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Sinfonie für eine Gottheit - Die Entstehung der Sai Symphony

1  Mike Herting

Mike Herting
Sinfonie für eine Gottheit
Die Entstehung der Sai Symphony
(Von Indien und anderen Dingen)

Vergangene Woche habe ich in einer Luxusvilla in der Nähe von Chennai, Südindien, gelebt. Seit einigen Monaten arbeite ich an der Sai Symphony, einem Auftragswerk der Sai Baba Organization. Sathya Sai Baba war ein vor wenigen Jahren verstorbener indischer Guru. Im Unterschied zu allen anderen Gurus wie Osho oder Krishnamurty ist er kein Mensch gewesen, der zum Heiligen wurde, sondern war vielmehr die Inkarnation Gottes in einem menschlichen Körper. Man kann ihn am ehesten mit dem Jesus der christlichen Kirchen vergleichen. Genau wie diesem werden ihm Wunder zugeschrieben. Der Unterschied zu Jesus besteht unter anderem darin, dass Sai Baba nicht gekreuzigt wurde, sondern im Alter von fast 90 Jahren hochangesehen starb und in der indischen Gesellschaft verehrt wurde und wird. Berühmte Künstler, Wissenschaftler und Mitglieder der Regierung gehören zu seinen Anhängern.

Laut den Veden, der religiösen Textsammlung im Hinduismus, sollte es drei menschliche Inkarnationen der göttlichen Natur geben, deren erste, Shirdi Sai Baba, Ende des 19. Jahrhunderts gelebt hat und deren dritte sich schon - noch unerkannt - in einem menschlichen Körper inkarniert hat und sich in Kürze zu erkennen geben wird. Nur Sathya Sai Baba hingegen als Mittlere Inkarnation der drei vereinigt alle Eigenschaften der göttlichen Natur in sich, während sein Vorgänger und sein Nachfolger jeweils unterschiedliche Aspekte darstellen und sich zu einer Einheit ergänzen.

Wem dies kompliziert und unzugänglich, vielleicht auch "typisch indisch" erscheint, den bitte ich, sich einmal das Neue Testament aus einer anderen kulturellen Sicht vorzustellen, samt der Wunder, der Dreifaltigkeit, der jungfräulichen Geburt und der Propheten, die dem Messias vorausgingen. Mir erscheint der hinduistische Mythos nicht komplizierter oder einfacher als der christliche, sondern schlicht von einer anderen Kultur geprägt.

In den letzten Jahren war ich des Öfteren in Afrika gewesen, hatte dort viel gelernt und mit wunderbaren Musikern gespielt und kam im Juni von einer Reise nach Mauretanien zurück. Mit meiner Frau Sabine sprach ich darüber, dass ich gerne wieder nach Indien fahren würde, um das in Afrika gelernte dort auszuprobieren. Der Gegensatz von afrikanischer Körperlichkeit und der geistig - seelischen indischen Daseinshaltung fasziniert mich ungemein, auch und gerade aus der Perspektive des Musikers.

Einige Tage später klingelte das Telefon. Am anderen Ende waren der berühmte indische Mandolinenspieler U.Srinivas und sein Bruder Rajesh. Ich kannte U.Srinivas' Musik seit langer Zeit. Jetzt 45 Jahre alt, war er schon als Zwölfjähriger in Europa bekannt geworden, als er bei den Berliner Jazztagen spielte. Ich bewunderte ihn, er war in meinen Augen nie ein sogenanntes "Wunderkind" gewesen, sondern war eher ebenfalls so etwas wie eine göttliche Inkarnation, die sich für mich so manifestierte, dass ich Srinivas in seinem frühen Alter schon als fertigen Künstler wahrnahm. Ich kann jedem Musikinteressierten empfehlen, sich die entsprechenden Videos auf YouTube oder sonstwo anzuschauen, es ist ein kulturübergreifender Genuss.

Im Jahre 2000 hatte ich ein Programm mit der wunderbaren indischen Sängerin Ramamani und ihrem Ehemann T.A.S. Mani gemeinsam mit Charlie Mariano und der WDR - Bigband planen und durchführen dürfen. Dafür war ich 1999 zum ersten Mal nach Bangalore gereist und hatte dort von Ramamani und Mr. Mani einen Crashkurs in indischer Musiktheorie bekommen. Gerade als ich zum erstenmal in Indien ankam, war der berühmte Schauspieler Rajgopal vom nicht minder berühmten und noch mehr berüchtigten Banditen Veerapan entführt worden. Der schnauzbärtige Räuber hatte für Rajgopals Freilassung 10 Forderungen aufgestellt; unter anderem wollte er für sich und seine Frau jeweils einen Sitz im Parlament, es ging um Wasserrechte und er wollte von sich eine Statue aufgestellt sehen. Dies stellte eine für mich unbegreifliche Mischung aus Schein und Sein dar, der ich nur nickend und nichts verstehend zustimmen konnte. Ich berichte all diese Dinge so, wie sie mir erzählt wurden und soweit ich mich an die Details erinnere, ich erfinde nichts dazu.

Veerapan war mit seinem Gefangenen in den Dschungel gegangen und war dort unangreifbar. Seit Jahren hatte man versucht, ihn mit allen Mitteln zu fassen. Polizei, Armeeeinheiten, alle waren daran gescheitert. Sicher spielte Korruption eine große Rolle bei dieser Sache; aber, so sagten mir die Leute, es war auch so, dass Veerapan mit den Tieren sprechen konnte, die ihn vor allen Angriffen warnten. Er hatte Tausende von Bäumen illegal gefällt und verkauft, Hunderte von Elefanten gejagt und getötet, des Elfenbeins wegen, und viele, viele Menschen ermordet. Er war schon einige Male im Gefängnis gewesen und war immer wieder ausgebrochen. Er gab Interviews in den Zeitungen und im Fernsehen. Er hatte viele Unterstützer, denn wenn die einen in ihm einen Verbrecher sahen, war er für die anderen ein Held und Revolutionär, ein Wohltäter und Beschützer. Ob sich hier ein Räuber als Politiker verkleiden wollte, oder ob es umgekehrt war, war mir unmöglich zu beantworten oder zu beurteilen; vielleicht wusste es keiner, nicht einmal er selbst.

Ein Journalist wurde in das Versteck im Dschungel geführt und berichtete regelmäßig; die Nachrichten sprangen aus den Balken. Dem Schauspieler ging es gut, er ließ seine Anhänger grüßen. Diese protestierten und trauerten öffentlich. Alle Schulen und öffentlichen Einrichtungen wurden geschlossen.

All dies wusste ich nicht, als ich nach Bangalore kam. Die für mich wunderbare und geradezu unglaubliche Folge war, dass die mir bisher nur flüchtig bekannten beiden Doyens des Karnataka College of Percussion - Ramamani und ihr Ehemann - ebenfalls ihre Schule geschlossen hatten und zwei Wochen ihrer Zeit opferten, um sich meiner musikalischen Erziehung anzunehmen. Wir waren jeden Tag an die 12 Stunden lang zu dritt beisammen und die beiden großartigen Musiker und Lehrer stopften mich mit soviel Wissen voll, wie ich nur aufnehmen konnte, welch ein Privileg!

Ich kam mir vor wie im Märchen. Veerapans Kampagne ging weiter, Rajgopals Anhänger wiederum veranstalteten immer wütendere Protestzüge. Einmal zog mich ein Händler von der Straße in seinen Laden und verriegelte Tür und Schaufenster, wie alle seine Nachbarn. Ich wusste nicht, wie mir geschah, aber kurz darauf stürmte eine große Anzahl Menschen vorbei und skandierte wütende Parolen. Später erzählte man mir, dass Rajgopals Verehrer sich kilometerweit über den Boden der Straßen zum Palast des Gouverneurs rollten, um sich so blutend und schmerzerfüllt für ihr Idol einzusetzen. Was stellten diese Leute sich vor, was konnte oder sollte der Gouverneur unternehmen? Konnte er denn? Wollte er? Oder waren diese Jünger eines Fernsehschauspielers komplett verrückt? Ich konnte mir keinen Reim darauf machen und konzentrierte mich auf die Musik. Ich weiß nicht, wie die Geschichte ausging, da ich abreiste, bevor eine Lösung, wenn sie denn überhaupt gefunden worden ist, sich abgezeichnet hätte. Ich habe später gehört, dass die Regierung angeblich israelische Eliteeinheiten angefordert hat, die dann tatsächlich nach kurzer Zeit ebenso kurzen Prozess mit Veerapan machten, aber ob es stimmt?

Es fiel mir am Anfang schwer, in der südindischen Musik die Schönheit zu erkennen, die ihr die Bevölkerung des Landes zuschrieb. Die karnatische Musik in Südindien ist tief im Bewusstsein und dem Gedächtnis der Menschen verankert und ihr Verhältnis zur Bevölkerung ist mit derjenigen der klassischen Musik in Europa zu vergleichen. Allerdings erscheint sie mir gleichzeitig lebendiger in der täglichen Ausübung als auch viel weiter durch verschiedene Teile der Gesellschaft verbreitet als in Europa. Vielleicht ist dies aber auch nur ein kulturelles Missverständnis meinerseits. Vor einigen Monaten besuchte ich ein Konzert von U. Rajesh in Bangalore und nahm den mir zugeteilten Fahrer Chandru aus einem unweit gelegenen Dorf mit. Der war überglücklich, weil er noch niemals ein Konzert gehört hatte, so sagte er mir. Vielleicht meinte er aber auch nur, dass er noch nie in so einer Konzerthalle war. Vielleicht hatte er aber auch tatsächlich noch nie klassische karnatische Musik gehört, sondern nur die einfache Volksmusik, die vielleicht in seinem Dorf gespielt wurde.....

In der indischen Musik spielt die Mathematik eine große Rolle. Es gibt zweimal sechs mal sechs Tonleitern, die nach klaren Prinzipien aufgebaut sind und unzählige Regeln, die verhindern, dass es zu einfach wird, diese Skalen in einem der hundertfünfundsiebzig Rhythmen, die sich durch minutenlange in sich verschachtelte, teils festgelegte, teils improvisierte Einheiten winden, zu benutzen. Ein guter Musiker wird als "intelligent" betrachtet und man fragte mich, wieviele Bücher ich veröffentlicht hätte. Ich schämte mich fast, dass ich noch keins geschrieben hatte, war aber auch amüsiert und dachte: Dafür haben die hier auch noch Zeit?

Am Anfang hatten die Manis versucht, mir die indische Musik solchermaßen nahe zu bringen, wie sie traditionell gelehrt wird; so wie Musik in Europa, durch Erlernen eines Instruments oder durch Singen. Schon bald wurde klar, dass die Methode "Lesson Two cannot come before Lesson One" in unserem Kontext nicht gut funktionierte. Ich hatte nie ein schlechter deutscher Tablaspieler werden wollen und gedachte dies auch nicht zu tun. Viele Dinge, die die Manis mir erklärten waren mir vollkommen fremd, andere wiederum verstand ich sofort aus meinem musikalischen Fundus, den ich in Europa gelernt hatte. Glücklicher Weise, vielleicht auch ein wenig genervt vom inquisitiven Europäer - denn das Nachfragen des Schülers, das Hinterfragen seines Lehrers ist in der indischen Kultur milde gesprochen außergewöhnlich - stimmten die beiden Leiter des KCP meinem aus der Verzweiflung angesichts der Unmöglichkeit der Aufgabe stammenden Vorschlag zu, aus meiner Kenntnis der europäischen Musik heraus einfach Fragen zu stellen. Dies erwies sich als Volltreffer, für beide Seiten. Die Fragestunde wurde bald zu einem Dialog und ging weit über die Musik hinaus und ich bin bis heute stolz und dankbar dafür, dass ich dieses Privileg gemeinsam mit den Manis erleben durfte. Es tröstet mich über meinen heimlichen Verdacht hinweg, dass ich trotz aller Zeit und Mühe eigentlich gar keine Ahnung von indischer Musik oder Kultur habe.

Nach zwei Wochen gab es einen Klick in meinem Kopf und plötzlich erkannte ich die ungeheure Schönheit und Tiefe des Gezirpes und Geklopfes der karnatischen Musik. Seitdem ist sie für mich voller Dramatik, Erotik, Wagemut, Erhabenheit. Es war ein Schlüsselerlebnis. Wenn zwei solch verschiedene Kulturen wie die indische und die meine ein derartiges Verlangen entwickelt hatten, sich der Musik hinzugeben, dann zeigte das die absolute, kulturübergreifende Notwendigkeit der bloßen Existenz der Musik; sie ist also nicht Luxus sondern überlebenswichtig. Es ist wunderbar zu sehen, wie sich jede Kultur auf eine andere Weise dem Phänomen Musik nähert. Jede kommt zu Ergebnissen vollkommen unterschiedlicher Art. Da ich keine Ahnung von chinesischer Musik habe, erscheint sie mir heute als unverständlich. Aber nach entsprechender Beschäftigung damit würde sicher auch sie mir bald die gleiche, andere, andersartige Schönheit präsentieren, wie die anderen Formen der Musik, die ich kennen und lieben gelernt habe, die malische, mauretanische, die klassisch - europäische, den Jazz...

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