Die Schuhleiche

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Die Schuhleiche
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Michael Schlinck

DIE SCHUHLEICHE

Kommissar Schlempert nimmt den Dienst auf

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2016


Michael Schlinck, Baujahr 69, lebt heute wieder mit seiner Familie in der Südpfalz, in der er auch geboren wurde und aufgewachsen ist. Neben seiner Liebe zum Schreiben entspannt er sich beim gemeinsamen Musikmachen mit seiner Band und natürlich auch mit seinen Kindern beim Kartfahren.

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016

www.engelsdorfer-verlag.de

INHALT

Cover

Titel

Zum Autor

Impressum

Adrenalin!

Der Tote zwischen Schuhen

Mein neuer Freund der Handwerker

Wiedersehen mit meinem Ex-Kollegen

Ich mag den nicht!

Ach du grüne Neune!

Captain Futures Stuhl

Darf ich vorstellen: Herr Heuler

Was hat denn da geknallt?

Heilig’s Blechle

Alles von Reiner Buttermilch

Schon wieder Schuhe

Was nun?

Nun gehen wir Pilze sammeln

Fisch?

Wieder ein Auto kaputt

Eine Naturbegräbnisstätte

Nächtliche Aktivitäten

Ich nichts wissen!

Endlich wieder ins Büro!

Nun wird es heiß!

Wu sinnen mei Glampfe?

Familie Schlemperts neues Domizil

Nun kommt Licht ins Dunkel

Stimme im Jenseits

Epilog

Ein herzliches Dankeschön geht an


Übersichtskarte

ADRENALIN!

„Was mache ich hier nur?“, frage ich mich, während ich auf meinen Fingernägel kaue. Ich stehe an einem Abhang und schaue hinunter. Hinunter auf ein verschlungenes Asphaltband, das sich wirr auf kleinstmöglicher Fläche zu einem Rundkurs windet. Auf das Asphaltband zu starren, macht nur deshalb Sinn, weil sich dort unten 22 Rennkarts in einer Doppelreihe, Stoßstange an Stoßstange, unaufhaltsam in Richtung Startlinie bewegen. Wie eine Schlange, die sich an ihr Opfer anschleicht, so fahren die Karts im gemäßigten Tempo die Windungen der Strecke entlang, um dann nach der Startfreigabe loszuschnellen. Ebenso wie es eine Schlange macht, wenn sie zuschlägt.

Ich stehe hier, weil im Kart auf Startplatz 11, also in dem sechsten Fahrzeug der linken Reihe, mein Sohn Maik sitzt. Meiner Meinung nach sticht er sogar etwas hervor, in seinem giftgrün-schwarzen Kart. Selbst der hohe Sicherheitssitz, der deutlich über seinen Helm herausragt, hat das auffallende Grün seines Unterstützers „Radikal-Bords“.

So stehe ich hier oben und die Anspannung ist inzwischen unerträglich. Vier meiner Fingernägel haben schon ihren Widerstand aufgegeben und liegen ausgespuckt im Gras vor mir. Zwei Kurven trennen die Meute noch von der Startlinie, an der sie der Rennleiter Tom Ferrero mit der Deutschlandflagge erwartet. Sobald Tom die Formation als ordentlich eingehalten beurteilt, wird er das Rennen freigeben, indem er die Flagge schwenkt. In diesem Moment wird die Adrenalinausschüttung in meinem Körper sämtliche Limits sprengen.

Ich hab ja schon mal darüber nachgedacht, mir im Moment des Starts eine Blutprobe entnehmen zu lassen, um eine Blaupause für die Gewinnung einer Wunderdroge zu haben. Aber zum einen habe ich als Polizeibeamter keine Motivation, die Drogenszene zu unterstützen, obwohl mir dieser Weg eventuell so manche Ermittlung erleichtern könnte. Zum anderen bin ich mir zu tausend Prozent sicher, dass ich in diesem Moment der Anspannung nicht einen Tropfen Blut geben würde.

Wer ich bin? Entschuldigen Sie, ich vergaß, mich vorzustellen. Mein Name ist Dieter Schlempert, Kripohauptkommissar, der, tja, eigentlich der Regionalleitung in Neustadt an der Weinstraße zugehört, aber als Gruppenleiter habe ich mein Büro in Landau in der Pfalz. Eine Rationalisierungsmaßnahme der Landesregierung hat die gesamte Abteilung nach Neustadt verlegt. Als man feststellte, dass wegen der Reaktionszeit und der erforderlichen Ortskenntnisse doch ein Minimalteam in Landau vonnöten ist, wurde ich kurzerhand mit meinem Kollegen Timo Gebauer in ein Büro unterm Dach der Polizeiinspektion Landau befördert.

Zur Verstärkung wurde mir noch eine Kollegin vom Morddezernat in Karlsruhe zur Seite gestellt. Dass ich Gruppenleiter und nicht Abteilungsleiter bin, hat wohl den Hintergrund, dass Abteilungsleiter besser bezahlt sind, was mir eigentlich weniger ausmacht, aber meiner Frau Natalie ein ordentlicher Dorn im Auge ist. Ich versichere ihr auch fortwährend, dass ich mich darum kümmere, wenn es sich ergibt. So etwas an zusätzlichem Barvermögen würde ja auch mich nicht stören, wenn da das Gespräch mit dem Vorgesetzten nicht wäre. Da jedoch diese Abteilung erst seit wenigen Wochen besteht, konnte ich ihr bisher auch glaubhaft zusichern, dass sich eben noch keine Gelegenheit ergeben hat.

Höchste Zeit, wieder nach meinem Sohn zu schauen … Das Feld biegt in die letzte Kurve vor der Startlinie ein und der schnellste vom Zeittraining, der Poolsetter, zieht das Tempo an. Was ist mit Maik? Er hat anscheinend nicht mitbekommen, dass das Feld am Beschleunigen ist, und verliert den Kontakt zum Vordermann. In diesem Moment schwenkt Tom Ferrero die Flagge und gibt das Rennen frei.

Mir bleibt nichts anderes übrig, als zuzuschauen, wie mein Sohn drei, nein, sogar vier Plätze verliert. Na, das kann ja heiter werden! Da haben wir geglaubt, durch Veränderungen am Kart, insbesondere durch die Anpassung der Spurweite der Hinterachse, noch etwas Speed herauszuholen. Maik sagte noch, als er in die Startaufstellung fuhr, er sei sich sicher, dass heute ein Platz unter den ersten fünf möglich sei, jetzt aber muss er schauen, dass er vom fünfzehnten Platz einen Weg nach vorne findet.

In solch einer Anspannung hab ich schon ab und an Angst, die Kontrolle über meine Körperfunktionen zu verlieren. Auch nun habe ich plötzlich das Gefühl, dass irgendwas in meinem Schritt nicht stimmt. Also, ich meine, dass ich mich seit meiner Kindheit nicht mehr eingenässt habe. Aber neulich konnte ich in einem medizinischen Magazin, das bei uns zu Hause herumlag, schon auf der Titelseite lesen, dass Inkontinenz bei Männern in meinem Alter ein gängiges Problem sei. Wenn ich mich recht erinnere, war in diesem Zusammenhang eine Werbeanzeige mit der möglichen Abhilfe gleich mit auf der Seite. Eine – wie soll ich sagen? – Hülle für den besten Freund des Mannes aus demselben Material, aus dem auch Babywindeln hergestellt werden. Ich habe mir vorgestellt, als ich das gelesen hab, dass ich damit sicher aussehen würde wie Mick Jagger in seinen besten Jahren, als er nur mit einer Banane in der Hose auf die Bühne ging.

 

Und nun habe ich das Gefühl, dass da was nicht stimmt! Da ist es wieder, das komische Gefühl. Aber es fühlt sich weder feucht noch warm an. Eher wie ein Kitzeln oder ein Vibrieren. Sicherheitshalber beuge ich mich nach vorn, um doch mal meine Hose zu kontrollieren, bevor ich mich zum Gespött der Rennstrecke mache.

Jetzt, wo ich kopfüber so dastehe und sicher reichlich albern aussehe, höre ich auch noch Geräusche. Nichts Unharmonisches oder gar Erschreckendes. Eher eine Melodie wie der Klingelton meines Handys.

Okay! Jetzt hab ich das Gefühl, mich reichlich albern verhalten zu haben. Erst deute ich den Vibrationsalarm von meinem Telefon als Inkontinenz und dann halte ich den Klingelton für Stimmen aus dem Jenseits.

Jetzt aber erst mal schnell das moderne Telekommunikationsgerät aus der Hosentasche, es macht sich ja schon ne Weile bemerkbar. Im Display sehe ich, dass es mein Kollege Timo ist. Ausgerechnet Timo, der doch weiß, dass ich das Wochenende mit Maik auf der Kartrennstrecke im hessischen Schaafheim bin.

Unfreundlich begrüße ich den jungen Polizisten: „Mensch Timo, du weißt doch, dass ich an der Strecke bin und Maik ist gerade am Fahren.“

„Klar weiß ich das“, entgegnet er mir, „aber was ich dir zu sagen habe, ist äußerst wichtig und duldet leider keinen Aufschub.“

„Na toll!“, fällt mir da nur ein. „Ist auf der Dienststelle die Toilette verstopft? Oder habt ihr keinen Kaffee mehr? Ihr solltet doch auch mal einen Tag ohne mich zurechtkommen.“ Jetzt, wo ich Dampf abgelassen hab, überlasse ich Timo das Wort.

„Bei deinem Freund Mayer wurde eine Leiche gefunden.“

„Wie – beim Gusti? Wie? Wo?“

„Wie? Mausetot natürlich. Und wo? Im Zentrallager in Hauenstein in der Industriestraße …“

„Die Adresse weiß ich, Timo!“ Hält der mich denn für blöd? „Ich kümmere mich hier um alles und melde mich so schnell es geht bei dir. Fahr bitte gleich hin und pass auf, dass keiner Scheiße baut. Vor allem, dass der Spurensicherung nichts durch die Lappen geht. Tschüss.“

Schon hab ich aufgelegt. Genau im richtigen Moment, denn schon kommt Maik mit seinem waidwunden Kart die Boxengasse entlanggerollt. Schnell renn ich den Hang hinunter zu meinem Sohn.

„Was ist passiert?“, will ich wissen.

„Sag mal, Baba, hast du Tomaten auf den Augen?“ Es muss wohl mein entgeisterter Blick sein, der ihn zum Weitersprechen bringt. „Nachdem ich den Start verpennt hatte, bin ich auf Angriff gefahren und konnte in der ersten Runde gleich wieder einen Platz gutmachen. Beim Angriff auf den Nächsten hat der mich, als ich auf gleicher Höhe war, abgedrängt und mich in die Reifen geschickt. Wie sieht es aus? Kann ich weiterfahren? Du weißt, dass ich erst ab der siebten Runde gewertet werde und wir sind gerade mal in der dritten.“

Langsam bekomm ich die ganzen Informationen der letzten Minuten auf die Reihe und beginne, den Schaden am Rennfahrzeug meines Sohnes zu begutachten. Und der ist leider verheerend.

„Vergiss es. Deine Heckstoßstange ist zur Hälfte abgerissen, dein rechtes Hinterrad ist aufgeschlitzt und dein Radstern ist so weit nach innen verschoben, dass der Reifen am Tank schleift. Das heißt, wir können zusammenpacken. Das schaffen wir auch zum zweiten Lauf in einer Stunde nicht.“

Enttäuscht steigt Maik aus und knallt seine Handschuhe und seinen vorgeschriebenen Rippenschutz in den Sitz. Während er den Schaden an seinem Kart begutachtet, klingelt erneut mein Handy. Dieses Mal ist es mein Freund Gustav.

„Hallo, Gusti!“ Zum Weiterreden komm ich gar nicht.

„Dieter, du musst kommen. Bei uns im Lager liegt ein Toter. Ich fahr auch schon hin. Ich weiß ja gar nicht, was ich tun soll. Kommst du, Dieter? Wo steckst du?“ So aufgelöst hab ich meinen Freund ja noch nie erlebt.

„Ich bin noch mit deinem Schützling in Schaafheim auf der Kartstrecke, aber mein Kollege ist auf dem Weg zu dir. Er heißt Timo Gebauer und kümmert sich um alles, bis ich da bin.“

„Okay“, höre ich aus meinem Handy, „aber komm bitte so schnell du kannst, Dieter.“

„Klar mach ich das“, und mit diesen Worten ist das Gespräch beendet.

Obwohl Maik sehr niedergeschlagen ist, hilft er mir tatkräftig. Zwei Tage lang hat er im Schweiße seines Angesichts Runde für Runde gekämpft, die Abstimmung seines Renngerätes verbessert. Nun steht er mit leeren Händen da.

Und doch schaffen wir es innerhalb einer Stunde, unser Fahrerlager abzubauen und alles zu verpacken. Das Wohnmobil haben wir schon am Morgen reisefertig gemacht, damit wir am Abend nicht zu viel zu tun haben. Aus Erfahrung wissen wir nämlich, dass wir am Ende eines Renntages so erledigt sind, dass wir uns über alles freuen, was wir nicht mehr tun müssen.

Auf der Rückfahrt habe ich nun Zeit, mir ein paar Gedanken zu machen. Auch über Gusti. Er betreibt die Firma Schuhqualität in zweiter Generation, die sich im Laufe der Jahre zu einer ansehnlichen Kette entwickelt hat. Es sollten inzwischen so um die zwanzig Verkaufshäuser sein, die Gusti betreibt. Selbst in Belgien und Luxemburg. Des Weiteren hat Gusti noch eine kleine, aber feine Skateboardmanufaktur, in der in Handarbeit edle Skateboards entstehen. Und genau der Name dieser Firma ziert auch das Renngerät meines Sohnes, weshalb ich Maik auch gerne als seinen Schützling bezeichne.

Wie doch die Zeit vergeht, wenn man in Gedanken versunken ist. Beinahe hätte ich die Abfahrt Landau Süd verpasst. Hier verlasse ich die Autobahn 65, die Ludwigshafen oder besser gesagt die Metropolregion Rhein-Neckar in einem Bogen durch die Südpfalz mit dem badischen Karlsruhe verbindet. Mein Weg führt mich über die B38, vorbei am Segelflugplatz auf dem Ebenberg, in die Stadt Landau. Noch vor dem Bahnübergang in Höhe des Vinzentiuskrankenhauses biege ich links ab, um über die L509 Landau in Richtung Wollmesheim zu verlassen.

Beim Ortsschild, aufgestellt in Höhe einer Großbäckerei, kann ich vor mir das Panorama des Wasgaus sehen. Eigentlich ein unscheinbares Mittelgebirge im Südwesten Deutschlands, aber durch seine Ruinen und Felslandschaften unverwechselbar schön. Auch die Madenburg ist schon deutlich zu sehen. Der Anblick der auf 458 Meter Höhe liegenden Burgruine dient mir stets als Orientierungspunkt, da am Fuße der Burg die B48 zwischen den Bergen verschwindet. Genau da muss ich hin. Dort liegt das verschlafene Dörfchen Waldrohrbach, in dem ich mit meiner Familie lebe.

Fünfzehn Minuten nachdem wir die Stadtgrenzen von Landau verlassen haben, parke ich das Wohnmobil mit Maiks Rennanhänger im Hof unseres alten Bauernhäuschens. Kaum habe ich den Motor abgestellt, sehe ich Natalie, meine Frau, aufgeregt aus der Haustür kommen. „Was ist passiert? Warum seid ihr schon zurück? Ist was mit Maik?“ Bei diesen Worten meiner Frau fällt mir ein, dass ich vor lauter Gedanken an Gusti und den auf mich zukommenden Fall total vergessen habe, sie über den Rennverlauf zu informieren. Klar, dass unsere viel zu frühe Ankunft sie in Angst und Schrecken versetzt.

„Mach dir keine Gedanken, Natsch“, versuche ich sie zu beruhigen. „Maik sitzt im Wohnmobil und wird dir alles vom Rennen erzählen. Nur ich muss leider gleich wieder los. Es gibt eine Leiche.“

Während ich in meinen Dienstwagen steige, sehe ich, dass meine Frau immer noch mit offenem Mund auf der gleichen Stelle steht. In der Gewissheit, dass Maik sie schon aufklären wird, fahre ich hastig vom Hof. Statt meiner Frau ist in meinem Rückspiegel nur noch eine Staubwolke zu erkennen.

DER TOTE ZWISCHEN SCHUHEN

Kurz darauf biege ich in die Industriestraße in Hauenstein ein. Jetzt heißt es, Geduld zu bewahren. Überall sind Fahrzeuge mit den unterschiedlichsten Kennzeichen bemüht, einen Parkplatz zu finden. Auf den Gehsteigen sind Menschenmassen mit Tüten bepackt unterwegs. Ja, die Industriestraße ist unter dem Namen „Schuhmeile“ weit über die Grenzen Hauensteins bekannt. Ein Gesetz, bei dem es um in alter Tradition hergestellte Ware geht, erlaubt den ansässigen Händlern, ihre Schuhe auch sonntags zu verkaufen.

Nachdem ich mich durch den Trubel im vorderen Teil der Straße gekämpft habe, kann ich im hinteren Bereich die Einsatzfahrzeuge der Schutzpolizei erkennen. Einen Parkplatz zu suchen, hab ich nun echt keine Lust, also stell ich meinen Dienstwagen direkt am Absperrband vor dem Haupteingang ab. Schon kommt ein uniformierter Schutzpolizist energisch auf mich zu. Mich wundert sehr, dass mir der Kollege in keinster Weise bekannt vorkommt. „Hier ist und bleibt heute geschlossen“, bekomm ich zu hören. „Nehmen Sie Ihre Schleuder und fahren Sie weiter.“

Schleuder? Hat der Kollege eben meine Dienstwagen wirklich Schleuder genannt? Ich meine, dass ich lange für meinen Mini gekämpft habe. Er ist ja auch kein gewöhnlicher Mini. Es handelt sich um das limitierte GP Modell, mit 218 PS bei 1.235 Kilogramm Leergewicht, das ist doch eher ein Wolf im Schafspelz als eine Schleuder. Was ich allerdings dem Schutzpolizisten zugutehalten muss, ist, dass in unserer technischen Abteilung mein Wagen auf schäbig getrimmt wurde. Zudem hat er noch ein paar Raffinessen eingebaut bekommen. So ist er einfach wie geschaffen für verdeckte Ermittlungen.

Ich halte, um mir unnötige Erklärungen zu sparen, einfach meinen Dienstausweis in die Luft.

„Entschuldigen Sie, Hauptkommissar Schlempert. Ich wusste nicht …“

„Schon gut.“ Ich habe keine Lust, mir das peinliche Gestottere weiter anzuhören. Allerdings ist mir schon aufgefallen, dass er schnell lesen kann. „Sind Sie neu bei der Schutzpolizei? Sie sind mir nicht bekannt.“ Nun hat doch meine Neugier gesiegt.

„Nein“, bekomme ich postwendend Auskunft, „ich bin schon seit achtzehn Jahren im Dahner Revier tätig.“

Da habe ich meine Antwort. Klar, der Kollege kommt nicht aus Landau. In Dahn gibt es ja auch noch, ähnlich wie in Annweiler, eine kleine Polizeiinspektion, die nur tagsüber besetzt ist.

Endlich kann ich das Gebäude betreten, in dessen großzügigem Eingangsbereich sich zwei hochlehnige Sofas befinden, die als Wartebereich dienen. In einem sitzt mein Freund Gusti. Wie ein Häufchen Elend sieht er aus. In sich zusammengesunken und kreidebleich.

„Mensch, Dieter! Gott sei dank, dass du da bist.“ Na, das ist doch mal eine Begrüßung. „Ich weiß gar nicht, was ich tun soll. Da will man auf ehrlichem Wege Schuhe verkaufen und dann hab ich ne Leiche im Lager.“

„Hallo, Gusti. Beruhige dich erst einmal. Jetzt bin ich ja da. Hol dir einen Kaffee und ich spreche derzeit mit den Kollegen. Okay?“

„Nichts ist okay. Du weißt doch, dass ich die topmoderne Maschine nicht bedienen kann und Personal hab ich ja am Wochenende keins da, somit kann ich die Aufgabe auch nicht delegieren.“ So viel zu den armen reichen Leuten. „Ach ja, deinen Kollegen hab ich mein Büro zur Verfügung gestellt.“

Da das Büro von Gusti gleich das erste auf der linken Seite ist, brauch ich mich quasi nur auf dem Absatz umzudrehen und die Tür zu öffnen, um bei meinen Kollegen Timo und Laura zu sein. An dem großen Besprechungstisch im vorderen Bereich des großzügigen Büros haben sie ihre Unterlagen ausgebreitet, die bis dato hauptsächlich aus Notizen und ein paar Lieferscheinen bestehen.

„Hallo, ihr zwei“, begrüße ich sie kurz. „Bringt ihr mich bitte mit ein paar Worten auf den aktuellen Stand?“

Laura Schmitt, die wir auf der Dienststelle immer Lara nennen, tritt auf mich zu. Lara nennen wir sie deshalb, weil sie eigentlich die zu Fleisch gewordene Lara Croft aus dem bekannten Computerspiel Tomb Raider ist. Genau so kommt sie jetzt geradewegs auf mich zu. Die khakifarbenen Hosen mit dem superbreiten Gürtel, an dem sie ihre überdimensionale Gürteltasche trägt, betonen ihre athletische Figur noch zusätzlich. Unter ihrer offen stehenden Jacke kann man deutlich das Halfter ihrer Dienstwaffe erkennen und ihre blonden, glatten und halblangen Haare, die sie wie immer zu einem Pferdeschwanz gebunden hat, lassen sie sportlich und zugleich streng erscheinen.

„Viel haben wir noch nicht. Der Wachmann, der heute Vormittag seine Runde drehte, hat die Leiche entdeckt und den Lagerleiter und uns verständigt. Die Leiche ist männlich und etwa Anfang fünfzig.“

„Schon identifiziert?“, will ich wissen.

„Nein, noch nicht. Würgemale am Hals deuten auf ein Kapitalverbrechen. Gefunden wurde er in einer Kiste zwischen Schuhkartons, in Folie verpackt auf einer Europalette.“

 

Da Lara nun ihre Ausführungen beendet hat, beginne ich mit meinen Ermittlungen. „Was sagt der Arzt?“

Nun wird Timo aktiv: „Wie gesagt, Tod durch Ersticken ist naheliegend, was die Hämatome im Halsbereich bestätigen. Die fortgeschrittene Leichenstarre deutet darauf hin, dass unser Opfer schon vor mehr als 36 Stunden von uns gegangen ist. Alles Weitere will er bei der Obduktion feststellen.“

„Okay, und was sagen die Jungs der Spusi?“ Spusi ist unser gängiges Kosewort für die Spurensicherung.

„Also, ein gewaltsames Eindringen in das Lager konnte nicht festgestellt werden. Auch Fingerabdrücke konnten sie nirgends nachweisen.“

„Habt ihr die Anwesenden schon vernommen?“

„Nein, Dieter, damit wollten wir auf dich warten.“

„Okay, dann lassen wir die Leute nicht zu lange warten. Ich werde die Befragung durchführen. Timo, wenn du das Protokoll führst, kann Laura aus der zweiten Reihe das Verhalten der Befragten beobachten.“ Beide nicken zustimmend. Zufrieden mit der Arbeitsteilung frage ich, um die beiden mit einzubeziehen: „Mit wem fangen wir an?“ Einstimmig sind wir der Meinung, zuerst mit dem Wachmann zu sprechen, der die Leiche gefunden hat.

Nachdem ich mich und meine Kollegen kurz vorgestellt habe, beginnt der ältere Mann mit leiser, fast schon piepsiger Stimme zu reden: „Mein Name ist Georg Mayer und ich bin bei der Wach- und Schließgesellschaft Müller in Pirmasens beschäftigt. Gegen 10 : 00 Uhr heute Vormittag kam ich hier in der Firma an, um meinen Routinerundgang durchzuführen.“ Herr Mayer scheint viel Erfahrung beim Berichten zu haben, also werde ich ihn einfach mal reden lassen. „Nachdem ich in den Verwaltungsräumen sämtliche Kontrollpunkte abgescannt hatte, kontrollierte ich den Auszeichnungsbereich und das Lager.“

„War irgendetwas auffällig?“ Jetzt wollte ich doch mal einhaken, damit ich nicht teilnahmslos wirke.

„Nein. Bis dahin war alles wie immer. Beinahe wäre ich auch schon gegangen, wenn ich nicht plötzlich ein leises Piepen aus dem Bereich des Wareneingangs gehört hätte. Ich dachte, dass ein Mitarbeiter sein Handy vergessen hätte und nun der Akku zur Neige ginge. Doch auf dem Schreibtisch beim Wareneingang war keins zu sehen. Aber das Piepen war wieder zu hören, und zwar aus einer der Paletten mit Waren darauf, die gleich hinter dem Wareneingangstor abgestellt sind. Da mir das nun doch sehr ungewöhnlich vorkam, hab ich Herrn Jost verständigt.“

„Wer ist Jost?“, will ich wissen.

Timo hakt gleich ein: „Jochen Jost ist hier der Lagerleiter. Er hat die Schlüsselgewalt und ist auch noch im Haus.“

Diese Antwort von Timo stellt mich vollends zufrieden. „Und wie ging es weiter?“, wende ich mich wieder an Mayer.

„Ich habe dann auf Herrn Jost gewartet und derzeit die Palette identifiziert, aus der das Geräusch gekommen war. Als er dann eingetroffen ist, haben wir entschieden, die Ware auszupacken, um nachzusehen. In einem großen Karton unter den vielen kleinen Schuhkartons machten wir dann die grausige Entdeckung.“

Die Information reicht mir vorerst. Nachdem ich den Wachmann für Montagfrüh in mein Büro bestellt habe, um das Protokoll aufzunehmen, entlasse ich ihn ins Wochenende.

Nun ist Jochen Jost an der Reihe. Er bestätigt die Geschichte von Mayer in jedem Punkt, ich habe aber noch weitere Fragen an ihn: „Wie wurde die Palette angeliefert und woher stammt sie?“

„Die zwölf Paletten beim Wareneingang kamen gestern noch kurz vor Feierabend herein. Ich hatte den Fahrer schon abgewiesen, da wir eigentlich nur bis eine halbe Stunde vor Feierabend annehmen.“

„Wieso haben Sie dennoch die Lieferung angenommen?“

„Ja, das lag daran, dass mir der Fahrer erklärte, er müsse noch bis spät in die Nacht arbeiten, da in ihrer Firma eingebrochen wurde und die Paletten wegen der polizeilichen Ermittlung erst am Nachmittag verladen werden konnten. Also hab ich mich dazu bereit erklärt, die Ware noch schnell in die Halle zu ziehen.“

„Wie ging es dann weiter?“ Dieses Mal ist es Lara, die Jost zum Weitersprechen ermutigt.

„Nichts weiter. Es war schon kurz nach fünf und da ich auch ins Wochenende wollte, hab ich schnell die Alarmanlage aktiviert und fluchtartig das Gelände verlassen.“

Ich muss noch mal nachbohren: „Welche Spedition lieferte die Ware? Und von wo kam sie?“

Jost meint dazu, das sollte ja auf den Frachtpapieren vermerkt sein, die hinten im Lager liegen. „Wenn Sie es wünschen, kann ich sie schnell holen.“

Auf mein Bitten hin läuft Jost gleich los, was mir einen Moment zum Reden mit meinen Mitarbeitern gibt: „Was meint ihr?“

Lara sagt gleich, dass ihr alles absolut glaubwürdig vorkomme und auch in Timos Augen gibt es keinen Anhaltspunkt, der ihn zweifeln lässt. Somit waren wir also alle drei einer Meinung.

Herr Jost kommt mit ein paar losen Blättern zur Tür herein. „Laut Papieren hat uns die Spedition Bock aus Godramstein beliefert und laut Papieren sind die Paletten die letzten Tage in ihrem Lager gewesen.“

Das waren jetzt aber Informationen, die uns auf eine heiße Spur bringen könnten. Schnell bedanke ich mich bei Jost und informiere ihn, dass ich ihn Montagfrüh gerne zur Protokollaufnahme in meinem Büro begrüßen würde. Somit kann er nun auch nach Hause fahren.

Jetzt, wo wir unter uns sind, kann ich meine Mitarbeiter instruieren. Lara beauftrage ich damit, mir schnellstmöglich einen Termin bei der Spedition zu verschaffen, und mit Timo gehe ich in Richtung Lager, um mir selbst ein Bild vom Fundort zu machen.

„Auf, Gusti, machen wir mal ne Betriebsbesichtigung“, fordere ich ihn auf mitzukommen, da er immer noch kaffeefrei auf dem Sofa sitzt.

Wortlos trottet er uns hinterher. Auf unserem Weg kommen wir an weiteren Büros vorbei, die mit Warensteuerung, Buchhaltung und dergleichen beschriftet sind. Nachdem wir durch die große stählerne Brandschutztür gegangen sind, komme ich mir vor, als wäre ich in eine andere Welt getaucht. Nach den angenehm freundlichen Verwaltungsräumen stehen wir nun in einer Riesenhalle mit Hochregalen, die gefühlt bis zum Himmel reichen. Überall Schuhe, Schuhe und noch mal Schuhe. Zielstrebig führt uns Timo quer durch die Halle zu einem Tor, vor dem zwölf Paletten stehen. Elf davon sind noch in Folie eingepackt. Bei der zwölften jedoch ist die Folie zerrissen und um sie stehen lose Schuhkartons.

„Ich denke, dass ich dir den Bereich bis Montagfrüh wieder freigeben kann, damit dein Betriebsablauf nicht weiter gestört wird“, informiere ich den Inhaber.

„Kannst du mir wenigstens sagen, wie ich zu der Leiche gekommen bin, Dieter?“

„Tja, Gusti, wie ich die Sache einschätze, hast du sie frei Haus geliefert bekommen. Was der Grund ist und ob sie überhaupt für dich bestimmt war, heißt es nun herauszufinden. Wir sind hier in ein paar Minuten fertig, dann kannst du auch nach Hause fahren. Allerdings muss ich dich leider bitten, für uns erreichbar zu bleiben für den Fall, dass wir noch einmal in das Gebäude müssen.“

„Komm, Dieter, ich find eh keine Ruhe, ich lade dich zum Essen ein.“

Eigentlich eine gute Idee von ihm, denn erst jetzt fällt mir auf, dass ich seit dem Frühstück nichts mehr in meinen Magen bekommen habe. Normalerweise verschlägt mir der Anblick einer Leiche für mehrere Tage den Appetit, aber heute blieb mir der Anblick durch mein spätes Eintreffen ja erspart. Der bebilderte Obduktionsbericht würde mir frühestens am Montagnachmittag meinen Hunger rauben. Allerdings hat Natalie sicher auch was vorbereitet und ich würde mich freuen, den Samstagabend mit meiner Familie zu verbringen.

Andererseits weiß Gusti auch immer sehr gute Adressen und scheut keine Kosten, seine Gäste kulinarisch zu verwöhnen.

„Natalie wartet, aber komm doch einfach mit zu uns“, versuche ich meinen Konflikt zu lösen.

„Damit deine Kinder Alpträume bekommen, weil wir beim Essen über ein Mordopfer reden? Nee, Dieter, lass mal. Ich will ja nicht bei deiner Familie in Ungnade fallen.“

Da ist auch was Wahres dran. Also gebe ich mich geschlagen. „Okay, aber wir bleiben in der Nähe, damit ich nicht noch später nach Hause komm.“

„Dann gehen wir doch zum Mario nach Waldrohrbach“, sagt Gusti spontan.

Diese Idee sitzt. Mario mit seiner Familie hat durch sein La Rusticana Waldrohrbach deutlich bekannter gemacht, als es für eine 375-Seelengemeinde üblich ist. Im XXL-Wahn hat Mario der Welt gezeigt, was italienischer Gigantismus ist. Eine normale Pizza wird auf zwei Tellern serviert und ein Beilagensalat reicht als Mahlzeit für meine ganze Familie. Mit einem deutlich vernehmbaren Knurren nimmt mein Magen Gustavs Einladung dankend an.

Beim Verlassen des Gebäudes sehe ich Lara noch telefonierend auf dem Gehweg stehen. Ich gehe auf sie zu, um letzte Informationen mit auf den Weg zu nehmen, kann aber nur noch mithören, wie sich Lara verabschiedet.

Unaufgefordert sprudeln die Informationen aus ihr heraus: „Die Geschäftsleitung der Spedition Bock konnte ich nicht erreichen. Allerdings sprach ich mit der Seniorchefin, die mir sagte, dass spätestens ab Montagfrüh um 7 : 30 Uhr das Büro in Godramstein besetzt ist.“

Auch nicht schlecht. So kann ich vielleicht wenigstens einen freien Sonntag mit meiner Familie verbringen.

„Schau bitte noch, ob der Einbruch, von dem der Fahrer sprach, polizeilich aufgenommen wurde und aktenkundig ist. Wenn ja, dann wäre es schön, wenn du es mir nach Hause an meine private E-Mail-Adresse schicken könntest.“ Lara nickt zustimmend und ich verabschiede meine Kollegen ins Wochenende.

Was nun kommt, hat absoluten Seltenheitswert. Gusti, mit dem ich in unserer Freizeit als Rallyeteam unterwegs bin, fährt in seinem Porsche vor mir her über die ländliche Route nach Waldrohrbach, ganz ohne Geschwindigkeitsübertretungen, ohne Überholmanöver, eben wie ein ganz gewöhnlicher Verkehrsteilnehmer, was mir zeigt, wie ihn die ganze Geschichte mitgenommen hat. Gut, dass ich mir nun doch etwas Zeit für ihn nehme.