Ermöglichungsdidaktik (E-Book)

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Deutungsmuster

Mit dem Begriff «Deutungsmuster» (vgl. Arnold, 1985) entwickelte sich innerhalb der erwachsenenpädagogischen Diskussion der 1980er-Jahre eine Kategorie, die es ermöglichte, die prinzipielle Interpretationsabhängigkeit und den Lebensweltbezug des Lernens Erwachsener sowohl theoretisch als auch didaktisch angemessen zu konzeptualisieren.

«Deutungsmuster sind kognitive Perspektiven, die durch alltägliches Handeln erworben, verändert und gefestigt werden und selbst wieder Handeln anleiten. Sie sind lebensgeschichtlich verankert und eng mit der eigenen Identität verwoben und insofern auch affektiv besetzt. Durch ihre handlungsorientierende und identitätsstabilisierende Funktion bieten sie dem Einzelnen Sicherheit, Sinnhaftigkeit und Kontinuität in seinem Verhalten, wobei sie dem Träger nur eingeschränkt reflexiv verfügbar sind. Um Verunsicherungen zu vermeiden, ist das Individuum in der Regel bestrebt, an bestehenden Deutungsmustern festzuhalten und die Umwelt so zu deuten, dass möglichst keine Widersprüchlichkeiten zu bisherigen vertrauten Ansichten entstehen. Die Nachhaltigkeit (Persistenz) und Veränderungsresistenz ist bei solchen Deutungsmustern am größten, die bereits früh im Lebenslauf erworben wurden und grundlegend die Basispersönlichkeit prägen.» (Arnold, 2001a, S. 71)

Erwachsene leben und lernen in einem Modus der Deutung respektive, wie Tietgens (1981, S. 89) es nennt, im «Modus der Auslegung». Biografische Erfahrungen und im Laufe der individuellen Lebensgeschichte entwickelte Deutungsmuster sind bei Erwachsenen sowohl für die Inhaltlichkeit als auch für den Verlauf und die Ergebnisse ihres Lernens prägend. Diese persistente Wirkung der Deutungsmuster kann sich bei erwachsenen Lernenden in ganz unterschiedlicher Weise erwachsenendidaktisch auswirken.

«So kann man zum einen davon ausgehen, dass alles ‹signifikante›, d. h. wirklich verändernde Lernen immer mit einer Transformation bisheriger Deutungsmuster verbunden ist, da Erwachsene sich in der Regel dann auf Lernprozesse einlassen, wenn sie ‹mit ihrer Weisheit am Ende sind› und nach Neuem bzw. weiterentwickelten Interpretations- und Erklärungsmöglichkeiten suchen. Erwachsenenbildung stellt sich uns demnach immer als ein Deutungslernen, d. h. als eine Differenzierungsarbeit an den Deutungsmustern der Teilnehmenden dar. Durch diese Deutungsmusterabhängigkeit des Erwachsenenlernens ist auch das Bild einer Vermittlung von Inhalten ins Wanken geraten. Wenn erwachsene Lernende auch in ihren Lernprozessen ihre Deutungsmuster ‹ins Spiel bringen›, ist davon auszugehen, dass jeder Einzelne von ihnen an einem ‹Lernprojekt› (Holzkamp, 1993, S. 190) arbeitet, Erwachsenenbildung es also nicht mit einem einheitlichen Lernprozess, sondern mit unterschiedlichen Lernprozessen zu tun hat.» (Arnold, 2001a, S. 71 f.)

In der Erwachsenenpädagogik Tätige vermitteln kein bedeutsameres oder passenderes Wissen, sondern präsentieren vielmehr Sichtweisen, arrangieren Lernsituationen und fragen gezielt nach, um individuelle Aneignung im Sinne einer Transformation bisheriger Deutungsmuster zu inspirieren und zu initiieren. Beim Deutungslernen – das bisherige Deutungsmuster nachhaltig zu differenzieren und zu transformieren vermag – geht es nicht primär um Aufklärung durch differenzierteres wissenschaftliches Wissen, sondern viel eher um die Ermöglichung von Selbstaufklärungsprozessen beziehungsweise Selbstbildung. Wichtig ist insbesondere, dass ein solches Differenzierungslernen zu viablen und anwendbaren Erklärungen und Deutungsmustern bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern führt (vgl. ebd.).

Emotionsmuster

Der Deutungsmusteransatz wurde im Laufe der Jahre um einen Emotionsmusteransatz erweitert (vgl. Arnold, 2005), der es ermöglichte, die Relativität der Weltsicht letztlich vor dem Hintergrund früh eingespurter beziehungsweise eingeprägter emotionaler Muster zu verstehen. Individuen rekonstellieren ihre biografisch erworbenen Emotionsmuster insbesondere in bestimmten Leistungs- und Problemsituationen, aber auch im Umgang mit Autorität immer wieder neu. Beim Lehren und Lernen, beim Führen wie auch beim Geführtwerden und ganz allgemein im Alltag folgen wir letztlich unseren tief verankerten und eingespurten Gefühlsroutinen. Es findet somit eine emotionale Konstruktion von Wirklichkeit statt, weshalb man in diesem Zusammenhang auch von einem emotionalen Konstruktivismus spricht (vgl. Arnold, 2005, 2012c). Die Bedeutsamkeit des Emotionalen wird nachfolgend in Abschnitt 2.4 noch einmal ausführlicher aufgegriffen, insbesondere auch mit Blick auf biografische Verankerungen.

1.3 Didaktische Theorien und Modelle

Im Gegensatz zu den lerntheoretischen Ansätzen, die ihren Fokus auf das menschliche Lernen im Allgemeinen und damit nicht zwingend auf das unterrichtliche Geschehen richten, beschäftigen sich die didaktischen Theorien und Modelle ganz gezielt mit dem Unterrichtsgeschehen und etwaigen Einflussfaktoren. Etymologisch leitet sich das Wort Didaktik vom altgriechischen Begriffspaar didaktiké techné, der Kunst des Lehrens, ab. Didaktische Modelle sind als «Theoriegebäude zur Analyse und Planung didaktischen Handelns» (Jank & Meyer, 2018, S. 17) zu verstehen, wobei sich ihre Ausarbeitungen jedoch – je nach Lerntheoriebezug – mitunter deutlich unterscheiden können und divergierende Schwerpunkte setzen. Seit den 1950er-Jahren sind im deutschsprachigen Raum verschiedene didaktische Theorien entstanden, die im Laufe der Zeit adaptiert beziehungsweise weiterentwickelt wurden, in anderen Theorien aufgegangen oder aber auch gänzlich verschwunden sind. Häufig wird zwischen einer Didaktik im engeren Sinne, die sich auf die Frage nach den Zielen und Inhalten von Unterricht fokussiert, und einer Didaktik im weiteren Sinne, die auch Fragen nach den Methoden und Medien stellt, unterschieden (siehe hierzu auch Abschnitt 1.4).

Einen umfassenderen Überblick allgemeindidaktischer Modelle bieten insbesondere Jank und Meyer (2018) sowie Peterßen (2001) oder in kompakter Form auch Lehner (2009). Aktuell lassen sich vor allem drei bedeutende und einflussreiche Ansätze unterscheiden, die in den nachfolgenden Abschnitten 1.3.1 bis 1.3.3 näher ausgeführt werden:

• die bildungstheoretische beziehungsweise kritisch-konstruktive Didaktik nach Wolfgang Klafki (1927–2016);

• die lern- beziehungsweise lehrtheoretische Didaktik, die von Paul Heimann (1901–1967) begründet und von Gunter Otto (1927–1999) und Wolfgang Schulz (1929–1993) weiterentwickelt wurde;

• Modelle konstruktivistischer Didaktik, deren Hauptvertreter insbesondere Horst Siebert (geb. 1939), Kersten Reich (geb. 1948) sowie Rolf Arnold (geb. 1952) sind.

Das didaktische Dreieck

Eine Vereinfachung des Gegenstands der Didaktik stellt das didaktische Dreieck (siehe Abbildung 3) dar, das – im Unterschied zu komplexeren Modellen (siehe Abbildung 4) – lediglich zwischen den Lernenden, dem Lerngegenstand und der Lehrperson unterscheidet. Dieses simple Modell kann aber durchaus bereits die Grundlage komplexerer Analysen von Unterricht bilden, da beispielsweise die Kanten des Dreiecks die unterschiedlichen Beziehungsaspekte zwischen Lehrperson, Lerngegenstand und Lernenden versinnbildlichen. Auch die Fragenkomplexe anspruchsvollerer didaktischer Modelle lassen sich hier durchaus zuordnen, etwa indem über den Aspekt der Lernenden die Frage nach ihren anthropologischen und soziokulturellen Voraussetzungen fokussiert wird – sowie analog dazu die Voraussetzungen der Lehrkraft. Ebenso lässt sich die Frage nach Unterrichtszielen und -inhalten über den Aspekt des Lerngegenstands zugänglich machen. Des Weiteren lässt sich mittels der Verbindungslinie zwischen Lehrkraft und Lerngegenstand auch der Blick auf die «Transformation von Inhalten zu Unterrichtsgegenständen» (Kaiser & Kaiser, 1998, S. 281) richten (vgl. Arnold & Pätzold, 2002, S. 94).


Abbildung 3: Klassisches didaktisches Dreieck


Abbildung 4: Komplexeres Modell unterrichtlichen Planens, Handelns und Analysierens

1.3.1 Bildungstheoretische und kritisch-konstruktive Didaktik

Die bildungstheoretische Didaktik wurde von Wolfgang Klafki in den 1950er-Jahren begründet und auch später maßgeblich geprägt. In den 1980er-Jahren entwickelte er sie zur kritisch-konstruktiven Didaktik weiter. In allererster Linie kann die bildungstheoretische Didaktik als eine Didaktik der Bildungsinhalte gesehen werden, die Schülerinnen und Schülern ihre kulturelle Umwelt näherbringen will. Der Fokus liegt auf der Erschließbarkeit fachlicher Inhalte für die Lernenden.

Damit der Bildungsgehalt von Unterrichtsinhalten bestimmt werden kann, entwickelte Klafki (1958) mit der didaktischen Analyse ein unterrichtspraktisches Modell, das er als den Kern der Unterrichtsvorbereitung bezeichnete. Es entwickelte sich seitdem zu einer der langlebigsten «Reflexions- und Problematisierungshilfen für den Lehrer» (Jank & Meyer, 2018, S. 206), die auch heute noch fester Bestandteil des Lehramtsstudiums ist. Sinngemäß soll dabei geklärt werden, ob es sich lohnt, den Inhalt des Unterrichts den Schülerinnen und Schülern zu vermitteln. Die didaktische Analyse bietet dazu fünf Leitfragen, die der Gegenwartsbedeutung, der Zukunftsbedeutung, der Struktur des Inhalts, der exemplarischen Bedeutung sowie der Zugänglichkeit des Stoffs nachgehen (vgl. Klafki, 1996, S. 270 ff.).

 

Nach Klafki herrscht in der bildungstheoretischen Didaktik ein Primat der Didaktik im engeren Verhältnis vor der Methodik. Damit ist gemeint, dass methodische Fragen erst dann geklärt werden können, wenn sie auf spezifische inhaltliche Aufgabenstellungen Bezug nehmen. Die primär inhaltsbezogene Ausrichtung der bildungstheoretischen Didaktik – ihr Primat des Inhalts – blieb über die Jahre nicht ohne Kritik von unterschiedlichsten Seiten:

«Im Laufe der Zeit erfolgte eine Kritik an der stark inhaltlichen Ausrichtung der bildungstheoretischen Didaktik. Aus ideologiekritischer Sicht wurde dem Ansatz vorgehalten, er stabilisiere über die Bildungsidee die herrschenden Gesellschaftsverhältnisse. Aus empirischer Sicht wurde die fehlende empirische Unterrichtsforschung und aus unterrichtspraktischer Sicht die fehlende Bindung zur Unterrichtspraxis und Unterrichtsmethodik vorgehalten.» (Lehner, 2009, S. 75)

Mit dem Modell der kritisch-konstruktiven Didaktik entwickelte Klafki seine ursprünglichen Überlegungen in den 1980er-Jahren weiter. Dabei bezieht sich das «kritisch» auf die Forderung, dass sich Unterrichtsgestaltung an drei basalen Zielen orientieren soll: Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit. Das «konstruktiv» wiederum fokussiert die Möglichkeit, die Unterrichtsgestaltung aus ihren fest etablierten Formen herauszuholen und sich für neue Praxismöglichkeiten zu öffnen. Klafki (1980) entwirft ein Perspektivenschema zur Unterrichtsplanung (siehe Abbildung 5), das die fünf Punkte der didaktischen Analyse aufgreift und ihnen weitere Elemente, wie die Bedingungsanalyse, Lehr-Lern-Prozessstruktur und die Erweis- beziehungsweise Überprüfbarkeit hinzufügt.


Abbildung 5: Perspektivenschema zur Unterrichtsplanung nach Wolfgang Klafki (1980)

Die Unterrichtsplanung beginnt mit der expliziten Bedingungsanalyse. Darin werden die konkreten soziokulturell vermittelten Ausgangsbedingungen einer Lerngruppe, der Lehrkraft sowie der unterrichtsrelevanten, kurzfristig änderbaren oder nicht änderbaren Bedingungen – einschließlich möglicher oder wahrscheinlicher Schwierigkeiten – untersucht (vgl. Klafki, 1980). Aus der Bedingungsanalyse ergeben sich vier Hauptfelder, die zueinander in Wechselbeziehung stehen (Interdependenzthese):

• Der Begründungszusammenhang: Dabei wird die Frage erörtert, «ob und warum der vorgesehene Lehr- und Lernprozess stattfinden kann beziehungsweise soll» (Peterßen, 2001, S. 86). Gefragt wird hier nach der Gegenwartsbedeutung, der Zukunftsbedeutung und der exemplarischen Bedeutung eines Themas. Mit dem Thema sollen die Erfahrungen der Lernenden angesprochen und allgemeine Zusammenhänge, Gesetzmäßigkeiten und Strukturen aufgezeigt werden.

• Die thematische Strukturierung: Diese beschreibt die Schwerpunktsetzung für das Thema des Lern-Lehr-Prozesses. Sie schließt die Sachstruktur einer Unterrichtseinheit und Überprüfbarkeit des Aneignungsprozesses ein. Damit die thematische Strukturierung erreicht wird, muss man mögliche Perspektiven der Bearbeitung eines Themas, Zusammenhänge mit den anderen Themen sowie benötigtes Vorwissen in den Blick nehmen.

• Die Bestimmung von Zugangs- und Darstellungsmöglichkeiten: Hierbei geht es um die Darstellbarkeit, den Einsatz von Medien oder andere Handlungsmöglichkeiten.

• Die methodische Strukturierung: Hier wird die Lehr-Lern-Prozessstruktur erarbeitet. Somit werden die konkrete Organisation sowie der Ablauf des Unterrichts mit notwendigen Lernhilfen, Sozialformen und Methoden erfasst.

Kritisch wird am Perspektivenschema gesehen, dass es hinsichtlich der Unterrichtsvorbereitung und des Unterrichtsprozesses nicht konkret genug ist, weshalb es im realen Lehreralltag nicht oder kaum umgesetzt werden kann: «Der systematische Zusammenhang von Bildungszielen, Schlüsselproblemen und Perspektivenschema zur Unterrichtsvorbereitung bedarf dringend einer didaktisch und methodisch fantasievollen unterrichtspraktischen Entfaltung» (Jank & Meyer, 2018, S. 237). Des Weiteren lässt sich bemängeln, dass in der bildungstheoretischen wie auch in der kritisch-konstruktiven Didaktik die Methodik nicht ausreichend entfaltet wurde, weshalb die «Verbindung zwischen den differenziert ausgearbeiteten Bildungszielen und der Umsetzung in die Unterrichtspraxis abstrakt» bleibt (ebd., S. 238).

1.3.2 Lern- und lehrtheoretische Didaktik

Die lehrtheoretische Didaktik ist eine Weiterentwicklung des ursprünglichen Berliner Modells, der lerntheoretischen Didaktik. Letztere wurde von Paul Heimann und seinen Assistenten Gunter Otto und Wolfgang Schulz in den 1960er-Jahren an der Pädagogischen Hochschule in Berlin entwickelt. In ihren Ausarbeitungen wurde der Begriff des Lernens ins Zentrum gerückt. Schulz und Otto bauten die lehrtheoretische Didaktik auf diesem Vorgängerkonzept auf. Da beide zu dieser Zeit in Hamburg als Professoren tätig waren, bezeichnet man die lehrtheoretische Didaktik auch als Hamburger Modell.


Abbildung 6: Ablaufschema des Hamburger Modells

Dem Berliner wie auch dem Hamburger Modell liegt jeweils das Ziel zugrunde, Lernsituationen planen und zentrale Strukturmerkmale identifizieren zu können. In beiden Ansätzen liegt der Fokus auf einer Strukturanalyse des Unterrichts, mit der man versucht, die zentralen «Handlungsmomente didaktischen Planens» (Schulz, 1997, S. 40) zu analysieren. Hinsichtlich der konkreten Planungen des Unterrichts lassen sich vier Ebenen unterscheiden (ebd., S. 45; siehe Abbildung 6):

• Die Perspektivplanung: Sie nimmt den Lehrplan eines oder mehrerer Fächer in den Blick sowie notwendige und basale Ziele.

• Die Umrissplanung: Diese beschäftigt sich mit einzelnen Lern- beziehungsweise Unterrichtseinheiten. Leitend sollte hierbei eine «edukative Perspektive des übergreifenden Zusammenhangs» (ebd., S. 47) sein. In der Umrissplanung werden die Unterrichtsziele, die Ausgangslage, die Vermittlungsvariablen und die Erfolgskontrolle fixiert (siehe Abbildung 7).

• Die Prozessplanung: Darin werden die Ergebnisse der Umrissplanung zu einem konkreten Unterrichtsablauf verdichtet.

• Die fortlaufende Planungskorrektur: Jeder Beteiligte ist berechtigt, «die Planung auch in Frage (zu stellen), wenn ihm ein neuer Gesichtspunkt aufgetaucht zu sein scheint» (ebd., S. 54).


Abbildung 7: Die Umrissplanung des Hamburger Modells

Kooperation und Austausch zwischen Lehrenden und Lernenden sind dabei auf jeder Ebene von zentraler Bedeutung. So werden beispielsweise die Unterrichtsziele konstant dialogisch überprüft und nicht allein durch eine Lehrkraft oder eine andere Instanz gesetzt. Interaktion besteht dabei sowohl zwischen den Lehrenden und Lernenden untereinander als auch mit dem jeweils anderen. Das Hamburger Modell stellt dabei sehr hohe Ansprüche an Konsensbereitschaft und Methodenkompetenz, sowohl vonseiten der Lehrerinnen und Lehrer als auch der Schülerinnen und Schüler (vgl. Jank & Meyer, 2018, S. 229).

1.3.3 Konstruktivistische Didaktik

Für die Entwicklung konstruktivistischer Didaktikmodelle sind insbesondere die Arbeiten von John Dewey, Lew S. Wygotski sowie Jean Piaget bedeutsam, da sie wichtige Prinzipien aufgriffen – zum Beispiel Subjektorientierung, Lernen als aktiver, konstruierender sowie sozialer Vorgang –, die im konstruktivistisch orientierten Diskurs aufgenommen und weiterentwickelt wurden (vgl. Reich, 2008, S. 71 ff.). Im deutschsprachigen Raum fanden insbesondere die didaktischen Ausarbeitungen von Kersten Reich, Horst Siebert und Rolf Arnold größere Rezeption (vgl. Lehner, 2009; Terhart, 2009). Wichtige Impulse für die konstruktivistische Lehr-Lern-Debatte lieferten zudem die empirischen Untersuchungen von Heinz Mandl und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

Wie in Abschnitt 1.2.3 dargelegt, geht der Konstruktivismus grundlegend davon aus, dass der Wahrnehmungsprozess eines Individuums keine Realität abbildet, sondern vielmehr eine relative und subjektive Wirklichkeit geschaffen wird. Eine konstruktivistisch orientierte Didaktik muss daher davon ausgehen, dass Wissen auf der Wirklichkeits- und Sinnkonstruktion jeder und jedes einzelnen Lernenden basiert. Kooperation, Kommunikation und Interaktion sind wesentliche Elemente der Problemdefinition und Problemlösung, wobei der Sinnaushandlung und Sinndeutung im unterrichtlichen Kontext eine tragende Rolle zufällt. Eine Subjektorientierung wird mit der Autonomie der Lernenden durch deren operative Geschlossenheit und mit der Selbstreferenzialität begründet. Didaktische Bemühungen müssen also darauf hinauslaufen, Fremdbestimmungsansprüche möglichst zurückzunehmen.

Die konstruktivistische Perspektive verweist auf die Problematik der Strukturdeterminiertheit nichttrivialer Systeme. Dies bedeutet, dass der oder die Lernende nur mit seinen beziehungsweise ihren eigenen kognitiven Zuständen selbstreferenziell interagieren kann (vgl. Gudjons & Traub, 2016). Im Rückgriff auf Abschnitt 1.2.3 und in Erweiterung der Tabelle 2 lassen sich für die dort beschriebenen konstruktivistischen Prinzipien – Strukturdeterminiertheit, Selbstreferenzialität, Nicht-Trivialität – spezifische Konsequenzen für den Unterricht ableiten (siehe Tabelle 5).


Konstruktivistisches Prinzip Verständnis vom lernenden Subjekt Konsequenzen für den Unterricht
Strukturdeterminiertheit Eine Person kann nicht von außen zu einer bestimmten Reaktion veranlasst werden, sondern die interne Struktur bestimmt, wie sich die Person mit den Anregungen aus der Umgebung auseinandersetzt. Versuch, die komplexen affektiv-kognitiven Systeme anzuregen, die nach ihrer eigenen Logik operieren. Lehren ist Anregen von Selbstlernen.
Selbstreferenzialität Die Handlungen des Subjekts wirken auf ihre Struktur zurück, bestätigen oder verändern diese; es besteht eine funktionale Beziehungsstruktur zwischen Umwelt und Organismus, sodass ständig die Wirklichkeitskonstruktionen angewendet, neu entwickelt, überprüft, bestätigt oder verworfen werden. Die aktive Beziehungsgestaltung zwischen der lernenden Person und der sie umgebenden Umwelt kann genutzt werden, um Inhalte dem Individuum «nahe» zu bringen. Das Individuum kann diese Inhalte aus der Umgebung in die eigenen Wirklichkeitskonstruktionen integrieren. Lehren ist nicht Vermittlung, Lernen nicht Aneignung von vorgegebenen Zielen, sondern das Subjekt kann lediglich angeregt werden, seine Wirklichkeit zu hinterfragen, zu überprüfen, weiterzuentwickeln, zu verwerfen oder zu bestätigen.
Nicht-Trivialität Der Organismus hat Geschichtlichkeit und eine strukturelle Dynamik und besitzt nicht wie ein triviales System (z. B. Schreibmaschine) eine kausale und lineare Beziehungsstruktur zwischen Input und Output. Wie ein lernendes Subjekt von außen durch eine Intervention beeinflusst werden kann, z. B. durch Lob, hängt von der situativen Strukturdeterminierung ab, d. h. von seiner Interpretation und Wahrnehmung des Lobes.

Tabelle 5: Konstruktivistisches Verständnis von Lernen und Lehren (adaptiert nach Arnold & Gómez Tutor, 2007, S. 87)

 
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