Das Reich Gottes ist wie ein Tiefseeanglerfisch

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Das Reich Gottes ist wie ein Tiefseeanglerfisch
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 9783865064516

© 2012 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

Titelgrafik: fotolia

Satz: Harfe PrintMedien, Bad Blankenburg

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

www.brendow-verlag.de

Inhalt

Cover

Titelseite

Impressum

Vorwort. Sperrige Bilder und das Reich Gottes. Von Kathrin Höhl

Einführung

Von der Macht der Geschichten

1. Gleichnis: Fair-Trade-Schokolade

2. Gleichnis: Weisheit der Vielen

3. Gleichnis: Der Busen deiner Mutter

4. Gleichnis: Gänseblümchen

5. Gleichnis: Die Müllsortieranlage

6. Gleichnis: Abendessen

7. Gleichnis: Schockierend

8. Gleichnis: Die Schnellreinigung

9. Gleichnis: „Sowohl-als-auch“

10. Gleichnis: Die Liebesaffäre

11. Gleichnis: Blinder Aktionismus

12. Gleichnis: Ein Tag am Strand

13. Gleichnis: Die Diskothek

14. Gleichnis: Der Unfall

15. Gleichnis: Die Pralinenschachtel

16. Gleichnis: Sex

17. Gleichnis: Der amerikanische Traum

18. Gleichnis: Die Trauerfeier

19. Gleichnis: Freizeitaktivitäten

20. Gleichnis: Der Tiefseeanglerfisch

21. Gleichnis: Die Überraschungsparty

22. Gleichnis: Das Netzwerk

23. Gleichnis: Die Gebärmutter

24. Gleichnis: Die Schulversammlung

25. Gleichnis: Die Abflughalle

26. Gleichnis: Das Gewitter

27. Gleichnis: Die Vogelperspektive

28. Gleichnis: Die Toilette

29. Gleichnis: Die Supermarktkassenschlange

30. Gleichnis: Der Panzer

31. Gleichnis: Die ICE-Fahrt

32. Gleichnis: Palliativmedizin

Wie Jesus Geschichten erzählt

Dein eigenes Gleichnis

Nachwort. Eine Nacht am Strand. Von Kathrin Höhl

VORWORT.
SPERRIGE BILDER UND DAS REICH GOTTES VON KATHRIN HÖHL

And I know Martin Eden‘s

Gonna be proud of me

And many before me

Who‘ve been called by the sea

To be up in the crow‘s nest

Singin‘ my say

Shiver me timbers

‚Cause I‘m a-sailin‘ away

(Tom Waits, Shiver me timbers)

Während ich diese Zeilen schreibe, sitze ich in einem kleinen Zimmer einer wirklich guten Rehaklinik, und zwar direkt hinter dem Deich. Über mir kreischen die Möwen, Wind weht mir durch die Haare und die Ostsee brandet schaumgekrönt und rauschend ans Ufer. Hinter dem Deich habe ich freien Blick auf das Meer, das seit Jahrhunderten ein Bild für die Sehnsüchte und Träume, aber auch für die Gefahren und Abschiede des Lebens ist. Maler, Komponisten und Schriftsteller haben das verstanden und die Kraft dieses Bildes in wunderbare Gemälde, Songs und Bücher umgesetzt. Jedes Einzelne dieser Kunstwerke erzählt etwas von der Faszination, aber auch der Gefahr des Meeres. Es trägt uns, und wir können darin untergehen.

Ein gutes Bild vom Reich Gottes sollte genau das auch tun: uns dessen Schönheit, aber auch seinen Anspruch zeigen, uns bestärken, aber auch herausfordern. Das Buch, das du gerade in Händen hältst, tut genau das. Es zeichnet Bilder vom Reich Gottes, die dir bisher vielleicht noch nicht in den Sinn gekommen sind. Diese Bilder sind hervorragend geeignet, um einmal anders über Gott nachzudenken als gewohnt.

Mickeys Geschichten zeigen auf verschiedene Weise die gute alte Wahrheit, dass das Reich Gottes sich längst mitten unter uns befindet.

Mickey selbst hat eine Weite, die sperrigen Gegensätze im Reich Gottes zu fassen und in Bilder zu übersetzen.

Ich wünsche dir Segen für deine eigene Reise in die Weite!

Grömitz, im April 2012

Kathrin Höhl

Kathrin bloggt auf http://inspiriertleben.wordpress.com

EINFÜHRUNG

„Die Zeit ist erfüllt und das Reich Gottes

ist nahe gekommen!“ (Markus 1,15)

Mit dieser guten Nachricht auf den Lippen spazierte Jesus über diese Erde und tat allerlei wunderbare Dinge. Er bezeichnete das Herannahen des Gottesreichs als eine solch gute Nachricht, dass es unbedingt erforderlich sei, von seinem bisherigen Lebensweg abzulassen und anders zu leben. Ich finde, das ist Grund genug, darüber Bücher zu schreiben und diese frohmachende Botschaft immer wieder neu in die Umwelten moderner Menschen hinein zu aktualisieren. Dieses Buch ist eins davon und versucht das mit Bildern, die mir im Laufe der Zeit gekommen sind, wenn ich an das Reich Gottes gedacht und den Menschen, denen ich begegnet bin, davon vorgeschwärmt habe.

Aber ein ganzes Buch nur mit Gleichnissen über das Reich Gottes? Kann man nicht auch Gleichnisse von anderen Dingen erzählen? Ja, das kann man sicherlich. In seiner programmatischen Antrittsrede in Nazareth (Lukas 4,18) aber zitierte Jesus am Anfang seines Dienstes Jesaja 61,1–3 und erklärte das Weitersagen der frohmachenden Botschaft vom Herannahen des Reiches Gottes als seinen wichtigsten Dienst. Vor allem Asylanten, Obdachlosen, Aussätzigen, Straßenkindern und Einsamen, kurzum allen „Elenden“ (das hebräische Wort in Jesaja 61 meint Menschen, die nicht zu Israel gehören, weil sie kein Land besitzen), soll die gute Nachricht mitgeteilt werden, dass sie nicht mehr ausgegrenzt sind, sondern durch Gottes Liebeswillen dazugehören. So wird die Botschaft vom Reich Gottes jedenfalls in Jesaja 52,7 beschrieben: „Dein Gott herrscht als König!“

Nun lässt uns der deutsche Begriff „Reich Gottes“ ja eher an einen räumlich abgegrenzten Bereich denken, eine Zuflucht, in der wir sicher sind, so wie unsere Gemeinderäume, in die wir uns allzu oft zurückziehen. Da grenzen wir uns von anderen ab, die „böse Welt“ kann uns nichts mehr tun. Aber das heißt doch leider auch, dass die „liebe Gemeinde“ der „bösen Welt“ auch nichts mehr tun kann. Im Griechischen steht für Reich Gottes aber „basileia tou teou“ und im Hebräischen „malkuta di jahwe“. Beide Begriffe bezeichnen vor allem das König-Sein Gottes und den Vollzug des König-Seins, nämlich die Herrschaft Gottes. Reich Gottes ist also von seinem Ursprung her, so wie Gott sich das gedacht hat, mehr ein Beziehungsbegriff als ein räumlich abgegrenztes Gebiet. Deswegen beginne ich in diesem Buch auch jedes Gleichnis mit derselben Einleitungsformel:

 

„Mit was wollen wir das Reich Gottes heute vergleichen? Das Reich Gottes ist die Art und Weise, wie Gott mit den Menschen umgeht. Das passiert da, wo wir leben. Es ist mitten unter uns und will von dir entdeckt werden. Wenn du wissen willst, wie es ist, dann denk doch zum Beispiel mal an …“

Und dann kommt der Vergleich, der den Leser oder den Zuhörer zum Nachdenken über einen Aspekt des Reiches Gottes anregen soll.

In Lukas 17,21 sagt Jesus: „Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch.“ Was war denn da los, als er das sagte? Was gab es zu sehen? Jesus war da, seine Jünger waren da und die Pharisäer waren auch da, eine Gruppe von Menschen also, die miteinander in Beziehungen standen. Wenn das Reich Gottes mitten unter ihnen war, dann bedeutet das, übertragen auf unseren Alltag, dass dieses Reich Gottes vor allem in den Beziehungen, die wir leben, existiert. Das war ja auch eines der letzten Gebetsanliegen Jesu (Johannes 17), dass die Welt an der Liebe, die seine Christen untereinander haben, die Realität der Herrschaft Gottes erkennen soll. Das heißt für mich ganz praktisch, dass ich da, wo ich lebe, auf meine Beziehungen achte, viel mit Leuten herumhänge und den Ruf in Kauf nehme, das Leben nur von der „leichten Seite“ anzugehen. Und ich kann euch sagen, dass mir das bis heute immer wieder vorgeworfen wird.

Ich versuche das aber zunehmend als Auszeichnung zu empfinden, denn schließlich hat man Jesus auch ständig vorgeworfen, den Ernst des Lebens nicht ernst genug zu nehmen und ein Fresser und Weinsäufer zu sein. Einmal habe ich mich mit einer Jugendlichen, die sich von Jesus entfernt hatte, lange Zeit immer wieder in meinem Büro in der Gemeinde zum Gespräch getroffen. Ich habe ihr zugehört, wenn sie von ihren „wilden“ Erfahrungen mit Drogen, Sex und düsterem Rock ’n’ Roll erzählte und wir haben dabei mehr Kuchen gegessen und Kaffee getrunken, als seelsorgerliche Schritte zu unternehmen. In dieser Zeit wurde ich immer wieder von wohlmeinenden Geschwistern und Leitern gefragt, ob ich denn damit vorankomme, ihr klarzumachen, dass sie ihr Leben total in Sünde lebe. Und ich habe Ja gesagt und hab damit auch nicht gelogen. Ja, das Reich Gottes ist nicht „Essen und Trinken“, sagt Paulus, aber er meint damit, dass es sich nicht in Geboten und Verboten erschöpft, „sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude im Heiligen Geist (ist). Denn wer in diesem dem Christus dient, ist Gott wohlgefällig und den Menschen bewährt“ (Römer 14,17f.). Und nach fast einem Jahr des Kaffeetrinkens, Kuchenessens, Zuhörens und Zu-Hause-für-sie-Betens (was ich ihr auch gesagt habe) brachte sie ihr Leben wieder unter die Herrschaft Gottes, weil ihr das Reich Gottes die ganze Zeit in unseren Gesprächen und durch unsere Beziehung nahe gewesen war.

Ich bin davon überzeugt, dass sich überall da Reich Gottes in meinem Alltag ereignet, wo ich von ganzem Herzen den Menschen, denen ich begegne, etwas davon zuteilwerden lasse, was Gott in mich hineingeliebt hat. Natürlich sollen und dürfen wir unsere Meinung zu bestimmten Dingen und Themen klar sagen, aber wir müssen nicht unter diesem massiven Druck stehen, alles richtig zu machen und verzweifelt Bekehrungen erzeugen zu müssen. Das ist nicht unser Job! Wer bekehrt einen Menschen? Es ist Gott persönlich. Und was an ihm bewirkt die Bekehrung? Etwa Gottes Macht und Größe? Oder sein Richtersein? Nein. Es ist seine Barmherzigkeit. Paulus schreibt in Römer 2,4 ganz eindeutig: „Oder verachtest du den Reichtum seiner Gütigkeit und Geduld und Langmut und weißt nicht, dass die Güte Gottes dich zur Buße leitet?“ Und dieses Wort „leiten“ meint ein ganz sanftes Mitnehmen, ein Begleiten, ohne Gewalt. Und wenn wir Jesus immer ähnlicher werden, dann können wir uns davon auf jeden Fall immer noch eine gute Scheibe abschneiden.

Aber schon ein kleines Stück vom Reich Gottes, sagt Jesus in Lukas 13 im Gleichnis vom Sauerteig, durchsäuert eine dreifache Menge von trockenem, staubigen Mehl und macht daraus einen nahrhaften, genießbaren Teig, der in der Hitze der Alltagsgefechte gebacken wird. Ich habe einmal irgendwo eine Geschichte gehört, in der ein Mann morgens in der U-Bahn bewusst einen Menschen ohne besonderen Grund einfach angelächelt hat. Danach fingen sie beide an, zwei weitere Menschen anzulächeln, und so pflanzte es sich den ganzen Tag lang fort. Und am Abend legte sich die ganze Stadt, in der sie wohnten, mit einem glücklichen Lächeln und einer zufriedeneren Seele ins Bett. Das versuche ich seitdem ebenfalls jeden Tag zu tun, weil ich zutiefst davon überzeugt bin, dass das Beste, was man an einem Tag tun kann, eben das ist: als mobiles Segnungszentrum durch die Gegend zu laufen! Ich finde, dann hat sich der Tag schon gelohnt, auch wenn du dabei (Achtung! Pastoren weglesen!) wichtige Gemeindesitzungen verpasst. Darum versuche ich in meinem Alltag immer mehr einen Lebensstil des Feierns zu leben (vgl. Matthäus 22,1–10 und Lukas 14,15–24) und jede Begegnung mit einem Menschen zu etwas Besonderem zu machen. Ich lade die Jugendlichen, mit denen ich arbeite, und auch die Erwachsenen gerne zu mir nach Hause ein. Da gibt es dann für alle genug zu essen und zu trinken, alle haben Platz und niemand wird ausgeschlossen, wir haben viel Spaß miteinander, und wenn wir nach Hause gehen, tragen wir einen Lebenssamen im Herzen (Matthäus 13,32).

Denn schließlich ist ein Fest, das mehr ist als bloße Erholung vom grauen Alltag, die Feier eines guten Lebens für alle Menschen nämlich, vielleicht das treffendste Bild für das Reich Gottes. Die Gleichnisse vom Hochzeits- bzw. Festmahl können meines Erachtens sogar als Muster dienen zum rechten Verständnis aller Aussagen Jesu über das Reich Gottes. Denn Reich Gottes meint, dass Gott in allen Bereichen der Wirklichkeit Gott ist, damit die Welt dem Menschen eine menschliche Heimat wird. Und in diesen ganzen Gleichnissen über das Feiern sind ja auch klare Worte der Abgrenzung enthalten, die den meisten Leuten auch klar sind. Man weiß doch eigentlich, wie man sich auf einem Fest verhalten soll, und man weiß auch, wie die Gastgeber sich verhalten werden, wenn man das nicht respektiert. Reich Gottes im Alltag praktisch zu leben und zu erleben bedeutet eigentlich nichts anderes, als den konkreten, radikalen Versuch, Jesus nachzuahmen. Und da könnten wir ruhig auch mal häufiger Veranstaltungen machen mit Titeln wie „Essen wie Jesus“, „Feiern wie Jesus“ und dergleichen mehr.

Jesus hatte den Auftrag, die ganze Welt zu retten (1.Timotheus 2,4), und er hat diesen Auftrag mit drei Maßnahmen begonnen: Er suchte sich Freunde, er verbreitete gute Nachrichten, er heilte Kranke und trieb Dämonen aus. Wenn ich also in der Begegnung mit Menschen von Krankheiten und Schmerzen höre, versuche ich immer, all meinen Mut zusammenzukratzen und, anstatt einer bloßen Mitleidsbekundung, ein Gebet anzubieten. Und wenn ich auch nicht jeden Tag in die Verlegenheit einer Dämonen-Austreibung komme, schaffe ich schon fast jeden Tag eine Dämonen-Vertreibung: Dämonen der Unlust, Angst, Depression, Lüge usw. vertreibe ich mit dem Aussprechen der Wahrheit des Wortes Gottes, einer bewusst fröhlichen Ausstrahlung und einem guten Scherz auf den Lippen (Matthäus 12,28).

Humor gehört nämlich, meine ich, auf alle Fälle zum Reich Gottes im Alltag.

Das habe ich unter anderem von Evagrius Ponticus gelernt, der 345 n. Chr. in Ibora, einer kleinen Stadt in der Nordtürkei, geboren wurde. Er war ein begnadeter und berühmter Prediger in Konstantinopel, bis er durch eine Liebesaffäre zu Fall kam, krank wurde, nach Jerusalem pilgerte und dort den Rest seines Lebens als Mönch verbrachte. Er ist der Verfasser des sogenannten Antirrheticos (Sammlung von Gegenworten), in dem er über 600 negative „dämonische“ (also dem Reich Gottes entgegenstehende) Gedanken aufschrieb und ihnen jeweils ein Bibelwort entgegengesetzt hat (s. a. Anselm Grün, Einreden, Vier-Türme-Verlag 2001). Und er kämpfte auf durchaus humorvolle Weise mit den „Dämonen“. So versuchte einmal ein Dämon, den er den Mittagsdämon nannte, ihn dazu zu bringen, sein Versprechen Gott gegenüber zu brechen und seine Einsiedlerklause zu verlassen. Evagrius stimmte zu und sagte: „Gut, ich werde es tun. Aber erst will ich noch essen und dann beten und dann werde ich es tun.“ So kämpfte er immer wieder und Tag um Tag mit dem Dämon, bis er von ihm abgelassen hat.

Alles in allem glaube ich, dass wir es uns nicht zu schwer machen dürfen, wenn es darum geht, das Reich Gottes in unserem Alltag praktisch auszuleben. Dazu möchte ich mit meinem Buch einen Beitrag leisten, und darum habe ich auch einen Song von Carola Laux, die ich neulich nachts, als ich nicht schlafen konnte, beim Zappen kennengelernt habe, zu meiner neuen Lieblingshymne gemacht:

„Engel sein ist gar nicht mal so schwer!

Denk dir, was du brauchst, und gib es her.

So vermehrt die Liebe sich im Nu

und das Glück hält dich fest im Arm!“

In diesem Sinne verkaufe alle deine alten Vorstellungen über die ernsthafte Schwere des Reiches Gottes, schnapp dir den Schatz und mach dich vom Acker (Matthäus 13,44)!

VON DER MACHT DER GESCHICHTEN

Geschichten sind Bilder in einem Sprachrahmen. Im Gegensatz zu Ratschlägen legen sie dem Betrachter keine Verpflichtung auf. Geschichten mit ihrem spielerischen Charakter, ihrer Nähe zur Fantasie, Intuition und Irrationalität stehen in offenkundigem Gegensatz zu den zweckrationalen, technologischen Vorbildern der modernen Leistungsgesellschaft. Mein lieber Lehrer, Professor Dr. Nossrat Peseschkian, der Begründer der Positiven Psychotherapie, hat immer gesagt:

„Geschichten sind wie Medikamente mit Depotwirkung. Sie enthalten Bezüge zu innerseelischen, zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Inhalten und Vorgängen und bieten Lösungsmöglichkeiten an. Losgelöst von der unmittelbaren Erfahrungswelt des ,Patienten‘, seinen Widerständen gegenüber der Aufdeckung seiner Schwächen, hilft das Beispiel in der Geschichte, eine veränderte Beziehung zu den eigenen Konflikten zu gewinnen.“

Auch Jesus erzählt immer wieder Geschichten vom Reich Gottes, von der Art und Weise, wie Gott mit den Menschen umgeht. Einmal wird er gefragt: „Wer ist mein Nächster?“ Er hätte antworten können: „Jeder.“ Kurze Frage, kurze Antwort. Aber er tut es nicht, sondern er erzählt eine Geschichte: Ein Mann wird ausgeraubt, verprügelt und halbtot liegen gelassen. Als ein Priester ihn sieht, geht er einfach vorüber, genauso ein Levit. Erst der reisende Samariter wird, so erzählt es Jesus, „innerlich bewegt“ vom Anblick des blutenden Opfers. Er verbindet ihm die Wunden, setzt ihn auf sein Reittier und bringt ihn in eine Herberge, wo er für seine Pflege bezahlt.

Zweitausend Jahre später verbinden selbst Nicht-Bibelleser mit dem Begriff „barmherziger Samariter“ Nächstenliebe und Mitgefühl. Jesus hat eine Geschichte erzählt, anstatt bloß „Jeder“ zu antworten, und die Geschichte berührt uns. Jesus weiß: Eine Geschichte ist keine Zeitverschwendung. Sie ist mächtig und wirkungsvoll. Er erzählte oft Geschichten. Nachdem Matthäus das Gleichnis vom Sauerteig berichtet hat, flicht er eine interessante Nebenbemerkung ein: „Jesus benutzte immer wieder solche Beispiele, wenn er zu den Menschen sprach. In keiner seiner Predigten fehlten sie“ (Matthäus 13,34, nach „Hoffnung für alle“).

Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich glaube, dass die Bibel Tatsachen berichtet. Ich glaube jedes einzelne Wunder. Aber gab es den Mann wirklich, der den Schatz im Acker gefunden hat? Oder das Festmahl, das der König für die Bettler ausrichtete? Wenn Jesus etwas erklären wollte, hat er dazu beinahe jedes Mal eine neue Geschichte erfunden, die mit den Herzen und Gedanken der Zuhörer „ein Fleisch wurde“.

„Avatar - Aufbruch nach Pandora“. Neytiri hält Jake Sully in den Armen, die Schlacht ist gewonnen. Sie sagt zärtlich:

„Ich sehe dich.“ Wir wischen uns Tränen aus den Augen. Der ganze Kinosaal schweigt gerührt.

„Gladiator“. Commodus zwingt den Gladiator, die Maske herunterzunehmen und seinen Namen zu nennen. Der gehorcht, und im ganzen Circus Maximus fallen den Zuschauern die Kinnladen herunter. „Mein Name ist Maximus Decimus Meridius, Kommandeur der Truppen des Nordens, Tribun der spanischen Legion, treuer Diener des wahren Imperators Marcus Aurelius ...“

„Gladiator“ lief vor mehr als zehn Jahren im Kino und ich habe Maximus‘ Worte immer noch im Ohr. Filmszenen, die wir auch nach Jahren nicht vergessen. Und es gibt viele, viele andere Beispiele. Wie die beiden Männer im Nebel, und einer sagt: „Louis, ich glaube dies ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft“ (Casablanca) oder zwei andere Männer im Dunkel, und einer sagt: „Na gut, wirf mich. Aber sag’s nicht dem Elb“ (Der Herr der Ringe). Allein solche kurzen Sätze lassen unwillkürlich ganze Szenen in meinen Gedanken entstehen. Wie kommt es nur, dass wir uns nicht merken können, dass wir noch Milch kaufen sollten, aber solche Filmzitate fest verankert sind in unseren Erinnerungen? Ganz einfach: Sie haben uns emotional berührt.

 

Nossrat Peseschkian hat darum Geschichten, Sinnsprüche und Parabeln als Wiederentdeckung alter orientalischer Gebräuche sogar direkt in den psychotherapeutischen Prozess integriert. Aus der Kulturgeschichte des Orients wird ja überliefert, dass Geschichten, Gebete und Parabeln als „Behandlungsmethode“ angewendet wurden, um „Geistesgestörte“ zu heilen oder deren Krankheiten zumindest zu mildern. Wenn unsere Predigten und unsere „evangelistischen“ Gespräche denselben Effekt erzeugen könnten, wäre meines Erachtens schon viel gewonnen. Statt Menschen immer wieder auf das aufmerksam zu machen, was ihnen sowieso schon bewusst ist, sollten wir lieber die Ressourcen unserer Zuhörer mobilisieren und ihre Sehnsüchte nach einem besseren Leben wecken.

Wenn man an gute Predigten denkt, die man gehört hat: Woran kann man sich erinnern? Mich rühren Geschichten immer besonders an. Es sind nicht Fakten, die unser Herz zur Umkehr bewegen. Es ist die Liebe, die aus Gottes Handeln spricht. Ein Gefühl. Um uns dieses Gefühl nahezubringen, erzählt Jesus im Gleichnis vom verlorenen Sohn, wie der Vater dem Sohn entgegenrennt.

Interessant ist, dass Jesus uns in seinen Geschichten den Blick auf das Böse, auf die Sünde, nicht erspart. Da werden die Knechte erschlagen, die zum Weinberg gehen, und am Ende sogar der Sohn. Einer verprasst sein Erbe. Jemand wird beraubt und fast zu Tode geprügelt. Jesus öffnet uns die Augen für die Wirklichkeit. Er zeigt uns die Folgen der Sünde, anstatt uns ein sauberes Leben zu erzählen, das es nicht gibt, hier, mitten im Kampf zwischen den Welten.

Nicht nur von der Rebellion gegen Gott erzählt Jesus. Er rückt auch unsere Vorstellung vom Schöpfer gerade. Der mächtige Gott macht sich wie ein Hirte auf die Suche nach einem einzigen verlorenen Schaf. Er will sich freuen mit seinen Geschöpfen, er lädt zum Festmahl ein, will Hochzeit feiern mit uns. So nahe will er uns sein, dass er sich mit einem Rebstock vergleicht, der seinen Trauben nährende Säfte zuführt. Wir sollen freundlich mit unseren Mitmenschen umgehen, sollen Verletzungen vergeben und in einer geschmacklosen Welt das Salz sein.

In den Geschichten von Jesus geht es um Ehrlichkeit gegenüber Gott, um Mut und das Einsetzen dessen, was wir an Fähigkeiten erhalten haben. Jesus erklärt auf neue Weise, was er damit meinte, als er uns am Anfang der Zeit zu „Hütern dieser Erde“ ernannte: Verantwortung übernehmen, dienen, etwas wagen, anstatt aus Angst seine Talente im Boden zu vergraben. Das Reich Gottes mag klein erscheinen wie ein Senfkorn. Dennoch hat es die Kraft, Betonplatten zu durchbrechen. Jesus weiß, dass er die Alltagsthemen seiner Zuhörer berühren muss, wenn er von seinen Zuhörern verstanden werden will. Er erzählt vom Hausbau und vom Weinanbau, vom Backen und Heiraten und Schafe hüten. Es geht in seinen Geschichten um den Bau von Verteidigungstürmen und Krieg, um die unbeliebten Zöllner und die verachteten Samariter, um eine Witwe, geflickte Kleider und einen König. Er trifft ihre Lebenswirklichkeit. Geschichten sind ein mächtiges Instrument. Über die Emotionen gehen sie direkt ein in den Erfahrungsschatz der Zuhörer. Der ungerechte Verwalter macht uns wütend. Was der Hirte für das verlorene Schaf tut, tröstet uns.

Vielleicht können wir die Menschen heute genauso mit Geschichten berühren? Wir kennen ihre Alltagswelt, weil es unsere ist. Wir kennen ihre Sehnsüchte und ihre Sorgen - wir fühlen sie genauso. Alles, was wir brauchen, haben wir! Machen wir es Jesus nach. Erzählen wir den Menschen Geschichten, die in ihnen die Sehnsucht nach dem Reich Gottes wecken. Erzählen wir ihnen moderne Gleichnisse, die aufzeigen, dass das Reich Gottes unsichtbar mitten unter uns entdeckt werden will.

Die Gleichnisse vom Reich Gottes in diesem Buch sprechen die bildliche Vorstellungskraft der Menschen an und wirken über die „rechte Hirnhemisphäre“ auf das vegetative Nervensystem. Die so erzeugten inneren Bilder begleiten den Prozess jeden Standortwechsels von alten hin zu neuen Verhaltensmustern. Die Gleichnisgeschichten können in diesem Zusammenhang neun „therapeutische“, das heißt „heilende“, bzw. „evangelistische“, das heißt „frohmachende“, Funktionen haben:

1. Spiegelfunktion

Eine Geschichte kann in der Darstellung einer ähnlichen Problemsituation die eigene Konfliktsituation spiegeln, wie z. B. die Gleichnisse „Liebesaffäre“, „Blinder Aktionismus“ oder „Unfall“. Menschen, die diese Gleichnisse hören, können zu distanziertem Nachdenken über die eigenen Konflikte angeregt werden.

2. Modellfunktion

Eine Geschichte kann zum „Probehandeln“ ermutigen, wie z. B. die Gleichnisse „Fair-Trade-Schokolade“, „Weisheit der Vielen“ oder „Abendessen“. Die modellhaft geglückten Problemlösungen dieser Gleichnisse können für die Menschen einen Vorbildcharakter gewinnen.

3. Mediatorfunktion

Geschichten können belastende und angstbesetzte Bereiche sozusagen „ich-fern“ ansprechen, ohne einen „Frontalangriff“ auf die Überzeugungen des Menschen zu bedeuten, der mir zuhört. Die schonende Form der Mitteilung erleichtert es Menschen, Vertrauen zu fassen und sich ein probeweises Aufgeben ihrer bisherigen Abwehrmechanismen zu erlauben. Die Gleichnisse „Müllsortieranlage“ oder „Schnellreinigung“ können diesen Effekt erzielen.

4. Depotwirkung

Durch ihre Bildhaftigkeit haben Geschichten einen hohen Erinnerungswert und wirken im Alltagsleben weiter, wie z. B. die Gleichnisse „Busen deiner Mutter“, „Gänseblümchen“ oder auch „Sowohl-als-auch“. Sie helfen dem Zuhörer, alte Konzepte zu aktualisieren und zu differenzieren.

5. Traditionsträger

Geschichten fungieren auch immer wieder als individuelle, familiäre oder gesellschaftliche Identifikationsmuster, wie z. B. die Gleichnisse „Tag am Strand“ oder „Trauerfeier“. Diese Gleichnisse sind Ausdruck persönlicher Lebenserfahrung, können aber auch anderen Menschen das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Lebensgemeinschaft (Familie, Kultur) vermitteln.

6. Transkulturelle Vermittler

Geschichten dienen als Rückversicherung für die Identifikation mit der eigenen Kultur und ihren Wertvorstellungen, wie z. B. die Gleichnisse „Diskothek“ oder „Schulversammlung“. Zusätzlich können sie eine Hinwendung zu fremden Kulturen anregen, wie in „Vogelperspektive“ oder „Panzer“.

7. Regressionshilfe

Geschichten können in der Fantasie als Regressionshilfen das Paradies wachrütteln und als Mittler zwischen den subjektiven Wünschen und objektiven Realitäten fungieren, wie z. B. in den Gleichnissen „Sex“, „Amerikanischer Traum“ oder „Tiefseeanglerfisch“. Belastende Konfliktsituationen können durch gezielte Gleichnisse, wie z. B. „Freizeitaktivitäten“, angesprochen werden und eine Lösungshilfe anbieten. Gleichzeitig fördern Regressionshilfengleichnisse die Entwicklung von Zielvorstellungen - unabhängig von der vergangenen Erfahrung - für das eigene Leben und wecken das Interesse für die nahe und ferne Zukunft.

8. Gegenkonzept

Überzeugungen spielen bei Konfliktlösungsversuchen eine große Rolle, ohne dass der Mensch, dem wir gerade eine frohmachende Botschaft ausrichten wollen, sich darüber im Klaren ist. Gegenkonzepte, vermittelt durch Gleichnisse wie „Überraschungsparty“ oder „Schockierend“, können dem Zuhörer helfen, eigene Überzeugungen bewusster zu hinterfragen. Die Gleichnisse bieten ihm die Chance, neue Konzepte aufzugreifen und sie auf die eigene Lebenssituation zu übertragen.

9. Standortwechsel

Das Lachen über die Pointe einer Geschichte basiert auf einer angenehmen Überraschung. Bekannte Situationen erscheinen plötzlich in einem neuen Sinnzusammenhang, wodurch neue Lösungsmöglichkeiten fast spielerisch in den Blick geraten. Der Zuhörer wird zum Standortwechsel und zum Experimentieren mit entlehnten Konzepten eingeladen. In diese Richtung gehen die Gleichnisse „Pralinenschachtel“ und „Supermarktkassenschlange“.

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