Verschwörungsmythen

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Verschwörungsmythen
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Michael Blume

Verschwörungsmythen –

woher sie kommen,

was sie anrichten,

wie wir ihnen begegnen können

Patmos Verlag

Inhalt

Die tödliche Falle

1. Platons Falle des Dualismus

Der Mensch »als armes oder reiches Wesen«

Monismus versus Dualismus im Judentum

Die Wirkungen von Feindbildern

Fuchs in selbstgebauter Falle: Martin Heidegger

Die Verschwörungsideologie des »Islamischen Staates« (IS)

2. Vom Mobber zum Mörder: die Falle der Schuldumkehr

Der Schub in die Höhle: Hitlers heimliche Angst

Erschütterungen von Zeit und Raum durch neue Medien

Prognose: Kein Staatsstreich für Donald Trump

3. Freiheit statt Verschwörungsglauben

»Falsche Erinnerungen« und der Rothschild-Verschwörungsmythos

Was hilft gegen Verschwörungsglauben?

Gegen Verschwörungsglauben vortragen

Die Arbeit und die Freiheit von Edith Eger

Danke

Anmerkungen

Über den Autor

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Gewidmet

Zehra – für das Miteinander

in Liebe, Glaube, Hoffnung

Die tödliche Falle

»Schließlich sollte man die Tricks,

von denen ich gesprochen habe,

dingfest machen, ihnen sehr drastische

Namen geben, sie genau beschreiben,

ihre Implikationen beschreiben und

gewissermaßen versuchen, dadurch die

Massen gegen diese Tricks zu impfen,

denn schließlich will niemand

ein Dummer sein.«

Theodor Adorno (1967)1

»Sich als Opfer zu definieren

ist ein Bestreiten dessen,

was uns zu Menschen macht.«

Jonathan Sacks (2015)2

»Red Alert« – »Alarmstufe Rot«: Dieser Schriftzug springt Ihnen auch heute noch ent­gegen, wenn Sie die Website http://www.heavensgate.com vom 26. März 1997 aufrufen. An diesem Tag töteten sich die letzten neun Angehörigen der »Klasse«, die durch die Aufgabe ihres Körpers in ein rettendes Raumschiff gebeamt werden wollten. Einen Tag zuvor hatten sich bereits 15 Erwach­sene getötet, einen weiteren Tag davor noch einmal 15. So starben insgesamt 39 Menschen innerhalb von drei Tagen, jeweils in einheitlicher, schwarzer Kleidung und mit jeweils 5,75 Dollar in der Tasche. Auf ihren ebenfalls einheitlichen Armbändern stand »Heaven’s Gate Away Team«. Auch der Gründer der Sekte, Marshall Herff Applewhite (1931–1997), befand sich unter den Toten. Einige Woche später suizidierte sich noch ein weiteres ehemaliges Mitglied, das es »bedauert« hatte, nicht beim »Aufstieg« dabei gewesen zu sein. Ein weiterer Suizidversuch ging fehl.3

Die Anhängerinnen und Anhänger der neureligiösen Gemeinschaft glaubten, dass die Erde von einer Verschwörung »luziferianischer« Außerirdischer kontrolliert werde und der Menschheit ein katastrophales »Recycling« drohe. Nur wenige Auserwählte, die in der internen »Schule« über Jahre hinweg ausgebildet worden waren, würden von einem Raumschiff guter Aliens – darunter Jesus – gerettet, das sich im Gefolge des Hale-Bopp-Kometen befinde. Das Aufgeben ihres Körpers sei demnach nur der Schritt hinauf auf »den nächsten Level«. Dieser Glaube führte sie in den Tod.

Wir wollen uns gern einreden, dass hier nur vereinzelte, willensschwache Menschen in eine Art »Gehirnwäsche« geraten und so in den Tod getrieben worden wären. Doch dass Applewhite Philosophie studiert und an einer Hochschule Musik gelehrt hat, dass kluge und gebildete Mitglieder der Gruppe zuletzt durch das Programmieren von Websites Geld verdient haben, verunsichert uns. Der Religionswissenschaftler James Lewis bemerkte schon 2003 in einer Studie zu Heaven’s Gate: »So lange eine neue Religion die Sorgen ihrer Follower anzusprechen vermag, werden selbst Dinge wie eine fehl­geschlagene Prophezeiung oder offensicht­liche Heuchelei ihres Anführers keine Glaubenskrise auslösen. [...] Es war daher ein relativ kleiner Schritt für Applewhite, einen Gruppensuizid zu begründen.«4

Aber so etwas, so werden wir uns vielleicht trösten, kann doch sicher nur in den USA oder anderen weit entfernten Gesellschaften geschehen.

Wirklich? Zwischen 1994 und 1997 ermordeten und töteten sich in insgesamt vier Gruppen insgesamt 74 Anhängerinnen und Anhänger des »Sonnentempler«-Ordens in der Schweiz und in Kanada. Eltern nahmen Kinder mit in den Tod. Zu den Mitgliedern der überaus wohl­habenden Gemeinschaft zählten Arzt- und Unternehmer-, Bürgermeister- und Musikerfamilien ebenso wie Polizisten. Presseberichte, Ermittlungen und sogar zeitweilige Verhaftungen hatten die Mitglieder auch nach dem Suizid ihres Anführers nicht davon abhalten können, gruppenweise ihre »Reise in die Ewigkeit« anzutreten. Auslöser der Mord- und Selbstmordserie war der Verschwörungsglaube des Sektengründers, der in seiner Tochter den Messias und in einem anderen Jungen den »Antichristen« erkannt haben wollte.5

Mit ungezählten Toten rasten im 20. Jahrhundert auch politische Bewegungen in den kollektiven Suizid. Noch 1926 hatte sich zum Beispiel der sowjetische Gewerkschaftsführer Michail Tomski an der Kampagne Stalins gegen dessen – später in Mexiko ermordeten – Rivalen Leo Trotzki (1879–1940) beteiligt. Ein Jahr später hatte Tomski in der »Prawda« (»Die Wahrheit«) noch launig erklärt, dass »unter der Diktatur des Proletariats zwei, drei oder vier Parteien existieren können, aber unter der einen Bedingung: dass eine von ihnen an der Macht und die anderen im Gefängnis sind«. Doch später wurde auch er selbst samt »Mitverschwörern« im Namen der Partei verhaftet, gefoltert und ermordet.6

Schon bis 1938 waren fast alle Gründungskader der Kommunistischen Partei, Abertausende einfache Parteimitglieder aller Ebenen und mehr als 10.000 Offiziere der Roten Armee dem Verschwörungsglauben, dem Terror von Säuberungen, Folterungen und gegenseitigen Beschuldigungen sowie erzwungenen Suiziden zum Opfer gefallen.7 Traurige Mytho-Logik, dass Stalin nach dem »antifaschistischen« Sieg über das Hitler-Reich ebenfalls zu­nehmend zum Antisemitismus griff, Juden öffentlich anprangern und wegen einer angeblichen »Ärzteverschwörung« inhaftieren ließ.8

Von Adolf Hitler wird in diesem Buch noch öfter die Rede sein. Auch er trieb Millionen in den Tod und nahm sich schließlich feige selbst das Leben – nicht ohne zuvor noch die vermeintlichen jüdischen Weltverschwörer für den von ihm selbst aktiv befeuerten Krieg und den Holocaust verantwortlich zu machen. In seinem politischen Testament schrieb er: »Es werden Jahrhunderte vergehen, aber aus den Ruinen unserer Städte und Kunstdenkmäler wird sich der Haß gegen das letzten Endes verantwortliche Volk immer wieder erneuern, dem wir das alles zu verdanken haben: dem internationalen Judentum und seinen Helfern!«9 Dass heute ein libertärer Antisemit wie Tilman Knechtel auch in deutscher Sprache unter großem digitalen Zuspruch verkündet, die jüdische Familie Rothschild habe beide Weltkriege, das NS-Regime und den Holocaust entfesselt, um die Gründung des Staates Israel zu erzwingen, erschüttert mich sehr. Denn Knechtel ist nicht nur in der gleichen Stadt wie ich geboren, sondern hat mit vielen anderen genau die politische Weltanschauung vergiftet, die auch mich prägte – den Liberalismus.10 Die in meiner Jugend noch beliebte »Hufeisen«-Theorie, nach der Verschwörungsglaube nur auf der politischen Rechten und Linken vorkomme, betrachte ich inzwischen als widerlegt.

Als Mitgründer einer christlich-islamischen Gesellschaft und als christlicher Ehemann einer sun­nitischen Muslimin ist die Auseinandersetzung mit Rassismus und verschwörungsmythischer Islamfeindlichkeit für mich und uns Alltag. Seit 2015 wurde ich als Leiter des baden-württembergischen Sonderkontingents für besonders schutzbedürftige Frauen und Kinder im Irak mit einer weiteren politisch-religiösen Terror- und Selbstmordsekte konfrontiert: dem selbst­ernannten »Islamischen Staat« (IS). Gemeinsam mit unseren kurdisch-irakischen Verbündeten konnten mein Team und ich 1.100 vor allem ezidische Frauen und Kinder, die Opfer des IS geworden waren, aus dem Kriegsgebiet ausfliegen.11

Unser leitender Psychologe Jan-Ilhan Kizilhan befragte Gefangene des IS und veröffentlichte ein Buch über die »Psychologie des IS«.12 Denn so bizarr es auch klingen mag: Auch beim IS handelt es sich um eine messianisch-apokalyptische Sekte, die auf der Basis alter Prophezeiungen darauf hofft, dass Jesus an ihrer Seite in die Schlacht ziehen und die Erde von allen »Ungläubigen« reinigen werde. Konfrontiert mit vielen Fragen gerade auch befreundeter Musliminnen und Muslime dazu, konnte ich 2017 in einem Buch Gründe des Zerfalls der einst so großen islamischen Zivilisation analysieren.13 Am 15. Juni 2020 sagte ich schließlich als Sachverständiger vor dem Oberlandesgericht Frankfurt über die mörderische und selbstmörderische Ideologie des IS aus.

 

2018 wurde ich auf Vorschlag der jüdischen Landesgemeinden von Landesregierung und Landtag Baden-Württembergs als erster deutscher Regierungsbeauftragter gegen den wiedererstarkenden Antisemitismus berufen. Seitdem begegne ich ge­meinsam mit meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dem Verschwörungsglauben buchstäblich täglich, und in Hunderten Veranstaltungen und Interviews habe ich immer tiefere Fragen zu beantworten. Als im März 2019 mein Buch »Warum der Antisemitismus uns alle bedroht«14 erschien, gab es noch Stimmen, die vor »Alarmismus« warnten. Doch nachdem die antisemitische Terrorserie gegen Synagogen und Moscheen im Oktober des gleichen Jahres Halle erreicht hatte, ging endlich ein Ruck durch die Po­litik.15

Entsprechend kamen die Verschwörungs-Reaktionen auf die Covid-19-Pan­demie leider nicht über­raschend. Schon im Januar 2020 breiteten sich im deutschsprachigen Netz Beschuldigungen aus, wonach der jüdische Holocaust-Überlebende und Mil­liardär George Soros das Coronavirus als »Biowaffe« zur Dezimierung der Menschheit entwickelt habe.16 Nachdem die Pandemie zumindest in Deutschland zunächst gestoppt werden konnte, änderte der Verschwörungsmythos nur seinen Vorwurf, nicht sein Ziel: Nun hieß es, eine jüdisch dominierte Ver­schwörung von Soros, den Rothschilds und Bill Gates wolle durch das Vortäuschen einer Gefahr eine Weltregierung der NWO – der »Neuen Weltordnung« – errichten.17

Oft werde ich gefragt, warum ich angesichts der täglichen Konfrontation mit Hass und Verschwörungsglauben sowie den daraus folgenden Zerstörungen nicht an der Menschheit verzweifeln würde. Doch mit Hans Rosling und weiteren Forschenden wie Steven Pinker, Gerd Koenen sowie Edith Eger sehe ich trotz allem Terror, Elend und neuen Gefahren insgesamt doch einen deutlichen Fortschritt: Noch nie konnten so viele Menschen lesen und schreiben; die Kindersterblichkeitsraten und Anteile der Kriegstoten sanken, während die Lebens­erwartung stieg; zugleich bremsen fallende Geburtenraten das Bevölkerungswachstum.18 Und wann in der Geschichte haben denn demokratisch gewählte Regierungen andersgläubige Frauen und Kinder aus den Fängen von Ter­rorgruppen evakuiert, Beauftragte gegen Antisemitismus eingesetzt und Gerichtsverfahren gegen internationale Terrorgruppen unterstützt? Wann in der Geschichte versammelten sich weltweit Millionen, um gemeinsam gegen Rassismus einzustehen, so, wie wir es heute erle­ben? Zudem hat die Erforschung – und damit auch die Bekämpfung – von Verschwörungsglauben, Antisemitismus und sogenannter »gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit« in den vergangenen Jahrzehnten enorme Fortschritte gemacht.

Schon 1951 veröffentlichte Hannah Arendt (1906–1975) ihr Buch »Origins of Totalitarianism«, in dem sie beschrieb, warum die Gefolgschaft von Tyrannen gern belogen werden möchte. 1965 brachte der Historiker Richard Hofstadter (1916–1970) nach langer Vorarbeit das inzwischen legendäre Buch »The Paranoid Style in American Politics« heraus, in dem er aufzeigte, wie Verschwörungsdenken Demokratien bedroht. Und 1967 hielt Theodor Adorno (1903–1969) in Wien den berühmten Vortrag »Aspekte des neuen Rechtsradikalismus« – der so »fresh« ist, dass er 2019 neu aufgelegt wurde.19 Seitdem sind Hunderte von weiteren, meist weiterführenden Studien und Büchern zum Thema erschienen.

Die Vorstellung, man könnte immer nur »Alarm!« schreien und mit Antisemitismus-Vorwürfen um sich schlagen, ist nicht nur unrealistisch, sondern würde massiven Schaden verursachen. Um es mit der ewigen Erkenntnis von Admiral Ackbar aus »Star Wars« auszurufen: »It’s a trap!« – »Es ist eine Falle!«

Statt Verschwörungsgläubigen in den Abgrund zu folgen, plädierte schon Adorno zu Recht darauf, die psychologischen und medialen Mechanismen hinter dem Verschwörungsglauben genau zu erkennen und aufzudecken und dadurch »eine gewisse Entgiftung« zu erreichen.20

Denn wir selbst – in den Medien, der Politik, den Wissenschaften, der Öffentlichkeit – füttern derzeit noch zu oft die Falle. Solange wir ihre Fixierungen und immergleichen »Tricks« nicht durchschauen, belohnen wir Verschwörungsverkünder, indem wir ihnen buchstäblich nachlaufen und schenken, was sie zum Mächtigwerden brauchen: unsere Aufmerksamkeit. Und wir entziehen diese damit den Millionen Vernünftigen, Leisen, Konstruktiven, mithin auch den tatsächlich Wissenden und Weisen.

In den Worten des Philosophen Hans Blumenberg (1920–1996): »Wer das handelnde Subjekt der Geschichte ist, wird nicht entdeckt oder bewiesen; das Subjekt der Geschichte wird ›ernannt‹.«21 Und es war mittels Internet und sozialen Medien noch nie so leicht wie heute, sich durch gezielte Provokationen Aufmerksamkeit zu verschaffen und durch Polarisierung die eigene Gefolg­schaft zu vergrößern und an sich zu binden. Dieses Buch will solche Mechanismen aufzeigen. Dazu gehe ich in drei Kapiteln vor.

In Kapitel 1 werde ich »Platons Falle« aus der Perspektive der Hirnforschung und der Ideengeschichte beschreiben. In Kapitel 2 geht es um die Gründe dafür, warum wir alle schon als Kinder rassistische, anti­semitische und sexistische Mythen verinnerlicht haben – und wie zum Beispiel Hitler »Mitläufer« erzeugen konnte. In Kapitel 3 werde ich mit Edith Eger argumentieren, dass die Überwindung von falschen Schuldgefühlen und Verschwörungsglauben zwar mühsam ist, aber Freiheit für eine bessere Zukunft schenkt.

In der Presse ist vielfach von »Verschwörungstheorien« die Rede. Der Begriff ist nicht korrekt und zu viel der Ehre für das, worum es geht. Theorien sind wissenschaftlich überprüfbare Erklärungen, und das sind Verschwörungsfantasien gerade nicht. Verschwörungsmythen sind genau das: Mythen. Ihre vermeintliche Glaub­würdigkeit stammt nicht aus wissenschaftlichen Verfahren, sondern aus schierer Verbreitung und lediglich gefühlter Plausibilität.

Viele von uns sitzen unterschiedlich tief in »Platons Falle« des Verschwörungsglaubens und des Dualismus. Und sie wird, daran kann leider kein Zweifel bestehen, auch in Zukunft noch Leben zerstören. Aber die Menschheit ist dabei, aus dieser Falle herauszufinden – umso schneller, je mutiger und neugieriger wir sind. Denn – um diese Einleitung mit den letzten, tiefen Sätzen aus Adornos Vortrag enden zu lassen –: »Wie diese Dinge weitergehen und die Verantwortung dafür, wie sie weitergehen, das ist in letzter Instanz an uns. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.«22

Dr. Michael Blume

20. Juni 2020

1. Platons Falle des Dualismus

»Philosophie in unserem Jahrhundert

ist Aufklärung ohne den Glauben

an die Unschuld des Denkens.«

Bettina Stangneth (2016)23

»Der Tiefgang einer Philosophie

misst sich – falls das ein Messen ist –

nach ihrer Kraft zum Irren.«

Martin Heidegger (1938/39)24

Vielleicht haben Sie sich ja auch schon einmal die Frage gestellt, warum das Deutsche Reich vom »Land der Dichter und Denker« in den 1930er-Jahren zum »Land der Richter und Henker« werden konnte?25 Die schreckliche Wahrheit ist: gerade darum.

Im Gefolge der Aufklärung wollen wir immer noch glauben, dass Denken »immer gut« wäre – und dass jene, die Böses tun, eben »zu wenig nachgedacht« hätten. Doch inzwischen besteht sowohl aus der Perspektive der Natur- wie auch der Geisteswissenschaften leider kein Zweifel mehr daran, dass das nicht stimmt.

Wir denken mit einem Säugetiergehirn – »eine etwa 1,4 kg schwere, gefurchte Masse von gallertartig-buttriger Konsistenz«. Die Evolution unserer Art hat uns zwar über 100 Milliarden Neuronen (Ner­venzellen) beschert, aber nicht die Orientierung an ab­strakten Wahrheiten belohnt. »Intellektuelle Einschätzungen etwa sind von körperlichen Reaktionen beeinflusst, die wir als Emotionen wahrnehmen.« Die Nervenzellen reichen bis in unsere Zehenspitzen. Jedes Menschengehirn prägt sich in sozialen Wechselspielen mit anderen aus. »Manche meinen sogar, dass es sich bis in andere Gehirne erstreckt, mit denen es interagiert.«26

Die Gene, aus deren Informationen sich unsere Gehirne entfalten, haben über Millionen von Generationen immer und immer wieder den gleichen Test bestanden: Sie mussten an ausreichend viele Nachkommen weitergegeben werden. Das heißt bei sozial lebenden Säugetieren wie unseren Vorfahren von klein auf: Sie mussten sich in der eigenen Gruppe bewähren und sich auf diese einstellen. Um es in den Worten der berühmten Anthropologin Sarah Blaffer Hrdy (geb. 1946) zu sagen: »Das gesamte Pleistozän hindurch hing das Überleben von Kindern von deren Fähigkeit ab, den Kontakt zu Müttern und anderen zu halten und sie dazu zu bringen, sich um sie zu kümmern.«27

Wahrheit war und ist für menschliche Gehirne daher viel weniger relevant als Zugehörigkeit oder Geborgenheit. Unser Gehirn entwickelte vor allem im frontalen Cortex, dem Bereich über den Augen, soziale Fähigkeiten wie die »Theory of Mind« (ToM), die es uns ermöglicht, uns in andere Menschen einzufühlen. Die meisten Menschen können blitzschnell die Gefühle anderer erfassen und nachvollziehen – schon grobe Anhaltspunkte reichen dafür aus, wie man an Emojis sehen kann, die ja nur aus wenigen Strichen bestehen: :-) fühlt sich anders an als :-/ oder gar :-(

Über ihre starke ToM bestehen die meisten Menschenkinder daher schon am Ende ihres ersten Lebensjahres den Sally-und-Anne-Test: Wenn Sally einen Ball in den Korb getan und Anne ihn später genommen und in eine Schachtel gelegt hat, dann wissen schon Einjährige, dass die wiederkehrende Sally ihn trotzdem zuerst im Korb suchen wird.28

Dies aber bedeutet eben auch, dass wir Ereignisse sehr viel schneller und intuitiver einem »Jemand« zuschreiben als einem »Etwas«. Das Auftreten einer Krankheit zum Beispiel können wir viel leichter als Werk von Geistern oder Hexen, als Strafe oder Prüfung eines Gottes auffassen denn als »zufällige« Mutation eines Virus. Dem Kognitionspsychologen Robert McCauley zufolge ist »Religion natürlich, Wissenschaft aber nicht«. Unsere Gehirne springen auf packende Erzählungen von Helden, Monstern und Göttern unmittelbar an, wogegen wir »kon­tra-intuitives«, wissenschaftliches Denken erst mühsam erlernen müssen.29

Und es kommt sogar noch etwas schlimmer: Weil negative Emotionen wie Angst oder Schmerz die Funktion haben, uns vor Gefahren zu warnen, werden sie von unseren Gehirnen tendenziell stärker gewichtet. Wer unsere Aufmerksamkeit haben will, bekommt sie am leichtesten nach dem Motto: »Bad news are good news.« Deshalb brauchen gute Geschichten spannende Schurken – und wenn unser Gehirn keine Gefahren findet, tendiert es dazu, welche zu erfinden.30 Je sicherer wir leben, desto mehr genießen wir Krimis und Thriller.31

Mit den Chancen wie den Fallstricken unseres sozialen Gehirns ringe auch ich, während ich Ihnen diese Zeilen schreibe: Einerseits kann ich nur durch die ToM wenigstens versuchen, zu erspüren, welche Themen und Worte Sie berühren. Sie sind mir als Leserin, als Leser durch soziale Wahrnehmungen (Kognitionen) schon im Moment des Schreibens präsent. Andererseits aber »lockt« mich Twitter ständig suchtartig mit dem Versprechen sozialer Anerkennung (»Likes«), so wie Trolle durch das Ansprechen negativer Emotionen Aufmerksamkeit einfordern. Meine vollständige Abmeldung von Facebook im Herbst 2019 diente auch dem Selbstschutz – vor den Anfälligkeiten meines eigenen Gehirns.32

Und schließlich ist unser Gehirn – wie das jedes anderen Erdenwesens – auf einen bestimmten Lebensraum, den Mesokosmos, hin evolviert. Entfernungen des Mikrokosmos (unter 0,1 Millimetern) können wir genauso wenig wahrnehmen wie Entfernungen des Makrokosmos, etwa Lichtjahre. Wenn wir uns den Welten der Quantenphysik oder der Philosophien zuwenden, dann benötigen wir symbolische Bilder, Metaphern, um überhaupt etwas zu verstehen.33

Und hier kommen die Mythen ins Spiel: Sie sind kompakte Geschichten, mit denen wir – in den Worten von Hans Blumenberg – den allzu weiten »Horizont als den mythischen ›Rand der Welt‹ zu besetzen« versuchen.34 Oder simpler gesagt: Wo die Welt zu klein oder zu groß ist, als dass wir sie (be-)greifen könnten, verschafft uns der Mythos so etwas wie einen Haltegriff.

 

Den meisten Japanerinnen ist völlig klar, dass die Vorfahren ihres Kaisers durch Evolution entstanden sind und nicht von der Sonnengöttin Amaterasu geboren wurden. Doch sie achten den Mythos als Symbol des – ebenfalls mythologischen – Staates. Den meisten Europäern ist völlig klar, dass Menschenrechte vor allem eine Idee sind und sich nicht wiegen lassen, doch sie verbinden mit dem Begriff ein Bündel von Erzählungen, Bildern und Hoffnungen. Den meisten Brasilianerinnen ist völlig klar, dass das Motto »ordem e progresso« (»Ordnung und Fortschritt«) auf ihrer Fahne völlig unterschiedlich verstanden werden kann, ebenso wie die 30 Meter hohe Christusstatue in Rio de Janeiro, und doch kann jede auf ihre eigene Weise daraus Kraft schöpfen. Und die meisten Südafrikaner erkennen in »Star Wars« und den Lehren von Yoda eine ebenso reiche wie fiktive, lose an Ereignissen des 20. Jahrhunderts orientierte Mythologie (und die »böse« Gestalt des Darth Vader ist dabei weltweit bekannter als dessen »guter« Sohn Luke Skywalker).35

Eine einfache Definition könnte lauten: »Ein Mythos ist eine symbolische, mit Bedeutung aufgeladene Erzählung, mit der sich Menschen über ihren Mesokosmos hinaus orientieren.« Wissenschaftlich exakter, aber schwerer verständlich formuliert David Atwood: »Unter einem Mythos werden diejenigen Erzählungen verstanden, die durch die Imagination einer paradigmatischen, d. h. bedeutsamen Geschichte die Welt raumzeitlich ordnen und damit Handlungsanweisungen für Individuen wie für Kollektive anbieten.«36

Das klingt schwer – und ist es für unser Säugetiergehirn auch –, aber es ist wichtig: Schon wenn wir eine reale Geschichte, beispielsweise des antiken Ägypten, erzählen, »mythologisieren« wir durch die Auswahl des Beginns, der Hauptakteure (Pharaonen, Bäuerinnen, Eroberer?) und des Endes. Ja, auch wenn Sie oder mich jemand auffordert: »Erzählen Sie doch mal von sich!«, so werden wir spontan einen Mythos über uns selbst anlegen, um Wirkungen bei der oder dem Fragenden zu erzielen. Wir werden idealerweise nicht lügen, aber wir werden in einem Bewerbungsgespräch andere Aspekte zur Sprache bringen als auf einer Party, bei einem Date oder in einem Verhör. Einen Menschen, der darauf bestehen würde, allen sein ganzes Leben ohne Auslassung und ohne Unterschiede zu erzählen, würden wir zu Recht als sozial gestört empfinden. Abhängig vom Zuhörer, erschaffen wir verschiedene Bilder von uns und unserer Welt. Wir erzeugen, so Yuval Noah Harari, individuelle wie auch kollektive Identitäten »in den Geschichten, die wir Menschen erfinden und einander erzählen. Götter, Nationen, Geld, Menschenrechte und Gesetze gibt es gar nicht – sie existieren nur in unserer kollektiven Vorstellungswelt.« Und: »Die Geschichten, die sich moderne Juristen erzählen, sind sogar noch viel sonderbarer als die der alten Schamanen.«37

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