. Alle Spieler waren versammelt, dazu viele Elternteile und einige Trainer, und wurden Zeugen, als Basti und die anderen Sieger ihre Medaillen und Urkunden entgegennahmen.

Ein Zeitungsreporter war gekommen und schoss einige Fotos. Damit war das Turnier offiziell beendet.

Es war immer noch relativ ruhig in der Aula, als Bastis Stimme zu vernehmen war, der sich dem cholerischen Trainer zugewandt hatte: »Ich fordere Sie zu einer Partie Schach heraus.« Dabei hatte er ruhig und sachlich gesprochen, fast schon ein wenig beiläufig.

Der Trainer nahm die Herausforderung an und schnell wurden ein Tisch und zwei Stühle in die Aula getragen und ein Schachbrett aufgebaut. Basti und sein Kontrahent setzten sich. Im Saal herrschte vollkommene Ruhe, trotz der vielen Menschen, die sich um den Tisch und die beiden Spieler versammelt hatten.

Es dauerte nicht sehr lange, da hatte Basti den Trainer matt gesetzt. Der Trainer streckte Basti dem Ritual zufolge die rechte Hand entgegen, welche Basti ergriff. Immer noch herrschte Stille, als der Trainer anfing zu sprechen: »Ich habe dich unterschätzt und erbitte eine Revanche.«

Basti antwortete in ebenso ruhigem Ton: »Gewährt.«

Schnell stellten die beiden ihre Figuren wieder auf und eine zweite Partie begann.

Man hätte eine Wanze husten hören können, so still war es auch diesmal im Saal, als sich alle Augenpaare auf das Schachbrett richteten, um den beiden ungleichen Spielern ein zweites Mal zuzusehen.

Auch diesmal verging nicht allzu viel Zeit, da hatte Basti die Partie gewonnen. Das Gesicht des Trainers war purpurrot angelaufen, ob vor Wut oder Scham war nicht auszumachen. Dennoch erhob er sich wieder von seinem Platz und bot Basti die Hand an. Immer noch hatten der gestandene Mann und der kleine Junge die volle Aufmerksamkeit der Anwesenden.

Bastian stand nun ebenfalls auf, ganz ruhig, als hätte Zeit keine Bedeutung in seinem Leben. Er ignorierte die dargebotene Hand des Gegenübers, sah ihm gelassen in die Augen und sagte in belanglosem, aber festem Ton: »Sie können gar nicht Schach spielen.«

Damit drehte er sich um und ließ den Mann, der seine Rechte langsam sinken ließ, einfach stehen.

Es folgte ein weiterer Moment völliger Geräuschlosigkeit, dann brandete tosender Applaus auf, der anhielt, bis der Trainer das Gebäude verlassen hatte.

Basti hatte in jeglicher Hinsicht gewonnen: Das Spiel und die Hochachtung der Umstehenden.

Ich war sehr stolz auf meinen geliebten Jungen, der diesen Choleriker souverän in seine Schranken verwiesen hatte. Wir sahen den Trainer nie wieder bei einem Turnier.

DIE GEISSLEIN

Ich gebe es gerne zu, ich bin manchmal ziemlich chaotisch. Dabei braucht Basti klare Ansagen. Ich wollte an diesem Tag einkaufen fahren.

»Ich gehe einkaufen und komme in zwei Stunden wieder.«

Eine klare Ansage, aber ich würde exakt in zwei Stunden wiederkommen müssen, sonst würde Panik ausbrechen. Basti könnte die Polizei rufen, Möbelstücke zerschlagen oder sonst wie austicken.

Ich beeilte mich daher, schnappte meinen Einkaufskorb, warf in aller Eile Geldbörse und Einkaufszettel hinein, verließ das Haus und schlug die Tür hinter mir zu. Als ich mein Auto aufschließen wollte, begann das Dilemma. Ich hatte meinen Schlüsselbund im Haus liegen lassen. Ich also zurück und geklingelt.

Nur wenige Sekunden später hörte ich Bastis Stimme etwas gedämpft durch das geschlossene Fenster im ersten Stock: »Wer da?«

Ich hatte ihm ja beigebracht, dass er Fremden die Tür nicht öffnen soll und rief fröhlich zurück: »Ich bin es!«

»›Ich‹ ist keine gültige Ansage. – Wer da?«

»Ich bin es«, wiederholte ich mich und fügte hastig hinzu, »deine Mutter!«

»Meine Mutter ist nicht da, die kommt erst in zwei Stunden wieder … Wer da?«

Meine Stimme war nun nicht mehr ganz so fröhlich: »Ich bin es, deine Mutter, LASS MICH REIN!«

»Meine Mutter ist nicht da, die kommt erst in zwei Stunden wieder … Wer da?«

Der kurze Eindruck eines Déjà-vu überkam mich und verflog sofort wieder.

»DEINE MUTTER!« Meine Stimme wurde lauter.

»Das sagten Sie bereits. Meine Mutter ist nicht zu Hause. Sie kommt erst …«

Ich unterbrach ihn, denn langsam verlor ich die Geduld.

»Ich hab meinen Schlüssel vergessen. Mach die Tür auf.«

»Meine Mutter hat gesagt, ich darf keinem Fremden die Tür aufmachen.«

»ICH BIN ABER KEIN FREMDER! ICH BIN DEINE MUTTER!«

Anscheinend hatte nun auch er begriffen, dass es wenig Sinn ergibt, ständig den gleichen Satz zu wiederholen: »Beweise?!«

Ich ergriff sofort diese Chance: »Mach das Fenster auf und beug dich heraus, dann siehst du mich.« Hoffnung machte sich in mir breit und wurde gleich wieder zerschlagen.

»Das ist ein Trick, damit Sie mich durch das offene Fenster überfallen können, darauf fall ich nicht rein.«

Tolle Logik! Ein neues Argument musste her: »Du erkennst mich doch an meiner Stimme!«

Und nun folgte der alles entscheidende letzte Ruf meines Sohnes, der mich die nächsten 110 Minuten auf der Treppe hat sitzen lassen: »Das hat der Wolf bei den sieben Geißlein auch gesagt!« Damit war die Diskussion beendet, denn Basti antwortete nun nicht mehr auf meine Zurufe oder mein Klingeln.

Ein Glück nur, dass der Tag warm war und ich mir auf der Treppe nicht auch noch den Hintern abfror.

Pünktlich nach der verabredeten Zeit klingelte ich erneut. Basti fragte, wer da sei und ließ mich sofort ins Haus, als ich mich als seine Mutter zu erkennen gab. Stolz berichtete er mir, sobald ich die Wohnung betreten hatte, dass ein Fremder dagewesen sei, der sich als seine Mutter ausgegeben hätte, dass er aber auf keinen Trick hereingefallen wäre und diesen Fremden nicht ins Haus gelassen hatte. Ich erklärte ihm, dass das tatsächlich ich war und kein Fremder.

»Aber du hast gesagt, du kommst in zwei Stunden wieder und die waren noch nicht um. Du hättest ja gleich sagen können, dass du schon nach wenigen Minuten wieder rein willst.«

Weitere Diskussionen wären im Leeren verlaufen, ich habe seitdem immer einen Schlüssel bei der Nachbarin hinterlegt.