Wie viel Tier darf's sein?

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Wie viel Tier darf's sein?
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Michael Rosenberger

Wie viel Tier darf’s sein?

Die Frage ethisch korrekter Ernährung

aus christlicher Sicht

MICHAEL ROSENBERGER

Wie viel Tier darf’s sein?

Die Frage

ethisch korrekter Ernährung

aus christlicher Sicht

echter

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

1. Auflage 2016

© 2016 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter.de

Umschlag: www.wunderlichundweigand.de (Foto: shutterstock)

Satz: Hain-Team (www.hain-team.de)

ISBN

978-3-429-03968-4

978-3-429-04873-0 (PDF)

978-3-429-06292-7 (ePub)

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

INHALT

Vorwort

Teil I: Worum es in diesem Buch geht (Einleitung)

1. Die neue Aufmerksamkeit für Ernährung und Fleisch

2. Fleischverzehr als Identitätsfrage

3. Ernährung in der globalisierten Industriegesellschaft

4. Vegan meint mehr als nur Ernährung

4.1 Vegane Lebensmittel

4.2 Vegane Kleidung und Textilien

4.3 Vegane Kosmetik und Medizin

4.4 Veganer Lebensstil

Teil II: Veganismus ist trendy (Sehen)

1. Wird Deutschland vegan(er)?

1.1 Der Fleischverzehr sinkt nicht

1.2 Wer sind die VegetarierInnen?

1.3 Die Jugendszene der VeganerInnen

1.4 Der „neue Veganismus“

1.5 Das Ethos der VegetarierInnen und VeganerInnen

1.6 Die Attraktivität von Vegetarismus und Veganismus

1.7 Das „veganste“ Land ist Israel

1.8 Die Wirtschaft springt auf

Teil III: Die überraschende Nähe

zwischen Christentum und Vegetarismus (Urteilen)

1. Vegetarismus und Veganismus in der Geschichte

1.1 Menschwerdung durch Fleischnahrung in prähistorischer Zeit

1.2 Der religiöse Veganismus und Vegetarismus in Indien

1.3 Der philosophische Vegetarismus der Antike

1.4 Der christliche Vegetarismus im Mönchtum

1.5 Der säkulare Vegetarismus der Neuzeit

1.6 Der Anspruch des Vegetarismus und seine Begründung

2. Vegetarismus und Veganismus in moraltheologischer Perspektive

2.1 Gesundheitsdebatten sind von gestern

2.2 Der Mensch ist dennoch ein Mischkostesser

2.3 Das tierethische Anliegen ist dringend

2.4 Tiere verdienen Gerechtigkeit

2.5 Das Leben ist aber voller Kompromisse

2.6 Die Nutzung von Tieren ist unverzichtbar

2.7 Vegetarische und vegane Lebensweise sind dennoch wertvoll

2.8 Gelassenheit hilft beiden Seiten

2.9 Tierschutz beginnt bei den KonsumentInnen

2.10 Die Eucharistie ist eine vegane Speise

Teil IV: Die Tiere beim Essen

im Blick behalten (Handeln)

1. Weniger ist genug. Fleisch maßvoll verzehren

1.1 Den „neuen Mann“ propagieren

1.2 Die Symbolik des Fleischs gestalten

1.3 Die Preise für Fleisch spürbar erhöhen

1.4 Den Geschmack des Fleischs auskosten

2. Es geht auch mal ohne. „Veganismus auf Zeit“ für alle

3. Tiere besser halten. Fleisch aus ökologischer Tierhaltung

4. Den Lebensstil einer Minderheit schätzen. Vegetarismus und Veganismus als „evangelischer Rat“

5. Tiere als TischgenossInnen wahrnehmen. Die Vision vom Schöpfungsfrieden

Anmerkungen

Literatur

Vorwort

Im Februar 2016 weilte ich wie fast jedes Jahr eine Woche bei guten alten Freundinnen und Freunden in der Toskana. Doch diesmal passierte etwas, was ich in den 30 Jahren meines Kommens noch nie erlebt hatte: Kaum betrat die junge Generation das Haus, begann sie mit mir und der gesamten um den Esstisch versammelten Großfamilie eine lange Diskussion über vegetarische und vegane Ernährung. Wohlgemerkt aßen die jungen Menschen selbst Fleisch. Und sie hatten einstweilen auch keinerlei Absicht, ihre Ernährungsgewohnheiten zu verändern. Doch ihre tägliche Begegnung mit AltersgenossInnen, die auf vegetarische oder vegane Ernährung umgestiegen sind, trieb sie gedanklich aufs Heftigste um.

Die italienischen Familien, in denen ich verkehre, gehören zum Milieu des akademisch geprägten, intellektuellen und kritisch denkenden Katholizismus. In ihren Debatten gab es noch nie Tabus. Auch ihre Ernährung gestalten sie sehr bewusst. Sie wissen, was sie kaufen, und kennen die Herkunft ihrer Lebensmittel sehr genau. Dafür sind sie bereit, deutlich mehr Zeit und Geld einzusetzen, als wir es in Deutschland gewohnt sind. Und doch war der Fleischverzehr in all den Jahren meiner Verbundenheit mit ihnen nie ein Thema gewesen. Das hat sich mit einem Schlag gewaltig verändert.

Mich hat diese Beobachtung sehr bewegt. Denn wenige Tage vor meiner Reise nach Italien hatte ich das Manuskript für dieses Buch abgeschlossen. Ich hatte mich ein halbes Jahr intensiv mit dem Thema einer Ernährung auseinandergesetzt, die auf Tiernutzung ganz oder teilweise verzichtet. Ich hatte darüber hinaus im deutschsprachigen Raum seit vielen Jahren Diskussionen über diese Themen geführt und meinen eigenen Fleischkonsum schon lange auf ein Minimum reduziert. Aber Italien war für mich immer das Land der Slow-Food-Bewegung gewesen, das Land, in dem man deutlich weniger, aber dafür besseres Fleisch isst. Dass sich Vegetarismus und Veganismus jetzt auch in Italien rasend schnell ausbreiten, hatte ich zwar bei den Arbeiten für dieses Buch gelesen und für das Manuskript rezipiert, aber bisher nicht selbst erlebt. Und jetzt sah ich, dass in der kleinen Stadt meiner Freunde innerhalb eines Jahres drei vegane Restaurants eröffnet hatten.

Vegane und vegetarische Ernährung liegen im Trend. Umso mehr bin ich dankbar, dass Heribert Handwerk und Thomas Häußner vom Echter Verlag mich im Sommer 2015 überzeugten, dieses Buch zu schreiben. Es kommt genau im richtigen Augenblick. Geschrieben habe ich es aber nicht um einer Mode willen, sondern weil ich davon überzeugt bin, dass dieses Thema uns viel zu geben hat. An ihm können wir ablesen, wer wir sind und wie wir uns in einer Welt verorten, die wir Glaubenden als Schöpfung Gottes betrachten. In diesem Sinne wünsche ich allen, ob sie vegan, vegetarisch oder Fleisch essend leben, viele anregende Gedanken und den Mut, alte Gewohnheiten in Frage zu stellen.

 

Michael Rosenberger

In der Fastenzeit 2016

TEIL I:

Worum es in diesem Buch geht

(Einleitung)

1. Die neue Aufmerksamkeit für Ernährung und Fleisch

Die Wende vom zweiten zum dritten Jahrtausend war in den Industrieländern eine Wende der gesellschaftlichen Wahrnehmung menschlicher Ernährung. Vor dem Jahr 2000 wurde die ethische Dimension menschlicher Ernährung fast vollständig ausgeblendet. Danach stand sie mit einem Schlag im Rampenlicht. Filme im Kino und Dokumentationssendungen im Fernsehen schossen wie Pilze aus dem Boden. Bewegungen wie Slow Food (Gründung in Italien bereits 1986 – ein weitblickender Vorreiter!) und Nichtregierungsorganisationen wie Food Watch (Gründung in Deutschland 2002) fanden immer mehr Zulauf. Wissenschaftliche Netzwerke beschäftigten sich intensiv mit ethischen Fragen der Ernährung. „Food Ethics“ ist zwischen 2000 und 2010 zum feststehenden Begriff geworden, gemeinsam mit „Food Politics“, „Food Law“ und „Food Philosophy“. 1999 wurde sogar eine wissenschaftliche „European Society for Agricultural and Food Ethics“ gegründet.

Nach einem, vielleicht sogar zwei Jahrhunderten der industriegetriebenen Beschleunigung und Verbilligung des Lebensmittelanbaus und der Lebensmittelverarbeitung deutet sich also eine Umkehr an. Noch findet sie weitgehend in Appellen und Diskussionen statt. Gelebt wird sie höchstens ansatzweise und von einer kleinen Minderheit. Da hat sich der faire Handel eine kleine Nische des Lebensmittelmarkts erobert. Da kaufen manche Menschen konsequent ökologische Produkte. Da wächst die Zahl jener, die auf Fleisch verzichten. Noch ist es ein Minderheitenprogramm. Aber es hat einen Trend in Bewegung gesetzt, der unbeirrt weitergeht und -wächst.

Freilich gibt es auch den Gegentrend, der alle genannten Fortschritte konterkariert und ihre positiven Effekte zunichtemacht: Die überwältigende Mehrheit der KonsumentInnen zahlt auch weiterhin keine fairen Preise, sondern heizt durch ihr wählerisches Einkaufsverhalten einen Preiskampf an, wie er in keinem anderen Segment des Einzelhandels stattfindet. Dem Großteil der Bevölkerung sind Öko- und Bio-Produkte nur so lange erstrebenswert, wie sie nicht mehr kosten als konventionelle Lebensmittel. Und eine Mehrheit der Menschen isst nicht weniger, sondern mehr Fleisch, so dass der durchschnittliche Fleischkonsum in Deutschland unter dem Strich seit Jahren unverändert viel zu hoch ist.

Unter den genannten Aspekten einer ethisch reflektierten Ernährungspraxis wird die Frage des Fleischkonsums und des Verzehrs tierischer Produkte besonders heftig debattiert. Am Leiden der Tiere in der „Intensivtierhaltung“ erkennt der Laie am schnellsten, dass die vorherrschende Erzeugung der Lebensmittel viele Rücksichtslosigkeiten beinhaltet. Die Tiere sind schwächer und wehrloser als die schwächsten Menschen im landwirtschaftlichen System. Mit ihnen wird noch härter verfahren als mit SaisonarbeiterInnen während der Ernte und osteuropäischen LeiharbeiterInnen in den Großschlachtereien. Zugleich sind die Tiere leichter wahrnehmbar als die sogenannten Umweltmedien Boden, Luft und Wasser, die die Intensivlandwirtschaft ebenfalls massiv schädigt, und als die Biodiversität, die Lebensvielfalt, die sie stark bedroht.

Den Tieren sieht man das Unrecht sehr unmittelbar an, das ihnen im heutigen System unserer Lebensmittelerzeugung geschieht. Die Frage des Fleischkonsums und des Verzehrs tierischer Produkte soll daher im Mittelpunkt des vorliegenden Buchs stehen. Wie emotional sie mitunter debattiert wird, wird man da und dort in meinen Ausführungen erahnen. Viele LeserInnen werden das aber schon am eigenen Leib verspürt haben. Denn die einen, die auf den Konsum tierischer Produkte oder wenigstens auf Fleisch verzichten, bringen eine Menge persönliches Engagement ein. Sie verändern ihren Lebensstil in grundlegender Weise. Genau davor schrecken die anderen zurück und fühlen sich in ihren bisherigen Gewohnheiten bedroht.

Zwischen VeganerInnen auf der einen Seite und Fleischbergen auf der anderen steht also der nachdenkliche, noch nicht entschlossene Mensch und fragt sich, welche Seite Recht hat. Wohin führt der ethisch verantwortbare Weg unseres Umgangs mit den Tieren? Sollen wir weitermachen wie bisher? Müssen wir auf die Nutzung der Tiere in Zukunft gänzlich verzichten? Oder gibt es einen Weg der Mitte, der einschneidende Reformen in der Tierhaltung fordert, aber die vegane Ernährungsrevolution nicht für alle durchsetzen will?

2. Fleischverzehr als Identitätsfrage

Eine umfassende Ethik der Ernährung ist ein vielschichtiges und komplexes Ganzes. Das Christentum hat sich daher in seiner Lehre wie vermutlich alle großen Religionen auf einige Aspekte der Ernährungsethik konzentriert und diese durch die 2000 Jahre seiner Geschichte immer hochgehalten. Dazu gehören die Fragen maßvollen Essens und Trinkens, der wechselnden Zeiten von Fasten und Festen, der Gastfreundschaft gegenüber Fremden und Armen, der Solidarität mit den Hungernden. Von Anfang an verdrängt wurden hingegen Fragen des leiblichen Wohlergehens, der Lust und des Genusses von Essen und Trinken. Und schrittweise zurückgedrängt, wenn auch nie ganz vergessen, wurden Fragen des Fleischkonsums, die in der Anfangszeit des Christentums, wie wir noch sehen werden, eine prominente Rolle spielten, nach und nach aber an Bedeutung verloren.

Wie verhält sich das Christentum zum Fleischkonsum? Ist eine vegetarische oder gar vegane Ernährung christliche Pflicht? Ist sie umgekehrt vielleicht verwerflich, weil sie als alternative Heilslehre missverstanden werden kann? Gibt es womöglich, auch das wäre denkbar, eine völlige ethische Neutralität des christlichen Glaubens gegenüber Fleischverzehr und Fleischverzicht? Das ist die leitende Fragestellung dieses Buches. Auffallend ist dabei, dass das Christentum im kultischen Bereich nur vegane Lebensmittel verwendet: Brot, Wein und Pflanzenöl. Tierische Produkte haben (außer für die Armenspeisung) keinen Zugang zum Altar. Wir werden noch sehen, dass das eine Weichenstellung mit weitreichenden Folgen ist. Sie vollzieht sich im deutlichen Unterschied zum Judentum, das zur

Zeit Jesu im Jerusalemer Tempel zahllose Tiere opfert und auch nach dessen Zerstörung im Jahr 70 n. Chr. zumindest im Ritual des Paschamahls bis heute Lammfleisch und ein Ei verwendet.

Vegetarismus und Veganismus haben mittlerweile eine größere Bandbreite an Selbstverständnissen entwickelt. Bis vor wenigen Jahren praktizierten VegetarierInnen und VeganerInnen ihre Ernährungsweise praktisch immer im Kontext einer Weltanschauung. Sie drückten damit tiefgreifende Wertorientierungen aus. Im Zeitalter der Selbstdarstellung hat sich das gelockert. Heute sind Vegetarismus und Veganismus für manche Menschen Lifestyle statt Weltanschauung, Konvenienz statt Ethik, Selbstdarstellung statt Altruismus, Option statt Mission. Aber selbst dann geht es bei der Wahl einer fleischfreien oder gar tierproduktfreien Ernährung um mehr als nur die physische Materie tierischer Lebensmittel.

Ernährung ist symbolische Kommunikation und Interaktion. Über Essen und Trinken vermitteln wir einander verborgene Botschaften über unsere Werte und unseren Lebensstil. Im Essen und Trinken drücken wir uns selber aus: „Der Mensch ist, was er isst.“1Nur wenige Zitate werden so häufig verwendet und sind trotz ihrer Abnutzung so wahr. Die gesamte Identität des Menschen lässt sich an seinem Essen und Trinken erkennen. Denn im Essen und Trinken interagiert der Mensch – ganz gleich ob er allein oder in Gesellschaft ist – mit all jenen, zu denen er unmittelbar oder mittelbar Sozialbeziehungen besitzt – und das heißt mit allen Menschen. Die Ernährung ist Schlüsselmedium sozialer Beziehungen, Symbol für Identität und Differenz aller sich ernährenden Individuen.2

Von daher ist es nur logisch, dass sich FleischesserInnen von VegetarierInnen und VeganerInnen und umgekehrt diese von FleischesserInnen in Frage gestellt, ja sogar angegriffen fühlen – allein dadurch, dass sie miteinander an einem Tisch essen. Fast zwangsläufig wird sich das Tischgespräch der im Raum stehenden Streitfrage zuwenden. Beide Gruppen fühlen sich genötigt, sich voreinander zu rechtfertigen. In diesem Zusammenhang stehen die vielen Witze über VegetarierInnen, von denen ich einige weniger aggressive zitieren möchte:

– Aus dem Leben eines Vegetariers: „Kinder, kommt zu Tisch, das Essen wird welk!“

– Wie nennt man einen dicken Vegetarier in Jugendsprache? – Biotonne.

– Auch die größten Vegetarier beißen nicht gerne ins Gras!

– Was ist der Unterschied zwischen einem Fleischesser und einem Vegetarier? Der Vegetarier stirbt gesünder! – Das Wort „Vegetarier“ kommt aus der Indianersprache und heißt „zu blöd zum Jagen“.

Nicht wenige Spottverse greifen die enge Beziehung zwischen Ernährung und Sexualität auf. Einige der harmloseren seien ebenfalls erwähnt:

– Vegetarier sind die, die Karotten lebendig und nackt ins Wasser werfen.

– Dürfen Vegetarier Schmetterlinge im Bauch haben?

– Platonische Liebe ist vegetarischer Sex!

Witze sagen mehr über die aus, die sie erzählen, als über die, von denen sie erzählen. Es sagt viel, dass Witze rund um das Thema Fleischverzehr alle nur in eine Richtung gehen. Wer Witze macht, fühlt sich angegriffen oder wenigstens in Frage gestellt. Wer die Eigenheiten des anderen akzeptiert, braucht über sie keine Witze machen.

Lebensmittel sind zu Lifestyle-Produkten geworden. Die methodisch leitende Perspektive dieses Buches wird daher die sein, was Fleischkonsum auf der einen und Fleischverzicht auf der anderen Seite über jene sagen, die dies als ihre Ernährungsoption wählen. Welche Identität geben sich Menschen, wenn sie eine Entscheidung für oder gegen tierische Produkte treffen? Denn letztlich geht es in Ethik und Religion immer um die Frage, wer man oder frau sein will.

3. Ernährung in der globalisierten Industriegesellschaft

Eine Auseinandersetzung wie die zwischen FleischesserInnen und VegetarierInnen und VeganerInnen vollzieht sich nicht im luftleeren Raum. Viele der Argumente pro und contra sind ohne den aktuellen gesellschaftlichen Zusammenhang gar nicht nachvollziehbar. Ernährung, einer der grundlegendsten natürlichen Vorgänge aller Lebewesen, vollzieht sich im Kontext der industrialisierten und globalisierten Moderne. Sechs typisen die Ernährung diese Epoche:3

– Die Agrarrevolution hin zu immer zielgenauerer Züchtung, Maschinisierung und Chemisierung.

– Das Entstehen von wenigen global agierenden Lebensmittelunternehmen.

– Der Aufbau einer weltumspannenden Transportkette und Verkehrsinfrastruktur.

– Die Vervielfältigung der Konservierungsmethoden, die den Transport über weite Strecken ermöglichen.

– Die Kommerzialisierung: Praktisch alle Lebensmittel werden heute gekauft. Dies ist nur möglich durch die Privatisierung allen Landes, auch der früheren „Allmende“, also der allen Menschen einer Gemeinschaft miteinander gehörenden Flächen.

– Die räumliche Trennung von Arbeiten und Wohnen, die die räumliche Trennung von Essen und Wohnen zur Folge hat. Mahlzeiten werden zunehmend außer Haus und unter Zeitdruck gegessen.

Diese sechs Charakteristika umreißen gesellschaftliche Umbrüche, die kaum dramatischer gedacht werden können. Zwischen der Landwirtschaft vor 1800 und der nach 2000 bestehen fast keine Übereinstimmungen. Die technische und ökonomische Revolution hat alles von Grund auf verändert. Das gilt auch, ja ganz besonders für die Tierhaltung, die Verarbeitung und den Konsum tierischer Lebensmittel.

Im Folgenden gehe ich in vier Schritten vor:

Noch zu Teil I (Einleitung) gehört die Darlegung der wichtigsten Begrifflichkeiten und der verschiedenen Dimensionen veganen Lebens.

In Teil II (Sehen) untersuche ich den Trend zu vegetarischer und veganer Ernährung, der in den letzten Jahren zu beobachten ist, und frage nach seinen Hintergründen und Ursachen.

Teil III (Urteilen) ist einer vielschichtigen theologischethischen Diskussion über Vegetarismus, Veganismus und Fleischverzehr gewidmet.

Teil IV (Handeln) schließlich richtet sein Augenmerk auf die praktischen Konsequenzen, die sich aus der ethischen Analyse ergeben, und endet mit einer hoffnungsvollen Vision.

4. Vegan meint mehr als nur Ernährung

Der Begriff Vegetarismus ist – anders als die durch ihn bezeichnete Lebensform, die seit der Entstehung der Hochkulturen stets von kleineren oder größeren Gruppen gelebt wurde – erst im England der späten 1830er Jahre im Zusammenhang mit der Gründung vegetarischer Gesellschaften (vegetarian societies) erfunden worden.4 Um 1880 gelangt der Begriff nach Deutschland, wo er anfangs mit „Vegetarianer“ und später dann mit „Vegetarier“ übersetzt wird. Unter dem Sammelbegriff „Vegetarismus“ gilt es, verschiedene Formen des Verzichts auf Nahrungsmittel zu unterscheiden:5

 

– Der Pescetarismus meint den Verzicht auf Fleisch, wobei Fisch, Eier und Milchprodukte gegessen werden. Streng genommen ist dies keine Form des Vegetarismus, sondern höchstens eine Vorform. Dennoch werden PescetarierInnen oft als VegetarierInnen betrachtet, sogar in Meinungsumfragen und Statistiken.

– Der Ovo-Lacto-Vegetarismus bezeichnet den Verzicht auf Fleisch bei gleichzeitigem Konsum von Milch, Milchprodukten und Eiern. Diese Form des Vegetarismus lehnt also ausschließlich das direkte Töten geborener oder geschlüpfter Tiere zum Fleischverzehr ab.

– Der Lacto-Vegetarismus geht einen Schritt weiter und verzichtet neben Fleisch auch auf Eier. Denn in Eiern könnte ja theoretisch der Keim eines Lebewesens liegen.

– Der Veganismus plädiert mit der Tierrechtsbewegung für die Auflösung der gesamten Tierwirtschaft, die er als reine Ausbeutung der Tiere betrachtet, und verzichtet daher neben Fleisch und Eiern auch auf Milch und Milchprodukte. Darüber hinaus tragen VeganerInnen keine Kleidung, die tierische Materialien enthält, und verzichten auf Kosmetika, die mittels Tierversuchen getestet wurden.

– Der Bio-Veganismus ist eine Variante des Veganismus und legt mehr als dieser Wert auf eine ökologische Erzeugung der pflanzlichen Produkte. Gegessen werden nur Pflanzen aus ökologischem Landbau. Allerdings steckt der vegane Ökolandbau noch in den Kinderschuhen, denn der klassische Ökolandbau verwendet tierischen Dünger. Die Frage darf als offen gelten, ob beide Kriterien – vegan und ökologisch – im strengen Sinne gemeinsam verwirklicht werden können.

– Der Fructarismus oder Fruganismus als radikalste denkbare Form will über die Tiernutzung hinaus auch auf das Töten ganzer Pflanzen verzichten und konsumiert daher nur Früchte, die die Pflanzen ohnehin mit dem Ziel hervorbringen, dass sie von Tieren oder Menschen gegessen werden, um mit ihren Exkrementen den Samen zu verbreiten.

FlexitarierInnen hingegen sind Menschen, die zeitweise vegetarisch oder vegan leben, dann aber wieder Fleisch verzehren. Allerdings konsumieren sie relativ bewusst und gezielt Fleisch aus ökologischer und artgerechter Tierhaltung. Sie sind gleichsam „Teilzeit-VegetarierInnen“ oder „Teilzeit-VeganerInnen“. Mir scheint, dass FlexitarierInnen in vielen Statistiken als VegetarierInnen oder VeganerInnen gezählt werden. Selten wird hier präzise unterschieden.

Im Folgenden werde ich mit dem unspezifischen Begriff „Vegetarismus“ den Ovo-Lacto-Vegetarismus bezeichnen. Sofern eine der anderen Formen des Vegetarismus gemeint ist, verwende ich die spezifischere, präzise Begrifflichkeit für diese Form.

Das Wort „vegan“ geht auf den Engländer Donald Watson (1910–2005) zurück, der 1944 die Vegan Society als eine Abspaltung der englischen Vegetarian Society gründete. Der Begriff verbindet die ersten drei und die letzten zwei Buchstaben des Wortes „vegetarian“. Während der Vegetarismus mindestens zweieinhalb Jahrtausende alt ist und eine lange Geschichte hat, handelt es sich beim Veganismus also (abgesehen von der Religion der Jainas, an die man aber kaum anknüpft) um eine sehr junge Bewegung. Ein konsequent veganes Leben ist in einer vorindustriellen Gesellschaft nur sehr schwer möglich gewesen.

Veganismus umfasst – im Unterschied zum Vegetarismus – weit mehr als die Ernährung. Da jegliche Tiernutzung abgelehnt wird, betrifft das auch Kleidung, Kosmetik und sogar Medikamente.

4.1 Vegane Lebensmittel

Das Erkennen rein veganer Lebensmittel ist aufgrund der vielfältigen Verwendung von Stoffen tierischer Herkunft keine einfache Angelegenheit. So wird Gelatine mitunter zum Filtern von Weinen und Fruchtsäften eingesetzt. Bäckereien verwenden tierische Fette. Im Lebensmittelhandel werden vegane Produkte daher, besonders wenn es sich um verarbeitete Produkte handelt, zunehmend öfter gekennzeichnet. Hierzu gibt es das europaweit einheitliche Label der European Vegetarian Union, das eine grüne Pflanze in V-Form darstellt. Im umlaufenden Schriftzug enthält es jeweils die exakte Zuordnung zu einer der vier Kategorien vegan, ovo-, lacto- oder ovo-lacto-vegetarisch. Allerdings darf das Label völlig unabhängig von der ökologischen oder sozialen Qualität der Herstellung eines Produkts verwendet werden. Die gekennzeichneten Produkte stammen meistens aus der konventionellen Landwirtschaft und sind mitunter sogar aus gentechnisch veränderten Pflanzen hergestellt. Letzteres erfährt man ausschließlich im Kleingedruckten, denn in der Europäischen Union besteht eine Kennzeichnungspflicht für alle Lebensmittel mit gentechnisch veränderten Bestandteilen.

Während vegetarische Produkte auch im Segment ökologisch erzeugter Lebensmittel vorhanden sind, gilt dies für vegane Produkte bisher kaum. Denn ökologische Landwirtschaft basiert üblicherweise auf dem Kreislaufprinzip und setzt daher tierischen Mist und Gülle sowie andere „Abfallprodukte“ aus der Tierhaltung ein. Ökolandbau und Veganismus schließen sich nach klassischer Lehre also gegenseitig aus. Dennoch gibt es mittlerweile vereinzelt „bio-vegan“ wirtschaftende Betriebe, die Mitglied eines anerkannten Verbands der Ökolandwirtschaft sind. In Großbritannien und den USA existiert darüber hinaus bereits die Möglichkeit, den landwirtschaftlichen Betrieb nach den „Stockfree Organic Standards“, also den nutztierfreien ökologischen Standards, zertifizieren zu lassen. KonsumentInnen können auf dieser Grundlage biovegan angebaute Produkte am entsprechenden Label klar von anderen Produkten unterscheiden. In Deutschland gibt es derzeit noch keine vergleichbare Zertifizierung.

4.2 Vegane Kleidung und Textilien

Auch Kleidung und andere Textilien enthalten normalerweise einen großen Teil tierischer Stoffe. Ob Leder oder Wolle, Federn oder Knöpfe – einen guten Teil liefern Tiere. Eine konsequent vegane Lebensweise bedeutet, darauf zu verzichten. Lederschuhe und andere Lederwaren werden durch Produkte aus Kunstleder oder Kunstfasern ersetzt. Auch für Wolle, Daunen, Seide und Pelz gibt es Alternativen aus Kunstfasern oder rein pflanzlichen Materialien wie Baumwolle und Baumwollseide. Jedoch muss man selbst dann noch auf viele Details achten, denn beispielsweise Klebstoffe enthalten oft tierische Bestandteile, und Knöpfe werden meist aus dem Horn von Tieren hergestellt.

VeganerInnen zahlen also einen erheblichen Preis: Die Auswahl beim Einkauf von Kleidung und Textilien reduziert sich drastisch, und das Einholen umfassender Informationen ist vielfach unmöglich. Vor allem aber haben Produkte aus Kunststoffen meistens nicht dieselbe Atmungsaktivität und Qualität wie Produkte aus natürlichen, von Tieren stammenden Stoffen. Noch dazu haben Kunststoffe eine viel schlechtere Ökobilanz. Das gilt mit Blick auf die Gewinnung ihrer (fast immer fossilen) Rohstoffe, deren energieintensive Verarbeitung und schließlich ihre umweltbelastende Entsorgung nach dem Gebrauch. Selbst Baumwolle ist keineswegs „unschuldig“. Zumeist stammt sie aus riesigen Monokulturen mit künstlicher Bewässerung. Um sie vor Schädlingen zu schützen, ist sie entweder gespritzt oder gentechnisch verändert. Einzig Bio-Baumwolle schneidet hier besser ab.

4.3 Vegane Kosmetik und Medizin

Ein wichtiges und zugleich leichter zugängliches Segment veganen Konsums sind kosmetische Produkte. Da die Europäische Union seit 2013 keinen Handel mit Kosmetikartikeln mehr zulässt, die selbst oder in einigen ihrer Bestandteile an Tieren getestet wurden, ist die Kosmetikbranche mindestens in Europa tierversuchsfrei. Vegan sind europäische Kosmetika damit in dem Moment, wo sie keinerlei tierische Bestandteile enthalten. Davon gibt es eine Menge, wie man den einschlägigen Listen veganer Organisationen entnehmen kann.

Relativ leicht können VeganerInnen auch auf Besuche von Zoo und Zirkus verzichten, also auf Einrichtungen, die Tiere im Gehege halten oder mit ihnen arbeiten. Der Veganismus sieht solche Einrichtungen, ganz gleich wie artgemäß und achtsam sie mit den Tieren umgehen, als Ausbeutung der Tiere und lehnt sie ab.

An die Substanz geht es, wenn sehr strenge VeganerInnen auch auf Medikamente verzichten, die in Tierversuchen getestet wurden. So weit dürfte vermutlich nur eine verschwindende Minderheit gehen. Doch wird an diesem Beispiel deutlich, wie schwierig, ja nahezu unmöglich es ist, sich einem System von Wirtschaft und Technik völlig zu entziehen, das weitgehend gedankenlos auf die Nutzung von Tieren aufbaut. VeganerInnen sind Teil einer Gesellschaft, die so ist, wie sie ist. Sie leben nicht in einer Eigenwelt und werden damit früher oder später zu Kompromissen gezwungen. Das ist kein Argument gegen ihre Lebensweise. Minderheiten jeder Art und in allen Jahrhunderten kamen und kommen immer an die Grenzen der Möglichkeit, ihre Ideale absolut rein und unverkürzt zu leben. Ihre Standfestigkeit und Beharrlichkeit sind daher umso mehr zu schätzen. Denn egal ob ihr ethisches Urteil richtig oder falsch ist: Es war und ist einer der obersten Grundsätze der kirchlichen Moralverkündigung, dass Menschen ihrem Gewissen folgen müssen. Das taten und tun Minderheiten weit entschiedener und klarer als die Mehrheitsgesellschaft, in der viele sich bequem anpassen, nur um nicht anzuecken. Um es klar zu sagen: Ein Handeln nur um der Anpassung willen kann nie ein moralisch gutes Handeln sein. Denn zu diesem gehört immer eine bewusste, von der Meinung anderer unabhängige und reflektierte Entscheidung.

4.4 Veganer Lebensstil

Der kurze, mitunter unvollständig bleibende Überblick über die vegane Lebensweise zeigt, dass es um weit mehr als nur um die Ernährung geht. Denn der Umgang der Industriegesellschaft mit den Tieren wird grundsätzlich in Frage gestellt. VeganerInnen wollen sich in keiner Weise daran beteiligen – und das betrifft die allermeisten Bereiche ihres täglichen Lebens. Vegan zu leben stellt hohe Ansprüche.