Sky-Navy 2 - Die Vergessenen

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Aus der Reihe: Sky-Navy #2
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Sky-Navy 2 - Die Vergessenen
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Michael Schenk

Sky-Navy 2 - Die Vergessenen

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1 Warten

Kapitel 2 Falsch abgelegt

Kapitel 3 Ein letzter Auftrag

Kapitel 4Die Stecknadel im Sternenhaufen

Kapitel 5 Das Ding aus dem All

Kapitel 6 Impulse

Kapitel 7 Ungewissheit

Kapitel 8 Neue Hoffnung, neue Angst

Kapitel 9 Auf der Suche

Kapitel 10 Vorbereitungen

Kapitel 11 Das Wrack

Kapitel 12 Die Begegnung

Kapitel 13 Es sind zu viele

Kapitel 14 Das Schwergewicht

Kapitel 15 Vermisst

Kapitel 16 Die Entdeckung

Kapitel 17 Ungereimtheiten

Kapitel 18 Auf Leben und Tod

Kapitel 19 Ohne Ausweg

Kapitel 20 Das trojanische Pferd

Kapitel 21 Begegnung

Kapitel 22 Am Scheideweg

Kapitel 23 Das Flackern des Lebens

Kapitel 24 Ankündigung

Impressum neobooks

Kapitel 1 Warten

Sky-Navy 2

Die Vergessenen

Military Science Fiction

von

Michael H. Schenk

© M. Schenk 2016

Sie standen in der Zentrale des Raumschiffes oder vielmehr dem, was davon übrig war. Das Schiff lag nun schon sehr lange Zeit auf dem Planeten und es hatte die Landung nicht gut überstanden. Die Neigung des Bodens zeigte, dass es schräg lag. Eine der Wände war eingedrückt und gerissen. Pflanzen hatten ihre Ranken bis in die Zentrale getrieben und breiteten sich zunehmend aus. Die zahlreichen Anzeigen und Bildschirme waren matt, die wenigen Sichtluken trübe und teilweise von Moos oder Flechten bedeckt. Viele Instrumente waren zerstört. Einer der Pilotensessel lag am Boden, von der harten Landung aus der Verankerung gerissen. Durch die Öffnung in der Wand war Erdreich hereingeweht worden und es gab keinen Zweifel, dass die Flora des Planeten Fuß gefasst hatte.

„Werden sie kommen?“

„Du fragst mich das seit sehr vielen Jahren, Bewahrer. Natürlich werden sie kommen.“

„Wir warten schon sehr lange. Viel zu lange. Ich glaube nicht mehr, dass sie noch kommen werden.“

„Irgendjemand wird kommen, Bewahrer. Irgendwann. Es ist nicht wichtig, wer kommt oder wann er dies tut. Wichtig ist nur, dass wir vorbereitet sind.“

„Du weißt, dass wir vorbereitet sind. Wir sind es schon seit sehr langer Zeit.“

„Wenn es an der Zeit ist, dann muss alles gelingen, Bewahrer. Keiner der Ursprünglichen darf uns dann entkommen.“

„Wenn sie kommen, dann werden sie auch sterben.“

Kapitel 2 Falsch abgelegt

Öffentliche Zentralbibliothek des Direktorats, Mars-Central, Mars, solares System

Vor über zweihundert Jahren hatte das Terraforming des Mars begonnen. Es war längst nicht beendet und doch war das Bild des einst lebensfeindlichen Planeten vollkommen verändert. Auch jetzt gab es Hügel, Berge und tiefe Schluchten, aber große Teile der vorherigen Öde waren nun Grün. Gräser und Blumen von der Erde trotzen den harten Bedingungen, passten sich an und trugen damit zur Bildung einer atembaren Atmosphäre bei. Es gab inzwischen ganze Wälder der widerstandsfähigen Mars-Kiefern und kleinere Herden von Rindern, die mit dem harten und scharfblättrigen Gras zurecht kamen.

Noch immer arbeiteten die mächtigen Terraform-Konverter, denn der niedrige Luftdruck bereitete gelegentlich noch Probleme. Vor allem während der Sturmperioden konnte sich keiner der Marsbewohner ohne Verdichtermaske außerhalb eines Gebäudes aufhalten. Der Mensch passte sich nicht so leicht an, wie Pflanzen und Tiere, die er importiert hatte.

Über zweihundert Jahre waren vergangen, seitdem die Menschen ihre angestammte Heimat verlassen mussten. Umweltzerstörung, fehlende Ressourcen und Wassermangel machten die Ursprungswelt zunehmend unbewohnbar. Der Weltraum bot den einzigen Ausweg, Milliarden von Menschenleben zu retten. Kurz zuvor war der Cherkov-Überlichtantrieb erfunden worden und so suchte man fieberhaft nach neuem Lebensraum. Man fand ihn auf einigen fernen Welten und man erschuf in sich auf dem Mars.

Die Erde hatte sich unerwartet schnell von der Plage Mensch erholt. Der Hohe Rat des Direktorats, der Senat der vereinten Menschheit, gestattete inzwischen wieder einige bescheidene Siedlungen auf der Erde. Kleinen ethischen Gruppen sollte damit die Möglichkeit geboten werden, ihre angestammten Traditionen zu bewahren. Eine generelle Rückbesiedlung der Erde wurde jedoch ausgeschlossen. Die Wenigsten hätten dies auch gewollt. Die neuen Welten und der Mars waren nun Heimat und Zukunft der Menschheit.

Der Mars bewies zwei wesentliche Fakten: Der Mensch war in der Lage eine fremde Welt nach seinen Wünschen zu formen und er hatte aus der Ausbeutung der Erde nicht viel gelernt.

Die meisten Siedlungen auf dem Mars wurden untermarsianisch angelegt. Sie waren zu einer Zeit entstanden, als die Fluchtwelle einsetzte und das Terraforming des „roten Planeten“ erst am Anfang stand. Es gab noch immer ein paar „rote Zonen“, doch das Antlitz der neuen Welt war längst von Grün und Blau dominiert. Wasser war keine Mangelware. Es gab untermarsianische Vorkommen und es gab den Weltraum, in dem genug gefrorenes Wasser umher flog. Man musste es nur mit den geeigneten Raumschiffen einfangen und dorthin transportieren, wo es benötigt wurde. Mit der Verbesserung der atmosphärischen Bedingungen waren auch zwei obermarsianische Städte errichtet worden.

Mars-Central entwickelte sich dabei zur neuen Metropole der Menschheit und hätte keinen Vergleich mit den Früheren auf der Erde scheuen müssen. Inzwischen war die Stadt das unangefochtene Zentrum der vereinten Menschheit, denn hier war der Sitz des Hohen Rates, jenes Gremiums aus Vertretern aller von Menschen besiedelten Kolonien, die demokratisch über die Geschicke ihrer Bewohner entschieden.

Zu Beginn bestand Mars-Central aus bescheidenen Bauten, die innerhalb der Hülle von durchsichtigen Schutzkuppeln erbaut wurden. Die Grenzen der dieser Kuppel waren nun schon lange überschritten. Gewaltige Bauten aus Bauschaum und Klarstahl erhoben sich in den Himmel, mit grazil wirkenden Tunnelbrücken verbunden. Parks und Wasserflächen boten Entspannung und Erholung für die zwei Milliarden Menschen, die hier lebten und arbeiteten. Die Marsianer bevorzugten es bunt und verspielt. Ihre Wohnbauten zeigten sich in verschiedensten Farbkombinationen. Man liebte dekorative Elemente oder das, was die Bewohner darunter verstanden. Es gab Balkone, Erker, Säulen und Figuren, die es leicht machten, die Gebäude zu unterscheiden. Allerdings führte diese Vielfalt gelegentlich auch für Verwirrung, vor allem bei jenen Menschen, die nicht ständig in der Stadt lebten. Das tetronische Leitsystem der Stadtverwaltung ermöglichte jedoch eine schnelle Orientierung.

Im Zentrum der Stadt ragte die öffentliche Zentralbibliothek auf. Ein schmucklos erscheinender Turm, der sich nach oben leicht verjüngte und in schlichtem Weiß gehalten war. Ein zartblaues Band zog sich, einer Schlange ähnelnd, um das Bauwerk in die Höhe. Auf ihm war, in schlichten weißen Grafiken und Symbolen, die Geschichte der Menschheit dargestellt. Von Anbeginn bis in die Neuzeit. Wer die Darstellung der gegenwärtigen Epoche studieren wollte, musste allerdings Holografien oder einen Schwebeanzug nutzen, denn hier befand sich das Schlangenband in einer Höhe von knapp zwei Kilometern.

Das gesammelte Wissen der Menschheit war hier archiviert. Die meisten Daten wurden in hochmodernen Tetroniken gespeichert. Sie konnten als holografische Projektion aufgerufen werden oder man benutzte sein Implant. Das Implant bestand im Wesentlichen aus einer Daumennagelgroßen Tetronik und wurde dicht hinter dem Ohr eingepflanzt. Es ersetzte, gemeinsam mit den Transmittern des öffentlichen Netzes, die einstigen Kommunikationsmittel. Da der Frequenzbereich begrenzt war, schränkte das öffentliche Netz die Reichweite der Implants ein, so dass eine Verbindung, über mehr als ein Dutzend Meter, nur über die Vermittlung des öffentlichen Netzes möglich war. Implants waren auf dem Mars außerordentlich beliebt, bei den Streitkräften des Direktorats Pflicht, jedoch auf den neuen Welten nur selten zu finden.

 

Wie die meisten Bibliotheken, so gehörte auch die von Mars-Central nicht zu den Publikumsmagneten. Hier war eigentlich nur zu finden, wer einen Arbeitsplatz in der Bibliothek innehatte, etwas recherchieren wollte oder durch einen Schulungsbesuch dazu gezwungen wurde. Ein direkter Besuch war auch nicht erforderlich, da die Daten über das tetronische öffentliche Netz abgerufen werden konnten. Ausnahmen bildeten allerdings jene Informationen, die noch nicht in den Tetroniken gespeichert waren oder die der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht wurden. Bibliothekare, Archivare und Restauratoren waren unermüdlich damit befasst, uralte Dokumente zu scannen oder die Inhalte veralteter Speichermedien auf moderne Datenkerne zu übertragen. Noch immer gab es eine unglaubliche Vielfalt an Daten zu sichern, damit sie der Menschheit erhalten blieben. Es waren Daten aus privaten und öffentlichen Archiven, und es waren Daten aus dem Archiv der Streitkräfte. Zwar legte das Direktorat großen Wert auf die Transparenz seiner Aktivitäten, dennoch wurden viele Informationen als Geheim eingestuft. Der vergangene koloniale Krieg und die Sabotageaktionen während der Rettungsmission für die Hanari hatten gezeigt, wie gefährlich es sein konnte, militärische Informationen ohne Einschränkung freizugeben.

Der koloniale Krieg zeigte noch immer gewisse Auswirkungen. Die neuen Welten legten großen Wert auf ihre Eigenständigkeit und so war der Hohe Rat weniger Regierung, als vielmehr ein Gremium, welches gemeinsame Richtlinien und Gesetze erließ, und nur mit seinen Beschlüssen eingriff, wenn es zu Unstimmigkeiten kam oder das „allgemeine Interesse“ bedroht wurde, wie dies beim Auftauchen der schwarzen Bruderschaft (siehe Sky-Troopers 3 – Piraten!) der Fall gewesen war.

Der koloniale Krieg war aus dem Freiheitsstreben der Menschen heraus entstanden. Neben der Besiedlung des Mars hatten sich die Menschen auch auf verschiedenen Stützpunkten im solaren System und einer Reihe von Kolonialwelten eingerichtet. Die präsidiale Mars-Föderation war durch den Bau der Evakuierungs-Archen und die finanzielle und materielle Unterstützung der Kolonisationsprojekte hoch verschuldet. Sie erhob Steuern von den Kolonien. Dies führte zu Spannungen, die im kolonialen Krieg mündeten, der mit typischer menschlicher Brutalität geführt wurde. Als die Mars-Föderation eine Waffe entwickelte, mit der eine besiedelte Welt vollkommen vernichtet werden sollte, kam es jedoch zu einer Meuterei in der Föderations-Marine, der sich auch Kampfschiffe der Kolonien anschlossen. Die vereinten Streitkräfte sorgten für den Sturz der Mars-Föderation, der das demokratische Direktorat des Hohen Rates folgte. Als gemeinsame Streitkräfte entstanden die Sky-Navy und die Friedenstruppe der Sky-Cavalry. Dies lag nun fast hundertfünfzig Jahre zurück, in denen Frieden auf den Welten der Menschen herrschte.

Inzwischen war man auch auf intelligentes nichtmenschliches Leben gestoßen. Leben, welches durch eine bald entstehende Nova bedroht war. Die Menschheit hatte eine einzigartige interstellare Rettungsaktion durchgeführt und das Volk der Hanari zum Freund gewonnen (Anmerkung: siehe Roman „Sky-Troopers“).

In der öffentlichen Bibliothek von Mars-Central wurde all dieses Wissen bewahrt und der gesamten Menschheit verfügbar gemacht, mit Ausnahme jener Informationen, die vom Hohen Rat als geheim eingestuft wurden.

Jennifer war acht Jahre alt und noch zu jung, um ein Implant zu tragen. Das Mädchen musste sich mit dem tragbaren Mini-Comp begnügen, der am Handgelenk getragen wurde. Es war ein Multifunktionsgerät, das einen Kommunikator und eine kleine Tetronik umfasste.

Jennifer war häufig in der Bibliothek anzutreffen. Während ihre Altersgefährten die verschiedensten Freizeitangebote in Anspruch nahmen, trieb sie sich lieber im „Turm des Wissens“ herum. Sie interessierte sich leidenschaftlich für alles, was mit der Sky-Navy in Verbindung stand. Ihr Berufswunsch wankte augenblicklich noch zwischen Tierärztin und Raumschiff-Kommandantin, aber das Pendel schlug immer weiter zu Gunsten der Sterne aus.

Das Mädchen interessierte sich vor allem für jene Daten, die sich noch nicht auf den tetronischen Datenkernen befanden. Informationen aus den Anfängen der interstellaren Raumfahrt, die noch auf uralten elektronischen Suprachips darauf warteten, konvertiert und transferiert zu werden. Geheimnisse waren dabei kaum zu erwarten, aber es gab alte Schiffspläne und Logbücher, die das Kind faszinierten.

Pierre Demont war der Chef-Bibliothekar von Mars-Central und er freute sich über jedes Kind, welches Interesse an der Arbeit des Archivs zeigte. Für ihn war die kleine Jennifer schon eine alte Bekannte. Es gab kaum einen Wochentag, an dem sie nicht kam und Demont hätte sich ernstlich gesorgt, wäre das Mädchen nicht auch an diesem Tag erschienen.

„Hallo, Jenni“, grüßte er sie mit einem freundlichen Lächeln, als sie in die von Licht durchflutete Empfangshalle trat. „Kommst du mich wieder besuchen?“

„Nur, wenn ich auch wieder nach unten darf.“ Jennifer deutete instinktiv zu den Liftröhren.

„Du weißt, du darfst nur dann nach unten, wenn du mir auch etwas mitgebracht hast.“ Das Lächeln von Demont vertiefte sich und er machte ein gezielt erwartungsvolles Gesicht, als er sich ein wenig vorbeugte, um besser über den Tresen blicken zu können. „Hast du mir denn etwas mitgebracht?“

„Nur wenn du eine Goldmünze für mich hast.“ Die Achtjährige hielt die Tüte in beiden Händen und legte den Kopf leicht zur Seite. „Hast du?“

Es war ihr tägliches Zeremoniell und auch jetzt brachte Pierre Demont das Kunststück fertig, scheinbar aus der Luft eine kleine Plastikmünze herbeizuzaubern. Jennifer lachte vergnügt, während der Bibliothekar ihr die Münze entgegenhielt. „Eine echte spanische Golddublone. Sehr wertvoll und selten.“

Natürlich war Jennifer ein Kind und spielte gerne, doch sie war auch ein sehr aufgeschlossenes und intelligentes Mädchen, welches Demont längst ans Herz gewachsen war. Das Kind tat, als beiße es in das Plastik, um den Goldgehalt zu prüfen und nickte dann. „Scheint okay zu sein.“

„Dann solltest du mir jetzt den Schatz anvertrauen, den du da in der anderen Hand hältst.“

„Nur, wenn ich dann nach unten darf.“

„Ich bin wirklich hungrig, junge Lady.“

„Ich soll also gnädig sein?“

Demont deutete eine Verneigung an. „Wenn es beliebt?“

„Es beliebt. Ich werde sonst sicher von dir aufgefressen. Ich kann nämlich hören wie dein Bauch knurrt.“

Sie reichte ihm die Tüte, die Demont mit gespieltem Erstaunen öffnete. „Ah, welcher Schatz.“ Er nahm das Croissant heraus und beäugte es von allen Seiten. „Du musst wissen, ich bin tatsächlich etwas hungrig.“

Das Spiel machte ihr Freude. Jeden Abend, wenn sie nach Hause ging, gab Demont ihr eine Münze mit auf den Weg. Das Mädchen brachte ihm am darauffolgenden Tag stets eines der Croissants mit, die in der Nähe der Bibliothek von einem leibhaftigen Bäcker hergestellt wurden. Sie waren ein recht kostspieliges Vergnügen, doch Demont hatte französische Wurzeln und war glücklich, dass es ein Stück Heimat auf den Mars geschafft hatte.

„Kann ich jetzt runter?“, hakte Jennifer nach. „Heute kann ich nicht so lange bleiben, musst du wissen.“

Demont schob das Croissant zurück und nickte. „Natürlich, Jenni. Habe ich dir je einen Wunsch abgeschlagen?“

„Ja“, antwortete sie ohne Zögern. „Als ich die Dateien von der Piroga anschauen wollte.“

„Die sind auch nicht für deine hübschen Augen gedacht“, mahnte der Bibliothekar. „Sie waren falsch einsortiert und du hast sie nur deshalb gefunden.“

Jennifer war sehr zuverlässig. Trotz ihrer jungen Jahre bewies sie die Sorgfalt eines echten Bibliothekars und Pierre Demont ließ dem Kind ziemlich freie Hand bei den öffentlichen Dateien. Aber die Dokumentation über die alte Piroga war wirklich nichts für Kinderaugen. Kein Mensch sollte die Opfer eines schweren Reaktorunfalls ansehen müssen.

Pierre Demont nickte einem der Angestellten zu, der für ihn die Position am Empfang einnahm und geleitete Jennifer zu einem der Lifte. Die Konstruktion hatte kaum noch etwas mit denen vergangener Tage gemein. Zwar war es noch nicht gelungen, die Antischwerkraft zu entdecken, dafür konnte man jedoch mit der Shriever-Technologie künstliche Schwerkraft erzeugen. Dank ihr waren die Schwerelosigkeit in Raumfahrzeugen oder die Beharrungskräfte eines Manövers kein Problem mehr, und die Technik hatte vielfältige Anwendungen im Leben der Menschen gefunden. So auch in dem Lift, den die beiden nun betraten. Die Anwahl des gewünschten Stockwerks polte die Shriever-Platten entsprechend, die im Liftschacht angebracht waren, und schon sanken beide rasch nach unten.

„Heute könntest du mir helfen, Jenni“, bekannte Demont. „Wir haben ein paar alte Datenträger gefunden, die aus den Jahren vor dem kolonialen Krieg stammen.“

„Ha, lass mich raten, Monsieur Pierre… Alter Tri-Code?“

„Viel schlimmer, es ist noch alles im komprimierten Binär-Code gespeichert.“ Jennifer klatschte begeistert in die Hände und er musste lachen. „Ich wusste, dass dir das gefallen würde.“

Die Menschen waren die Verschlüsselungen und Komprimierungsraten moderner tetronischer Technologie gewohnt. Kaum jemand kannte noch jene Programme und Codes, mit denen man einst in das Computerzeitalter gestartet war. Die Bibliothek war einer der wenigen Orte, an denen noch Geräte vorhanden waren, mit denen man die alten Speichermedien auslesen und konvertieren konnte. Dazu brauchte man Fingerspitzengefühl und die kleine Jennifer war diesbezüglich ein Naturtalent. Demont übertrieb keineswegs mit der Behauptung, das Mädchen könne ihm helfen.

„Was ist denn auf den Datenträgern drauf?“, fragte sie interessiert.

„Ich weiß es nicht genau, da wir die Datenträger noch nicht überprüft haben. Den Beschriftungen nach sind es Logbücher der Raumkommunikationszentrale der einstigen Mars-Föderation. Wirklich altes Zeug und wahrscheinlich sehr unwichtig.“

Jennifer seufzte. „Na ja, es hat wenigstens ein bisschen mit Raumschiffen zu tun.“

Der Lift hielt und sie befanden sich jetzt auf der zweiundzwanzigsten untermarsianischen Ebene. Scanner und Individualtaster überprüften beide, bevor sich die Türen der Kabine öffneten. Demont hatte persönlich dafür gesorgt, dass Jennifer begrenzten Zugang zu Bereichen erheilt, die dem normalen Besucher verwehrt blieben. Nicht, weil sie Geheimmaterial enthielten, sondern weil man nicht riskieren wollte, dass Daten durch unsachgemäße Behandlung verloren gingen. Die Achtjährige würde keinen Fehler begehen und Pierre Demont zuverlässig um Hilfe bitten, wenn sie auf ein Problem stieß, welches sie nicht selbst lösen konnte. Demont staunte immer wieder über ihre Begabung und ihr Wissen, und war sich sicher, sie eines Tages als Captain eines Navy-Schiffes erleben zu können.

Sie passierten eine Klimaschleuse und betraten einen nüchternen Archivraum. Mehrere Regale, zwei Stühle und ein Tisch, mit einer Reihe modernster und veralteter Datengeräte, bildeten das Mobiliar. Auf dem Tisch stand eine Kunststoffkiste, deren Versiegelung Demont öffnete.

„Wann musst du denn nach Hause, junge Lady?“ Demont lächelte erneut. „Ich sage dir lieber Bescheid, denn wie ich dich kenne, vergisst du wieder die Zeit.“

„Keine Sorge, ich habe ein Memo auf meinem Mini-Comp.“ Sie hob mechanisch das Handgelenk und beugte sich über die Kiste. „Ui, das sind ja noch uralte Kristallträger.“ Sie hob einen der glasmurmelartigen Speicher aus seiner Schutzhülle. Sag mal, Onkel Pierre, kann man die verkaufen, wenn die Daten übertragen sind? Das sind echte Museumsstücke und ich weiß, dass es dafür einen Sammlermarkt gibt.“

Das war Demont neu und es irritierte ihn ein wenig, dass sich die Kleine plötzlich so geschäftstüchtig zeigte. Er war Traditionalist und folgte dem Standpunkt, dass Kinder auch Kinder sein sollten. Sie wurden früh genug mit der Wirklichkeit des realen Lebens konfrontiert. Dann musste er über sich selber lachen. Immerhin spannte er das Mädchen ja für eine durchaus ernsthafte Arbeit ein. „Du brauchst nicht jeden Bit zu prüfen. Es wäre wichtig, dass du feststellst, ob die Beschriftungen der Schutzhüllen mit den Inhalten der Speicher identisch sind. Einlesen, konvertieren und sichern können wir später machen.“

 

„Okay.“

Sie war schon ganz in ihr liebstes Hobby vertieft und Pierre Demont schüttelte auflachend den Kopf und fuhr dann wieder in die Empfangsebene hinauf.

Demont war ein durchaus beschäftigter Mann. Es lag in seiner Verantwortung, den Bestand der Bibliothek zu erhalten und ihn zu erweitern. Dazu gehörte auch die Synchronisation mit den zentralen Datenarchiven der Sky-Navy und der Sky-Cavalry. Die Schiffe der Marine verfügten zudem noch über eigene Datenbanken, die aber natürlich nur einen Bruchteil dessen bieten konnten, was im Archiv der Bibliothek vorhanden war. Zu Demonts Aufgabe gehörte es daher, mit Offizieren der Navy festzulegen, welche älteren Datensätze, bei Updates der Schiffs-Tetroniken, eventuell gelöscht und welche aktuellen Daten hinzugefügt werden mussten. Zusätzliche Arbeit verschaffte die Tatsache, dass fast jeder Raumflug auch seinerseits neue Informationen brachte, die ins Archiv einfließen mussten. Vieles wurde von Hochleistungs-Tetroniken erledigt, doch letztlich blieb der Mensch der entscheidende Faktor.

Nach ungefähr zwei Stunden meldete sich sein Mini-Comp. Auf dem holografischen Display erkannte er die Identifikation und musste unwillkürlich lächeln, als er die Verbindung herstellte. Jennifers Mutter erkundigte sich nach dem Befinden ihrer Tochter. Eine wirklich nette Person, auch wenn sie kein Verständnis für die Leidenschaft ihrer Tochter aufbrachte. Er versicherte ihr, dass das Mädchen pünktlich zu Hause sein werde und widmete sich erneut seiner Arbeit.

Bis sich Jennifer mit ein paar Fragen bei ihm meldete, die Pierre Demont zuerst zutiefst beunruhigten und dann im höchsten Maße alarmierten.

„Äh, Monsieur Pierre, ich hätte da mal eine Frage… Das sind doch Logbücher der alten Raumkommunikationszentrale, nicht wahr?“

„So steht es zumindest auf den Schutzhüllen“, antwortete er schmunzelnd.

„Na ja, also, ich interessiere mich ja eigentlich mehr für Schiffe, als für Tiefenraum-Kommunikation, aber ist es nicht so, dass bei eingehenden Funksprüchen vermerkt wird, ob danach eine Maßnahme veranlasst wird?“

Pierre Demont brauchte nicht lange zu überlegen. „Ja, natürlich. Es gibt Funksprüche, die man weiterleiten muss oder die eine bestimmte Aktion zur Folge haben. Das wird immer vermerkt.“

„Wie bei einem Notruf.“

„Du bist ein kluges Kind.“

„Ja, also… Ich habe hier einen Notruf, der mit dem Vermerk „erledigt“ versehen ist.“

„Das ist auch richtig, Jennifer. Sobald der Notruf an die zuständige Rettungseinheit übermittelt worden ist, wird er als erledigt betrachtet. Der Rest ist dann Sache des Raumrettungsdienstes, also heutzutage der Sky-Navy oder der Sky-Cavalry.“

„Der hier wurde aber nicht weitergeleitet.“

„Ganz sicher wurde er das. Der Operator hat höchstens vergessen, das zu vermerken.“

„Monsieur Pierre, daran habe ich doch auch schon gedacht.“ Jennifers Stimme klang ein wenig beleidigt. „Aber das Kommunikations-Log verzeichnet keinen Funkspruch an eine andere Rettungseinrichtung.“

Pierre Demont stutzte. Menschliches Versagen war nie ganz auszuschließen. Ein Operator mochte tatsächlich einmal vergessen, eine Eingabe zu machen. Aber das Kommunikations-Log war vom Menschen unabhängig. Es zeichnete automatisch alle Handlungen auf, die vom Operator durchgeführt wurden. Wenn das Log, nach Eingang eines Notrufes, keine Weiterleitung verzeichnete, dann war diese auch nicht erfolgt. Es sei denn, man hatte sie von einem anderen Terminal aus vorgenommen, doch das wäre höchst unüblich.

„Warte, Jennifer, ich komme runter.“

Eine halbe Stunde später schickte Pierre Demont das Mädchen zum Empfang hinauf, während er selbst, zum wiederholten Mal, den Datenspeicher der Aufzeichnung aufrief und dabei an sein Implant tippte. „Vermittlung? Geben Sie mir ComMandar Marsden. Mit Priorität.“

Wieder eine halbe Stunde später saß ComMandar Brad Marsden an Demonts Seite. Inzwischen hatte dieser die Datei konvertiert und im tetronischen Format eingelesen.

„Das ist authentisch?“, fragte der Verbindungsoffizier zur Sky-Navy mit belegter Stimme.

„Das ist der exakte Wortlaut. Ich kenne ihn inzwischen auswendig: Notruf von Mayflower. Schwerer Triebwerksschaden durch Meteoriteneinschlag. Müssen notlanden. Koordinaten…“ Selbst diese Zahlenkolonne rasselte Demont fehlerlos herunter. „Das wird einmal wiederholt und dann verstummt der Sender.“

„Und es wurde nicht darauf reagiert?“

„Man hat nicht einmal eine Bestätigung gesendet. Vielleicht hat der Operator gedacht, bei der Laufzeit eines Überlichtspruches würde das nichts bringen. Wenn die von der Mayflower angegebenen Koordinaten stimmen, dann brauchte ihr Notruf zwei Wochen bis zum Mars.“

„Und sonst geschah nichts?“

„Absolut nichts. Als hätte es den Notruf nie gegeben.“

ComMandar Marsden sah einen Moment schweigend auf die Aufzeichnungen. „Unfassbar. So ein Fehler darf einfach nicht passieren.“

Pierre Demont nickte. „Dennoch ist es passiert. Und zwar vor ziemlich genau zweihundert Jahren. Klingelt bei Ihnen etwas beim Namen Mayflower?“

„War das nicht das Shuttle, mit dem der Mars erkundet wurde?“

„Die Mayflower, die den Notruf abgeschickt hat, war ein Tiefenraumschiff mit rund zweitausend Kolonisten an Bord. Ein Schiff der zweiten Kolonisationswelle. Sie wissen schon, ComMandar… Neue Welten für die Zukunft. Das war damals der Slogan des Föderations-Präsidenten. Wissen Sie noch, wie er hieß?“

„Ist das hier jetzt eine Fragestunde?“ Marsden grinste. „Der Mann hieß van Dongen.“

„Genau gesagt, hier er Piet van Dongen und hier kommt es auf Genauigkeit an. Wissen Sie nämlich, wie der Name des Captains der Mayflower lautete?“

„Sie werden mich jetzt gewiss an Ihrem Wissen teilhaben lassen“, knurrte Marsden pikiert.

„Tja, der Captain hieß Jan van Dongen. Er war der Sohn des Föderations-Präsidenten.“

ComMandar Marsden sah Demont entgeistert an. „Verdammt.“

„Der Präsident war damals nicht sehr beliebt“, führte Demont aus. „Damals gab es die ersten Probleme mit den Kolonien. Es ist nur eine vage Vermutung, für die es natürlich längst keine Beweise mehr gibt, aber ich könnte mir vorstellen, dass jener Operator, der den Notruf empfing, auch kein Freund des Präsidenten war.“

ComMandar Brad Marsden sah sich die Aufzeichnung nochmals an. „Ein zweihundert Jahre alter Notruf. Verdammt und dreimal verdammt. Wir werden ein Schiff hinausschicken müssen.“

Nun war Pierre Demont überrascht. „Nach zweihundert Jahren?“

„Die Sky-Navy lässt niemanden im Stich. Wir lassen keinen da draußen.“

„Nach dieser langen Zeit gibt es keine Überlebenden.“

„Wahrscheinlich nicht, obwohl sie eine Landung versuchen wollten. Dennoch wird die Navy nachsehen und versuchen, das Schicksal der Vermissten aufzuklären.“