STURM ÜBER THEDRA

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STURM ÜBER THEDRA
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Michael Stuhr



STURM ÜBER THEDRA



All-age-Fantasy





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Inhaltsverzeichnis





Titel







ERSTES BUCH







DIE FLIEGENDEN SCHIFFE VON THEDRA







KAPITEL 1 - TERI







KAPITEL 2 - DER KÖNIG DER STOFFMACHER







KAPITEL 3 - KIND DER ZUNFT







KAPITEL 4 - DIE `GROSSE GELIEBTE'







KAPITEL 5 - DAS FREMDENHAUS







KAPITEL 6 - DIE KAO-LAD







KAPITEL 7 - DRAMILISCHE SPÄSSE







KAPITEL 8 - DIE `SESIOL'







KAPITEL 9 - LLAUKS LÄUTERUNG







KAPITEL 10 - SPIONE







KAPITEL 11 - DIE HEIMKEHR







KAPITEL 12 - DER AUFTRAG







ZWEITES BUCH - ESTADOR







KAPITEL 1 - DER JÄGER







KAPITEL 2 - IN THEDRA







KAPITEL 3 - DER HELFER







KAPITEL 4 - DIE NISCHE







KAPITEL 5 - TERI UND FAKUN







KAPITEL 6 - SCHNEE







KAPITEL 7 - MOORSTADT







KAPITEL 8 - HUND







KAPITEL 9 - UNTERPASS







KAPITEL 10 - DAS LICHT IM BERG







KAPITEL 11 - ENA







DRITTES BUCH - DIE SCHLAFENDE ARMEE







KAPITEL 1 - DER ALTE VOM BERG







KAPITEL 2 - ZWEI WANDERER







KAPITEL 3 - DREI WANDERER







KAPITEL 4 - DREI FREUNDE







KAPITEL 5 - DIE BERGFESTUNG







KAPITEL 6 - IM NAMEN DER STADT







KAPITEL 7 - IN KETTEN







KAPITEL 8 - FREUNDINNEN







KAPITEL 9 - DIE SCHLAFENDE ARMEE







KAPITEL 10 - DER MARSCH AUF THEDRA







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LESEPROBE: „DÄMONEN DER STEPPE“







Impressum









ERSTES BUCH









DIE FLIEGENDEN SCHIFFE VON THEDRA







Im ersten Buch wird beschrieben, wie in einer fernen Zeit, in einer anderen Welt als wir sie kennen, Teri, ein junges Mädchen, zur Frau heranwächst. Auf einer langen, gefahrvollen Reise besteht Teri die harten Prüfungen, die die Welt für sie bereithält und kann sich am Ende den größten Wunsch ihres jungen Lebens erfüllen. Doch das Gefäß das ihren Traum bewahrt erhält einen Riß.



Die Stadt Thedra, stolze Beherrscherin der Meere, fällt durch Verrat in die Hand des Erzfeindes, und Teri, kaum heimgekehrt, muß ausziehen die Schlafende Armee zu suchen.







KAPITEL 1 - TERI









Man soll kein Kind unterschätzen. - Mag sein, dass es eines Tages zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist und dann das Richtige tut.







Das Jahr sechzehn der Amtszeit Reos, König von Estador und der nördlichen Inseln, war ein gutes Jahr für Thedra gewesen. Einem frühen Frühling war ein windreicher Sommer gefolgt, der in einen langen und milden Herbst übergegangen war.



Ganz davon abgesehen, dass ganz Estador von diesem günstigen Wetter profitierte und die Wege zur Hauptstadt lange begehbar waren, war auch der Schwalbenhafen schon sehr früh eisfrei gewesen. Das bedeutete, dass in diesem Jahr die Frachtrate so hoch ausfallen würde, wie schon seit dreißig Jahren nicht mehr.



Als der erste Eisregen niederging und das Ende der Schwalbensaison ankündigte, schaute jeder Handwerker Thedras zufrieden auf die leeren Lagerräume und die vollen Geldkästen. Bald würde sich in den geräumten Werkstätten wieder das Rohmaterial für die Arbeit des Winters stapeln. In Kürze würden die Händler aus ganz Estador zum großen Markt kommen, und die Schneckenschiffe der Finder fuhren noch bis weit in den Winter hinein. Sicher würden sie so manches gute Stück feilbieten, das sich trefflich umarbeiten ließe. Mochten sie nur kommen mit den Schätzen dieser Welt. Thedras Kassen waren gerüstet.





"Hier entlang!"



Mit dumpfem Geräusch ihrer lederbeschlagenen Holzsohlen huschten die beiden Männer durch die düsteren Gänge des Formerfelsens. Obwohl die Beleuchtung nur spärlich war, bewegten sich die Gestalten schnell und mit sicheren Schritten über den glatten Steinboden.



"Hast du ihr den Tee bereitet?" Die Stimme des zweiten Mannes war nur ein Wispern, das jedoch vielhundertfach von den steinernen Wänden zurückgeworfen wurde.



"Ja. Aber die Blätter helfen nicht." Angst klang in der Stimme mit.



Vorhänge wurden zur Seite geschoben und aus den Wohnungen und Werkstätten wurde manch unwilliger Blick auf die nächtlichen Störer geworfen. Als die Bewohner des Formerfelsens jedoch Schritt und Stimme des ersten Mannes erkannt hatten, legten sie sich wieder zur Ruhe. Jeder von ihnen wußte, dass Ael, die Frau des Kannenformers, schwanger war, und dass die Wehen am späten Nachmittag eingesetzt hatten.



Geron, Waffenschmied des Königs und Magischer Mediziner eilte hinter dem aufgeregten Mann her. Ael war von sehr zartem Körperbau, und seiner Berechnung nach war es für eine Geburt noch zu früh. Er hatte dem Kannenmacher Blätter gegeben, aus denen er einen Tee für seine Frau bereiten sollte. Wenn dieses starke Mittel zur Unterdrückung der Wehen nicht mehr half, war die Lage sehr ernst.



Mit geübten Schritten stiegen die Männer auf den steilen, kurzen Stufen weiter in den Felsen hinauf. Leicht flackerten die Flammen der offenen Öllampen im Luftzug, den die Umhänge der beiden verursachten. Etage um Etage von Wohn- und Arbeitsräumen ließen sie unter sich, bis sie fast die Grenze zum Brennerfelsen erreicht hatten, wo die Tonwaren der Former in den ewigen Öfen gehärtet wurden.



Kein Laut drang aus dem Wohngewölbe des Kannenformers. Wenn Ael auch Schmerzen litt, so klagte sie doch nicht laut. Die Bewohner der Felsen waren von Kind an daran gewöhnt, sich ruhig zu verhalten. Anders hätte man in diesen Felsgängen, die jedes Geräusch verstärkten und weitertrugen, gar nicht zusammenleben können.



Trotzdem wäre es Erin lieber gewesen, hätte seine Frau sich nicht mit so übermenschlicher Kraft beherrscht. Er hatte erlebt, wie ihr gepeinigter Körper sich in Krämpfen wand und versuchte das Kind auszutreiben. Er hatte auf ihre Bitte hin lange gewartet, den Magischen Mediziner zu rufen. Jetzt verdammte er sich dafür.



Kein Laut drang an sein Ohr. Nicht einmal leises Atmen. Langsam und ängstlich schlug er den schweren Teppich zur Seite, der den Eingang zu seinem Raum verdeckte. Geron stieß ihn fast grob zur Seite und schob sich eilig in die Höhle.





Ael war jung gewesen, als Erin sie zur Frau nahm. Als Tochter eines Scharmanns war sie hoch über seinem Stand. Da sie aber nur seine vierte Tochter war, hatte der Scharmann ein Auge zugedrückt und Ael mit Erin ziehen lassen. Mehr noch: - Er hatte sich durch den geringen Stand seines Schwiegersohnes auch nicht davon abhalten lassen, die junge Familie auf das Reichlichste zu beschenken. Besonders hatte er sich darum gekümmert, dass Erins Räume für Ael etwas erträglicher ausgestaltet wurden.



Ael, als Kind eines Scharmanns, war es gewöhnt, unten in der Königsklippe zu wohnen, wo fast jeder Raum ein eigenes, winziges Fenster hatte; kein Vergleich mit Erins dunkler Kammer, oben, tief im Formerfelsen. So hatte Aels Vater denn einen Weiterer geschickt; einen Maler der sich darauf verstand, die Wände der engen Wohnhöhlen mit großen perspektivischen Landschaftsbildern so lebensecht auszuschmücken, dass der Eindruck entstand, die bemalte Wand sei gar nicht vorhanden.

 



Es war der beste Weiterer der Stadt gewesen, und das Gemälde mußte ein Vermögen verschlungen haben. Dafür konnten sich Ael, Erin und ihre Gäste aber der Illusion hingeben, aus einem wandbreiten Fenster, über eine schroffe Klippenlandschaft hinweg, weit auf das Meer hinauszuschauen, auf dem in weiter Entfernung drei Großschiffe der Edelstein-Klasse dahinzogen. Der Maler hatte die Schiffe dargestellt, so gut er vermochte. Wenn auch ein Großteil des thedranischen Handels mit diesen Schiffen abgewickelt wurde, so durften sich ihnen doch nur Scharleute nähern. Der Weiterer hatte sie so gemalt, wie er sie gesehen hatte; als rasch dahinfliegende farbige Schatten in dunstiger Ferne.



Zum Schluß war Aels Vater selbst zu ihrer neuen Wohnung hinaufgestiegen und hatte das fertige Bild bewundert. Ael war überglücklich gewesen, und Erin hatte ihr versprochen, noch eine weitere Öllampe aufzustellen, damit sie das Werk besser genießen könne.





Ael lag still auf dem gemeinsamen Lager aus roher Schafswolle, nur dürftig mit einem großen Stück fein gewebten Leinens umhüllt. Nur die glänzenden Schweißperlen auf ihrer nackten Haut ließen ahnen, dass noch Leben in ihr war. Tana, die junge Formerin aus der Nebenwohnung hielt Wache bei der Kranken. Erwartungsvoll sah sie zum Eingang. "Sie atmet nur noch ganz flach", berichtete sie den eintretenden Männern und rückte eilig zur Seite.



Wortlos schob sich Geron an ihr vorbei und legte die Hand auf die Stirn der Schwangeren. Kalt war der Schweiß auf Aels Stirn. Mit schnellen Griffen entblößte Geron ihren Leib. Er sah auf den ersten Blick, dass die Geburt unmittelbar bevorstand.



Rasch griff Geron in sein Gewand und holte einen hölzernen Kasten hervor, den er geöffnet auf das Bett der Kranken stellte. Aus einer der vielen Phiolen, die der Kasten enthielt, tropfte er eine kleine Menge einer klaren Flüssigkeit auf ein kleines Stück Baumrinde und schob es der Kranken in den Mund. Auch wenn sie zur Zeit ohnmächtig war, so wollte er doch nicht das Risiko eingehen, dass sie im falschen Moment erwachte. Das Mittel würde ihr die Schmerzen nehmen, die er ihr unweigerlich bereiten mußte.



Die nächste Phiole enthielt ein Pulver, von welchem Geron ein wenig auf einen silbernen Löffel nahm. Dann stand er auf, und streute den feinen Staub vorsichtig in den Öltank der nächststehenden Lampe. Schon nach wenigen Augenblicken begann die Flamme zu flackern und wurde dann so hell, dass Tana und Erin unwillkürlich etwas zurückwichen.



In der gleißenden Helligkeit sah Geron, dass der Kranken wahrscheinlich nur noch durch ein Mittel zu helfen war, trotzdem tastete er mit sanften Fingern nochmals den prall gewölbten Bauch der Frau ab. Das Betäubungsmittel hatte schon gewirkt, sie gab keinen Laut von sich - auch nicht, als Geron versuchte, mit stärker werdendem Druck die Lage des Kindes im Mutterleib zu verändern.



Schließlich gab er es auf. Aus dem Deckel des Kastens nahm er ein kleines, sehr scharfes Messer mit langem Griff.



Erin stöhnte auf und Tana zog sich vom Bett zurück so weit sie konnte. Von dieser Operation hatten beide schon gehört. Sie hatten sogar andeutungsweise darüber gesprochen, als es Ael immer schlechter gegangen war. - Aber dass es wirklich so weit kommen würde - daran hatte keiner der beiden gedacht.



"Kommt!" Geron winkte ungeduldig. "Haltet sie fest!“



Geron arbeitete schnell und zielstrebig. Als Tana und Erin ihre Position eingenommen hatten, um Ael niederzuhalten, erneuerte er mit einigen Tropfen Blutbaumsaft die betäubende Wirkung des Korkstückchens im Mund seiner Patientin. Ein wenig Bitterlauchessenz, an der Schnittstelle auf die Haut gebracht, würde Entzündungen verhindern und die Heilung fördern. Noch bevor Tana oder Erin reagieren konnten, hatte Geron das schmale Messer aufgenommen und mit der kurzen, scharfen, Klinge einen tiefen Schnitt gesetzt. Ael stöhnte und begann sich zu bewegen. Mit bleichen Gesichtern griffen ihr Mann und die Nachbarin fester zu.



Geron selbst hatte Zweifel, ob die Operation beide Leben retten konnte. Zwar verfügte er über eine große Bibliothek des Wissens, unter anderem auch über ein anatomisches Fachbuch, in dem beschrieben war, wie eine Tote mit Hilfe des Chirurgen einst ein lebendes Kind geboren hatte. Er hatte sogar selbst schon zwei Kinder auf diese Art an das Licht der Welt geholt; und eines der Kinder hatte überlebt. Es war zu einem kräftigen, gesunden Menschen herangewachsen. Die Mütter waren allerdings beide nicht zu retten gewesen.





Ael atmete flach.



Geron stand der Schweiß auf der Stirn, als seine Hände durch den klaffenden Schnitt suchend in den Bauchraum der Frau eindrangen. Hatte er voreilig gehandelt? Wäre eine normale Geburt doch noch möglich gewesen? Vorsichtig ertastete er den Kopf des Kindes, das in unmöglicher Stellung schräg im Leib der Mutter lag.



Erin stöhnte laut auf, als Geron seine blutbedeckte Rechte wieder hervorzog und das kleinste seiner Skalpelle auswählte. Tana schloß entsetzt ihre Augen.



Vorsichtig führte Geron das kleine Messer in den Bauchraum der Frau hinein. Sorgfältig hatte er es bei seinem ersten Schnitt vermieden, zu viel Gewebe zu zerstören, da wollte er nicht jetzt noch durch Hast alles verderben.



Vorsichtig, mehr tastend als sehend, öffnete er mit kleinen Schnitten die schützende Hülle, die das Kind umgab, griff beherzt noch tiefer und spürte den ungeschützten Körper des kleinen Wesens unter seinen Fingern. Suchend tastete er weiter, bis er ein kleines Füßchen fand, direkt daneben das zweite. Geron faßte zu und zog - So kam es, das Teri, Tochter der Former Ael und Erin, das Licht der Welt mit den Füßen voran erreichte.



Nachdem er das Kind versorgt und in Tanas Obhut gegeben hatte, folgten Gerons Hände der Nabelschnur und räumten die Plazenta vollständig aus der Gebärmutter der Frau. Zum Glück hatte die betäubende Wirkung des Blutbaumsafts jetzt voll eingesetzt; Ael versuchte nicht sich zu bewegen. Hätte sie es versucht, hätte Geron das auch kaum verhindern können. Tana hatte sich mit dem Kind in die Nähe der Feuerstelle zurückgezogen und Erin stützte sich mit glasigem Blick eher auf seine Frau, als dass er sie hielt.



Geron mußte sich beeilen. Fast seinen ganzen Vorrat an Bitterlauchessenz verbrauchte er, um die Wunden zu reinigen und die Blutung ein wenig zu stillen. Schließlich griff er wieder zu seinem Kasten. Mit langen Seidenfäden nähte er schnell und sorgfältig den Schnitt in der Gebärmutter wieder zu. Dann wiederholte er bei dem Schnitt in der Bauchdecke die gleiche Prozedur. Wenn Ael überlebte, würde sie für den Rest ihres Lebens eine dicke, wulstige Narbe tragen, aber die Seide würde sich, mit etwas Glück, nach einigen Wochen aufgelöst haben, ohne Entzündungen zu verursachen.



Geron hatte üble Erfahrungen mit Wundnähmaterialien aller Art gemacht. Immer wieder waren scheinbar problemlose Verletzungen plötzlich wieder aufgebrochen, weil die Wunden sich entzündet hatten. Seide als Nähmaterial war immer noch das Sicherste.



"Deine Frau darf sich fünf Tage lang nicht bewegen. Du mußt sie in allen Dingen versorgen!", wies Geron Erin an. "Steht sie vor der Zeit auf, werden die Nähte reißen und sie wird verbluten."



"Ist sie tot?" Erin hatte Geron überhaupt nicht zugehört. Mit starrem Blick schaute er auf seine reglose Frau, die bleich und klein auf ihrem Lager lag und nicht mehr zu atmen schien.



"Deine Frau ist sehr krank", erklärte Geron geduldig. "Ich werde mehrmals täglich einen meiner Schüler schicken, damit er sie weiter in der Betäubung hält. - Aber du mußt dich um alles andere kümmern. Du mußt sie jetzt pflegen und versorgen."



"Ael!" Erin war am Bett seiner Frau zusammengesunken und hielt nun ihre Hand. Fast sah es so aus, als suche

er

 Schutz bei

ihr

.



Seufzend wandte Geron sich ab und ging zu Tana, die an der Feuerstelle das Kind säuberte. "Atmet es?", wollte er wissen.



"Ja." Tana nickte bestätigend. "Aber es ist jetzt sehr ruhig."



"Gut." Zufrieden hockte sich Geron neben sie, um seine Hände von dem Blut zu säubern. "Gut. Es ist ein tapferes Mädchen. - Wir haben es nicht erschreckt." Wozu hätte er Tana auch erklären sollen, dass die betäubende Wirkung des Blutbaumsafts auch vor dem Kind nicht haltgemacht hatte?



Wenig später richtete Geron sich wieder auf, um in das Verbotene Haus zurückzukehren. Unbehaglich dachte er an die eintausendfünfhundert Stufen, die auf ihn warteten. Als erstem Magischen Mediziner und Waffenmacher der Stadt hätte es ihm natürlich zugestanden, sich von zwei kräftigen Dienern tragen zu lassen, aber er machte nur sehr selten Gebrauch von diesem Recht.



Tana hatte Geron versprochen, sich, anstelle des nicht ansprechbaren Erin, um die Kranke zu kümmern und auch das Kind zu versorgen. Den Rest würden seine Assistenten besorgen, die sich täglich ihre Anweisungen von Geron holten.



"Achte besonders darauf, dass sie sich nicht bewegt, oder bewegt wird!", ermahnte er Tana nochmals vom Eingang aus. "Wir werden sie jetzt für drei Tage unter leichter Betäubung halten; in dieser Zeit bekommt sie nur ein wenig Absud von Fleisch, wenn sie nach Speise oder Trank verlangt, sonst nur etwas Wasser. - Danach gebt ihr für weitere drei Tage leichte Kost, auch viel Fisch und weiter Absud von Fleisch. Wenn sie nicht vorzeitig aufsteht, kann sie genesen."



Den letzten Satz mußte Erin gehört haben. Er stand auf und kam auf Geron zu. "Wird meine Frau leben?", wollte er wissen. "Geron, wird Ael leben? - Versprich mir, dass sie leben wird!"



Gerons Miene verhärtete sich. Konnten diese Leute denn niemals aufhören zu fordern? "Du hast eine Tochter", sagte er zu Erin. "Wie wäre es, wenn Du sie Dir anschaust?" Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und trat auf den Gang hinaus.





Ael genas innerhalb eines Monats mit Hilfe Tanas und ihres Mannes wieder vollständig, nur die Narbe von Gerons Operation machte ihr zeitlebens zu schaffen. Schwanger wurde sie nie wieder.



Das kleine Mädchen wurde nach alter Sitte mit den Namen der bei der Geburt Anwesenden, also Tana und Erin, genannt, voraus man vortrefflich das Wort Teri bilden konnte. Den Namen Gerons mit in den Namen des Kindes zu verflechten, waren die Eltern nicht vermessen genug gewesen.



War Teri in den ersten Tagen ihres Lebens ein sehr ruhiges Kind gewesen, sie regelmäßig an die Brust ihrer betäubten Mutter angelegt wurde, so hatte sie sich später zu einem vollständig normalen, lauten, gesunden Schreihals entwickelt, der seine Eltern den ganzen Tag über zu beschäftigen verstand.



Draußen heulten die ersten Winterstürme über die Klippen und schwere Brandung brach sich an den Gestaden Estadors. Es wurde neues Leben geboren, und manches ausgebrannte Lebenslicht erlosch in diesem Winter. - So wie es seit undenklichen Zeiten gewesen war, in Thedra.







KAPITEL 2 - DER KÖNIG DER STOFFMACHER









Könnte man Klugheit durch Erziehung vermitteln, wo sollten dann die Dummen herkommen?







Still, ganz still, saß Llauk in dem Bretterverschlag, in dem sein Vater die fertigen Tuchballen aufbewahrte. Trotz des weichen Sitzes, den er sich aus einem Schemel und Stoffresten gebaut hatte, wurde die Stellung doch langsam unbequem.



Llauk war müde. Gerne hätte er seinen Posten aufgegeben, doch die selbst auferlegte Pflicht hielt ihn eisern auf seinem Platz fest. Llauk mußte aufpassen.



Wieder und wieder begann das Astloch vor seinem Auge zu einem hellen Fleck zu verschwimmen. Llauk nahm sich zusammen. Solange der Vater nicht in der Werkstatt war, mußte er darauf achten, dass die verdammten Sklaven nicht trödelten oder schwatzten. - Zwar hatte das niemand von ihm verlangt, auch der Vater nicht, aber Llauk hatte schon früh ein Gefühl dafür entwickelt, was Sklaven durften und was nicht:



Früh aufstehen durften sie - und spät ins Stroh kriechen, wenig essen, aber viel leisten, demütig nicken, wenn der Herr sprach, aber nicht schwatzen. - Darum machte Llauk sich die viele Arbeit mit der Überwachung. Denn er wußte natürlich genau, dass die verdammten Sklaven heimlich über ihre Herren lachten und machten was sie wollten.

 



Manchmal bedauerte er, dass sein Vater ein so gütiger Mann war - viel zu gütig für seinen Geschmack. Der Alte ließ die Sklavenbande einfach wirtschaften wie sie wollte und freute sich über jede Elle Stoff, die dabei herauskam. Es brachte Llauk zum Wahnsinn, wenn er sah, wie freundlich sein Vater mit den Arbeitern sprach. Da hatte er bei seinen Freunden in den größeren Stoffmachereien schon ganz andere Umgangsformen kennengelernt. - Beschimpfungen gab es da und Schläge, wenn die Brut nicht spurte. Essensentzug und schwere Ketten.



Nicht, dass die anderen Werkstätten deshalb auch nur eine Elle Stoff mehr hervorgebracht hätten, als die von Llauks Vater, aber darum ging es auch nicht.



Llauk konnte es einfach nicht verwinden, dass sein Vater die Sklaven von gleich zu gleich behandelte und manche von ihnen ganz offen höher einschätzte als seinen eigenen Sohn.

Darum

 lag er hier auf der Lauer und würde nachher versuchen, die verdammte Bande in Mißkredit zu bringen. Bestraft sollten sie werden. Alle! Bestraft!



Llauk bemerkte bei diesen Gedanken, wie ein wohliges Kribbeln seinen Unterleib durchzog. Unwillig blickte er nach unten. - Dafür war jetzt keine Zeit. Zwar würde er dem Vater nachher sowieso alle möglichen Lügengeschichten über die Arbeiter erzählen, aber viel besser wäre es doch, wenn er sie bei einer wirklichen Verfehlung ertappen könnte.



Vergnügt dachte Llauk daran, wie er einmal, als Neunjähriger, die kleine Ngawe, eine Frau aus dem dunkelhäutigen Volk der Kraan, dabei erwischt hatte, wie sie am Webstuhl ein Stück gestohlenen Fleisches gegessen hatte. Llauk war vor Aufregung von seinem Sitz gerutscht und hatte sein Gesicht an die Bretterwand gepreßt bis es schmerzte, als sie das kleine Stück Speck aus ihrem Umhang zog. Das würde Strafe nach sich ziehen, hatte Llauk geglaubt, schwere Strafe!



Die Realität war eher ernüchternd gewesen. Llauks Vater hatte seinem Sohn unwillig zugehört und war dann allein zu Ngawe an den Webstuhl gegangen. Noch nicht einmal laut geschimpft hatte er, als Ngawe ihm gestand, sie habe immer solchen Hunger, da sie schwanger sei. Da Llauks Vater sich beständig weigerte, seine Sklaven anzuketten, wie es allgemein üblich war, war es Ngawe möglich gewesen, sich mit einem der anderen Sklaven einzulassen.



Llauks Miene wurde bitter, als er an die Reaktion seines Vaters dachte. Statt die Ungehorsame zu bestrafen, hatte er ihre Ration erhöht und sie zudem noch von allen schweren Arbeiten freigestellt. Dem Vater des Kindes, dem Dramilen Tos eb Far, hatte er sogar mit trauriger Miene gratuliert, bedauernd, dass dessen Kind schon als Sklave geboren werde.



Der mittlerweile elfjährige Llauk hielt überhaupt nichts von dem Umgangston seines Vaters den Sklaven gegenüber. Mittlerweile war es schon so weit gekommen, dass Ngawes einjähriges Mischlingskind den ganzen Tag lang zwischen den Webstühlen umherkrabbelte und die Leute von der Arbeit abhielt. - So konnte es doch keinesfalls weitergehen.



Heute schienen sich die Sklaven gegen Llauk verschworen zu haben. Sie wollten sich einfach nichts zuschulden kommen lassen. Manchmal hatte Llauk den leisen Verdacht, dass sie seinen geheimen Beobachtungsposten kannten, aber diese Gedanken verwarf er schnell wieder. Dazu war sein Astloch zu gut getarnt. Undenkbar, dass ein dummer Sklave ihm, Llauk, auf die Schliche kommen könne.



Trotzdem rührte sich verdächtig wenig in der Weberei. Schweigend gingen die Arbeiter ihren monotonen Verrichtungen nach, und selbst das Kind spielte schweigend in einer Ecke.



Ermüdet und verdrossen rutschte Llauk von seinem Sitz herunter und legte sich leise auf ein paar Stoffballen. Mit offenen Augen träumte er vor sich hin; träumte von einer goldenen Zukunft, von seiner Zukunft als Stoffmacher - als König der Stoffmacher ...





Schon während Llauk in das Reich der Träume hinüberglitt, spürte Ngawe das Nachlassen seiner Anspannung. Seit sie das Kind empfangen hatte, war sie in der Lage, bis zu einem gewissen Maß in die Gedanken anderer Menschen hineinzuhorchen. Llauk war im Moment keine Gefahr mehr.



Sofort stand Ngawe auf und ging zu ihrem Kind. Es war gut, den Kleinen zu stillen, wenn er noch nicht weinte. Ngawe liebte es nicht ihr Kind weinen zu sehen. Auch Tos eb Far war von seinem Webstuhl aufgestanden und neben seine Frau getreten.



Die anderen Sklaven hatten ebenfalls die Arbeit eingestellt und reckten und streckten die steifen Glieder wohlig von sich. Zwar war niemals darüber gesprochen worden, aber es war allen klar, dass keine Gefahr drohte, wenn Ngawe sich so unbefangen gab.



Nachdem der Kleine getrunken hatte, setzte Ngawe ihren Sohn wieder in den Korb mit den Stoffresten, den der Herr ihr geschenkt hatte. Das Kind gab einige zufriedene Laute von sich, krabbelte wieder aus dem Körbchen und begann still mit einigen alten Weberschiffchen zu spielen, die in der Ecke herumlagen.



Das gefiel Ngawe. Es war gut, wenn ihr Kind nicht schlief, wenn Llauk schlief. So konnte Ngawe versuchen, Llauk Träume zu machen.



Ngawe hielt Llauk zwar für viel zu unsensibel, aber schaden konnte es ja nichts, wenn sie in der Werkstatt leise das Lied des Hochmuts sang - und danach das Lied der Schwäche. Sie bedauerte es sehr, dass sie schon so früh von den Scharleuten am Hafen ihrer Heimatstadt eingefangen worden war. Sie kannte noch nicht alle Texte der Kraan-Lieder. Gern hätte sie Llauk sonst das Lied der Angst gesungen, oder das des Sterbens.





Leise, einer nach dem anderen, hatten die Weber ihre Arbeit wieder aufgenommen. Durch die dünne Bretterwand drang das gleichmäßige Klappern der Webstühle.



Llauk hörte nichts davon. In tiefen Schlaf gesunken lag er auf den Stoffballen, von denen er nicht einen einzigen selbst gefertigt hatte, und schlief. Er hörte nicht die ständigen Arbeitsgeräusche der Sklaven, die für seinen Vater arbeiteten. Llauk schlief tief und traumlos.



Ab und zu waren einige leise gemurmelte Sätze aus der Werkstatt zu hören. Llauk bekam nicht mit, dass die Sklaven sich ein wenig bei der Arbeit unterhielten, `schwatzten', wie er es genannt hätte. Llauk schlief.



Über den vereinzelten Worten der Sklaven erhob sich ganz allmählich, ganz sacht, eine dunkle Stimme, die eine fremdländisch anmutende Melodie summte. Die Gespräche der Arbeiter verstummten, und bald füllte die leise Stimme den Werkstattraum völlig aus.



Hinter der Bretterwand, in Llauks Versteck, konnte man die Worte, die Ngawe sang eher erahnen als verstehen, zudem sang sie in ihrer Heimatsprache. Sie sang von einem König, einem sehr überheblichen König. Llauk bewegte sich im Schlaf. Der schlafende Mensch öffnet Pforten seines Geistes, von denen derselbe Mensch in wachem Zustand gar nichts weiß.



Sanft, unmerklich schlich sich der Zauber der Kraan an Llauk heran, drang in sein Ohr - und machte ihm Träume.





Llauk fand sich in einem Thronsaal wieder. Dass es ein Thronsaal war, wußte Llauk, auch wenn der Raum bis unter die Decke mit Stoffballen vollgestopft war. In der Mitte des riesigen Raumes standen Dutzende, nein Hunderte von Webstühlen, an denen nackte Menschen arbeiteten.



Llauk, der König der Stoffmacher, schritt stolz durch die Reihen. Leiser, fremdartiger Gesang wehte von irgendwoher durch den Raum. Angenehm klangen die Laute in Llauks Ohr, wenn er auch die Worte nicht verstand. - Eine Lobpreisung!



Jetzt fingen auch die Sklaven an den Webstühlen leise an mitzusingen. Llauk meinte seinen Namen herauszuhören. Ja, die Sklaven liebten ihren strengen Herrn. Sie liebten ihn so sehr, dass sie ihm zu Ehren eine Hymne sangen.



Weiter und weiter schritt Llauk durch die Reihen. - Doch was war das? - Leere Webstühle! Ganze Reihen leerer Webstühle! "Mehr Sklaven!", forderte Llauk.



Plötzlich belebten sich die Bänke mit Getier aller Art, das fleißig und folgsam für Llauk zu arbeiten begann. Zufrieden ging Llauk weiter, doch schon nach ein paar Schritten stand er wieder vor leeren Bänken.



"Mehr Sklaven!", forderte Llauk, und nun begannen die Bäume des Waldes für ihn zu weben.



So ging es immer weiter, aber Llauk war nicht zufriedenzustellen. Immer mehr Sklaven forderte er, bis er am Ende die Flüsse und Berge, den Himmel und das Land und sogar die Sonne und den Mond unter seine Fron genommen hatte.



Süß und einschmeichelnd klangen die fremden Worte der Hymne. Sie forderten ihn auf, das Letzte zu wagen. - Und Llauk zögerte nicht. Die letzte Reihe leerer Webstühle mußte besetzt werden. Llauk war der König!

Alle

 sollten für ihn arbeiten - sogar die Götter.



"Mehr Sklaven!" Llauk war glücklich. Mehr konnte ein Mensch nicht fordern. "Mehr Sklaven! Mehr Sklaven!"



Aber die Götter erschienen nicht. Llauk wurde ungehalten.