Alles ist Übergang

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Alles ist Übergang
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Michael Albus

 Alles ist Übergang




Michael Albus



Alles ist Übergang



Leben auf einer Palliativstation



Butzon & Bercker




„Orientierung durch Diskurs“

    Die Sachbuchsparte bei Butzon & Bercker, in der dieser Band erscheint, wird beratend begleitet von Michael Albus, Christine Hober, Bruno Kern, Tobias Licht, Cornelia Möres, Susanne Sandherr und Marc Witzenbacher.



Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.








Das Gesamtprogramm von Butzon & Bercker finden Sie im Internet unter www.bube.de





ISBN 978-3-7666-2244-0



E-Book (Mobi): ISBN 978-3-7666-4299-8



E-Book (PDF): ISBN 978-3-7666-4300-1



E-Pub: ISBN 3-978-3-7666-4298-1



© 2015 Butzon & Bercker GmbH, Hoogeweg 100, 47623 Kevelaer, Deutschland, www.bube.de



Alle Rechte vorbehalten.



Umschlag: © goodze – iStock.com



Umschlaggestaltung: Christoph M. Kemkes, Geldern



Satz: Schröder Media GbR, Dernbach



Printed in Germany




Inhalt





Einleitung







Gespräche mit Sterbenden






      „Wenn alles weg ist, brauche ich keine Angst mehr zu haben.“





      Gespräch mit Helmut Fink und Erika Fink-Grundmann






„Aber dann kommt man in die Weite.“







Gespräch mit Helga Koch







„Schnitt! Fallbeil! Und alles aus!“







Gespräch mit Dr. Olaf Hain







Gespräche mit den Ärztinnen






      „Sie wollen einfach, dass ihnen geholfen wird.“





      Gespräch mit Dr. Ulrike Reinholz, Oberärztin






„Das, was wir hier machen, ist das, wie es sein soll.“







Gespräch mit Dr. Anna-Lena Wiesmann, Stationsärztin







Gespräche mit den Pflegekräften






      „Ich könnte nicht mit der Schuld leben, dass ich Patienten gezielt zu Tode gebracht habe. Ich könnte das nicht!“





      Gespräch mit Jörg Hildebrandt, Pflegekraft






„Ja, man müsste ,draußen‘ mehr wissen von dem, was ,drinnen‘ wirklich geschieht.“







Gespräch mit Heidi Bachmann, Pflegekraft







Gespräche mit der Psychologin und mit der Seelsorgerin






      „Ich nehme alle diese Geschichten ganz tief in mich auf.“





      Gespräch mit Sandra Mai, Diplompsychologin






„Ja, das Verstummen gibt es auch. Ich kann dann nur noch sagen: Es schreit zum Himmel.“







Gespräch mit Ulrike Windschmitt, Seelsorgerin







Gespräch mit dem Leiter der Palliativstation






      „Für mich ist die Zuversicht gewachsen, dass es möglich ist, den letzten Weg gut zu gehen.“





      Gespräch mit Prof. Dr. Martin Weber, Arzt





Einleitung



Sterben und Tod sind Teile des einen und einzigen Lebens. Die letzten Abschnitte unserer irdischen Existenz. Dass diese Phase nicht einfach ist, liegt auf der Hand. Der letzte Abschied ist endgültig. Und er ist mit Schmerzen verbunden. Eine Konsequenz, die sich aus der Würde des Menschen ergibt, ist, dass er würdig sterben kann. So schmerzfrei wie möglich.



Dafür gibt es in unserem Land seit einigen Jahren Palliativstationen. Der Begriff

palliativ

 leitet sich vom lateinischen

pallium

, „Mantel“, ab und bedeutet wörtlich „ummantelnd“. Die Maßnahmen der Palliativmedizin haben das Ziel, bei fortschreitenden unheilbaren Erkrankungen den Verlauf zu verlangsamen und Symptome wie Übelkeit, Schmerz oder reaktive Depressionen zu lindern. Die Palliativstationen sind keine Sterbehäuser, in die Menschen abgeschoben werden. Sie sind Häuser des Lebens, in denen dem letzten Weg, den ein Mensch gehen muss, besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird.



Palliativstationen schweben nicht im luftleeren Raum. Sie sind eingebettet in eine Gesellschaft, in der in den letzten Jahrzehnten vermehrt und oft heftig, privat und öffentlich über das Thema „Sterbehilfe“ diskutiert, ja gestritten wird. Das hat auch damit zu tun, dass frühere Selbstverständlichkeiten im Umgang mit Sterben und Tod nicht mehr selbstverständlich sind. Das hat auch mit dem Stellenwert der Religion in den modernen Gesellschaften zu tun. Ihr Einfluss ist zurückgegangen. Auch deswegen stellen sich neue grundsätzliche Fragen. Der Glaube an ein Weiterleben nach dem Tod schwindet weiter, verdunstet. Man mag es bedauern oder nicht: Es ist so. Nicht selten tragen die entstandenen Unsicherheiten das Gesicht der Angst. Es ist eine neue Unübersichtlichkeit entstanden. Fragen stehen unvermittelt im Raum: Wie viel Freiheit habe ich? Was heißt Selbstbestimmung? Ist mit dem Tod alles aus oder geht „es“ doch oder noch irgendwie weiter? Welchen Sinn hat das Leben?



In der letzten Phase des Lebens entscheidet sich – ob man will oder nicht –, was das Leben war und ob es noch etwas ist oder sein wird. In diesen und vielen anderen unsicheren Kontexten spielt sich das tägliche und nächtliche Leben auf einer Palliativstation ab.



Die Titelformulierung

Alles ist Übergang

 steht auf einer alten Brücke in der Nähe eines Klosters in meiner Heimat am Oberrhein. Ich las diesen Satz als junger Mensch. Er ist hängen geblieben in meinem Kopf und in meinem Herzen. Er bringt das symbolisch zum Ausdruck, was das Leben für mich in seiner Grundgestalt ist und bleibt: Übergang. Das Überschreiten der Brücke von einem Ufer zum anderen. Die Ankunft am Ausgangsufer, meine Geburt, haben andere für mich entschieden. Ich wurde nicht gefragt. Im Übergang entscheidet sich, was war, was ist, und – vielleicht – was sein wird. Ob ich ans andere Ufer kommen, ob ich sterben will oder nicht, danach hat mich auch niemand gefragt. Zwischen beiden Ufern ist die Brücke, mein Leben, die mich über Tiefen und Untiefen führt, über einen reißenden oder still dahinströmenden Fluss – vielleicht auch über ein ausgetrocknetes Flussbett. Auch darauf habe ich keinen Einfluss. Ich muss mich entscheiden: Annehmen oder Ablehnen. Die Alternative hat den Nachteil, dass ich zwar ablehnen kann, dass die Ablehnung mich aber nicht vor dem anderen Ufer bewahrt. Ich muss dorthin. Warum es so ist, bleibt ein unergründliches Geheimnis. Und ein schmerzliches.



Dieses Buch der Gespräche ist über einen längeren Zeitraum entstanden. Ich habe mich dafür entschieden, es bei den Gesprächen zu belassen, weil sie am Besten wiedergeben, dass es auf einer Palliativstation, bei den Kranken und ihren Angehörigen, bei den Ärztinnen und Ärzten, bei den Pflegekräften, bei den Psychologinnen und Psychologen und bei den Seelsorgerinnen und Seelsorgern keinen fertigen Text gibt. Alles ist und bleibt im Fluss.



Zu danken habe ich den drei Schwerstkranken, die sich für ein Gespräch bereit erklärt haben. Das war keine leichte Sache. Ich werde sie in lebendiger Erinnerung behalten. Vor allem auch deswegen, weil ich angesichts ihrer spürbaren, sichtbaren, hörbaren Endlichkeit unendlich viel über mein eigenes Leben erfahren habe. Sie sind wenige Tage nach diesen Gesprächen gestorben.



Zu danken habe ich den Pflegekräften.



Zu danken habe ich den Ärztinnen und Ärzten.



Zu danken habe ich der Psychologin und der Seelsorgerin. Sie haben die laufenden Arbeiten jeweils für die Gespräche unterbrochen. Mein Respekt vor ihrer Arbeit ist mit jedem Tag gewachsen. Ich bin kompetenten, einfühlsamen, freundlichen und nichtroutinierten Menschen begegnet. Sie haben mich berührt.



Warum ich die Palliativstation an der Mainzer Universitätsmedizin gewählt habe, wählen konnte, hat seinen einfachen Grund in der Person des Leiters der Palliativstation, Prof. Dr. Martin Weber. Ihm bin ich seit vielen Jahren freundschaftlich verbunden. In vielen Gesprächen ist die Idee zu diesem Buch entstanden.



Inmitten von Diskussion und Streit, die oft von Ideologie bestimmt sind über das, was am Ende unseres Lebens ist oder sein soll, wie weit unser kleiner Freiheitsraum reicht, um wichtige Entscheidungen zu treffen, wenn es ums Letzte geht, wollte ich dieses Buch als „Argument“ beisteuern. Als ein Feuer in der Nacht.





Michael Albus








Möge ich ein Schützer sein für die,







die keinen Schutz besitzen,







ein Führer für die Reisenden,







ein Boot, eine Brücke, ein Übergang für die,



 





die sich nach dem anderen Ufer sehnen.







Möge der Schmerz eines jeden Lebewesens







vollständig beseitigt sein.







Möge ich der Arzt und die Arznei sein







und auch die Pflegerin







für alle Kranken in der Welt,







bis sie völlig geheilt sind.







Möge ich, gleich dem Raum







Und den Elementen, wie etwa der Erde,







stets das Leben der ungezählten Wesen schützen.







Und bis sie nicht vom Schmerz geschieden sind,







möge ich der Lebensquell







für alle Daseinsbereiche der verschiedenen Wesen sein,







die bis zum Ende des Universums reichen.







(Gebet des buddhistischen Poeten Shantideva)*





* In: Sogyal Rinpoche, Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben, mit einem Vorwort des Dalai Lama, 20. Aufl., 1997, S. 265/266 © 2010, O. W. Barth Verlag.




Gespräche mit Sterbenden

„Wenn alles weg ist, brauche ich keine Angst mehr zu haben.“

Gespräch mit Helmut Fink und Erika Fink-Grundmann



Albus



Herr Fink, Sie wissen, dass sie bald sterben müssen. Ich will mit Ihnen und Ihrer Frau versuchen, auf das zurückzublicken, was hinter Ihnen liegt. Sie sind 75 Jahre alt. Können Sie mir erzählen, was Sie gemacht und gestaltet haben, woher Sie kommen, welche Erinnerungen Sie an Ihre Eltern haben? Wie ist Ihr Leben gelaufen?



Herr Fink



Ich bin im Jahr 1940 geboren. Mein Vater war Schneidermeister. Er ist 1943 im Zweiten Weltkrieg gefallen. Ich habe ihn faktisch nie gesehen. Einmal nur, 1943. Ich kann mich aber nur schwach daran erinnern. Ich bin dann bei meiner Mutter und meiner Großmutter aufgewachsen. Die Großmutter war schon lange Witwe, und nun meine Mutter auch. Es waren arme Verhältnisse. Trotzdem hatte ich eine behütete Kindheit. In den Jahren nach dem Ende des Krieges bin ich in die Schule gegangen. Meine Mutter wollte immer, dass ich „auf’s Büro“ gehe, dass ich „was Besseres“ werde. Insgesamt ging es mir damit ganz gut.



Albus



Sie sind in Mainz geboren?



Herr Fink



Ja, ich bin in Mainz-Bretzenheim geboren und wohne immer noch im Haus meiner Eltern. Ich habe eine Lehre als kaufmännischer Industrieangestellter gemacht. Bei der Firma Blendax. Nach einer kurzen Episode als Weinverkäufer bei der Firma Pieroth habe ich dann bei der AZ, der Mainzer Allgemeinen Zeitung, begonnen.



Albus



War das Ihr Traumberuf oder sind Sie das aus Gründen, die mit dem reinen Gelderwerb zu tun hatten, geworden?



Herr Fink



Das war mein Traumberuf. Da ich zunächst mal bei Blendax und bei Pieroth gearbeitet hatte, konnte ich es jetzt kaum fassen, diese Stelle bekommen zu haben. Da habe ich auch endlich richtig gutes Geld verdient.



Albus



Wann und wie haben Sie denn Ihre Frau kennengelernt?



Herr Fink



Ich habe ja schon eine erste Ehe hinter mir. Meine damalige Frau habe ich in der Firma, bei Blendax, kennengelernt. Mit ihr war ich über 25 Jahre verheiratet. Diese Ehe ist dann nach den 25 Jahren einfach zerbrochen. Ich war dann eben wieder alleine. Aber nur recht kurz. Und dann habe ich meine jetzige Frau Erika, die mit uns hier am Bett sitzt, kennengelernt. Mit ihr bin ich schon wieder über 23 Jahre zusammen.



Albus



Wie haben Sie, Frau Fink, Ihren Mann kennengelernt?



Frau Fink



Rein zufällig. Wir haben uns vorher nie gesehen, haben nur telefoniert miteinander. Es war ein rein geschäftlicher Kontakt. Aber wir haben uns sympathisch gefunden. Zu der Zeit habe ich bei der Glashütte in Budenheim gearbeitet. Helmut hat dann gemeint, wir könnten doch mal mit einander etwas trinken gehen. Das haben wir dann gemacht. Und jetzt sind wir zusammen.



Albus



Wie ging das weiter? Haben Sie geheiratet?



Frau Fink



Nein, nein. Wir haben erst vor zwei Jahren geheiratet. Wir hatten vorher nie das Bedürfnis nach einer Heirat. Wir haben zwar ein paar Mal darüber gesprochen. Ich war ja auch verheiratet und habe von meinem Mann Rente gehabt. Das war ein schönes Nebeneinkommen. Nachdem Helmuts Krankheit ausgebrochen war, war ich schon davon angetan, seine Frau zu werden. Ich wollte als „Frau Fink“ weiterleben.



Albus



Haben Sie in der langen Zeit auch Kinder bekommen?



Frau Fink (lacht)



Nein! Er hatte drei und ich hatte zwei. Und wir sind heute noch alle in enger und bester Verbindung miteinander.



Herr Fink



Die haben mich auch alle hier schon besucht. Die sind voll integriert.



Albus



Das heißt also nicht: „Meine Kinder, deine Kinder“, sondern „unsere Kinder“?



Frau Fink



Ja! Wenn seine Tochter da ist, dann ist das meine Tochter, und wenn meine Tochter da ist, dann ist das seine Tochter.



Albus



Gehen wir nochmal einen kleinen Schritt zurück. Zu der Zeit vor Ihrem Eintritt in den „Traumberuf“ bei der AZ.



Herr Fink



In der Zeitung habe eine Anzeige gelesen: „Statistiker gesucht“. Ich hatte von Statistik zwar keine Ahnung, habe mich aber immer unwahrscheinlich für Zahlen und Statistiken interessiert … (Hat Mühe weiterzusprechen)



Frau Fink



Ich glaube vierzig Jahre hast du dann dort gearbeitet …



Herr Fink



Über vierzig Jahre! Mit 22 bin ich eingetreten und mit 63 ausgetreten. Ich war bei der Rhein-Main-Presse immer im Büro. Zuerst war ich Sachbearbeiter in der Anzeigenberechnung. Das war viele Jahre so, und die Arbeit hat mir große Freude gemacht. Der Anzeigenchef war glücklich und sehr zufrieden mit mir. Dann wurde das EDV-System eingeführt. Da war ich „dran“, weil ich der geeignete Mann war. (Muss trinken, weil ihm die Stimme versagt) …



Albus



Sie erzählen ja jetzt von dem, was man als „Lebensstrecke“ bezeichnen kann. Da treibt man alles Mögliche und es treibt einen alles Mögliche um. Schon in der Jugendzeit, in der man Beziehungen knüpft und manches andere versucht. Aber im Blick auf die Lebensstrecke frage ich, was außer dem Beruf oder der Familie für Sie besonders wichtig war, was Sie innerlich und äußerlich beschäftigt, umgetrieben, in Bewegung gebracht und gehalten hat.



Herr Fink



Als ich Erika kennengelernt habe, sind wir viel gereist. Das hing schon damit zusammen, dass Erikas Tochter in Mexiko war.



Frau Fink



Vorher waren wir auch oft in Paris, weil Helmuts Tochter in Paris lebte.



Herr Fink



Wir haben auch Reisen mit den Enkeln unternommen. Sechs Enkel haben wir und einen Urenkel.



Albus



Noch einmal: Was hat Sie in den Jahren besonders interessiert? Wie haben Sie miteinander gelebt?



Herr Fink



Wichtig war für mich die Welt der Pflanzen. Ich bin ein Pflanzenforscher – in Anführungszeichen. Es gibt im Mainz einen Verein, der heißt „Cyperus“ – das ist ein Pflanzennamen. Der Verein interessiert sich für Aquarien, Terrarien und Naturgärten. Im Verein habe ich oft über Pflanzen referiert.



Frau Fink



Anfangs war er ja Aquarianer. Dadurch ist er in den Verein gekommen. Aber dann hat er für die Aquaristik weniger Interesse gehabt und hat sich auf die Pflanzen- und Gartenseite verlegt, hat am Aufbau eines historischen Gartens in Mainz-Kastel mitgearbeitet. Dabei ging es um die Rekonstruktion eines Gartens aus der Zeit Karls des Großen. Das war einer der wenigen Gärten, die es dazu in Deutschland gibt, ein historischer Garten, in dem Pflanzen aus der Zeit Karls des Großen wachsen. Wir sind herumgereist und haben auch in Aachen den Garten angeschaut. Stolz sind wir darauf, dass wir mehr Pflanzen in unserem Mainzer Garten haben als die Aachener. Der lateinische Name heißt:

capitulare de villis

, nach Karl dem Großen.



Albus



In Ihrer freien Zeit haben sie solche Gärten angelegt?



Herr Fink



Ja! Aber davor gab es ja auch viele andere Interessen. Ich habe zum Beispiel Buntfische im Aquarium gezüchtet. Auch dazu habe ich Vorträge gehalten.



Ich habe immer mal wieder das Interessengebiet gewechselt. Dazwischen gab es Pausen.



Albus



Im Hintergrund – sagen Sie mir’s, wenn es anders ist – erahne ich eine große Liebe zur Natur.



Herr Fink



Das ist genau richtig. Damit wollte ich kein Geld verdienen! Ich habe das aus einem Herzensinteresse heraus gemacht. Geld habe ich verdient durch den Beruf. Mir ging es um das Erlebnis der Natur. Wenn wir zusammen gereist sind, haben wir immer wieder alte Klostergärten besucht, die uns Vorbilder oder Anregung sein konnten.



Frau Fink



Und wir haben Bücher und Bücher gekauft – meterlange Regale haben sich angefüllt – und dazu noch die Bibliotheken in Mainz ausgenutzt. Das war auch nun mein Interesse geworden. Wir haben alles zusammen gemacht. Früher hatte ich andere Interessen. Dieses habe ich durch ihn erworben. Und ich bin glücklich darüber. Das war wunderschön.



Herr Fink



Ja! Wunderschön!



Albus



Das finde ich auch sehr schön und interessant. Gerade in der heutigen Situation, in der die Natur eher zu „kippen“ droht durch die Ausbeutung der Menschen, bekommt das eine ganz wichtige Bedeutung. Sie haben Natur als etwas Schönes, Wertvolles, Lebendiges, Schützenswertes angesehen.



Herr Fink



Ja, das stimmt! Und schön dabei war auch, dass ich das zusammen mit meiner Frau gemacht und durchgehalten habe.



Albus



Haben Sie bei der Beschäftigung mit der Natur noch tiefergehende Fragen interessiert? Fragen über Leben und Tod, über Blühen und Vergehen zum Beispiel?



Herr Fink



Oh ja, solche Fragen haben mich schon beschäftigt. Intensiv. Ich habe mir viele Gedanken gemacht über die Tatsache, dass die Pflanzen vergehen. Es hat mich berührt, wenn ich sie sterben gesehen habe. Dann habe ich alles versucht, um sie so zu pflegen, dass sie wieder aufgeblüht sind. Meine Frau hat dann schon eher mal gesagt: „Tu’ sie doch weg!“



Frau Fink



Ja, manchmal sind sie sogar wiedergekommen, sind wieder richtig gesund und lebendig geworden. – Helmut schneidet keine abgestorbenen Blüten ab, er schneidet überhaupt nichts von den Pflanzen ab.



Herr Fink



Ich lasse alles deswegen dran, weil das der Natur vielleicht noch etwas nützen kann, zum Beispiel Nahrung für die Vögel sein kann.



Albus



Ihnen war daran gelegen – das höre ich jetzt heraus –, dass die Natur ihren Kreislauf bewahren kann, dass sie nicht nur ein Teil, sondern ein Ganzes ist.



Herr Fink



Ja! Darum ging es mir.



Albus



Frau Fink, haben Sie das immer alles mitgemacht oder nicht auch einmal gesagt: „So, jetzt reicht es mir!“?



Frau Fink



Ich habe das immer voll mitgemacht. Es hat mich fasziniert. Früher habe ich mich wenig für Natur interessiert. Die intensive Beschäftigung mit der Natur, das intensive Verhältnis zu ihr habe ich erst durch Helmut kennengelernt – und habe es dann auch geliebt.



Das war mir wichtig: Wir haben immer alles zusammen gemacht. Da gab es keinen Streit zwischen uns.



Herr Fink



Es gibt ja auch bei unterschiedlichen Interessen glückliche Ehen. Da könnte ich Beispiele nennen. Ein Bekannter hat Schlangen gezüchtet. Das war nicht das Interesse seiner Frau, und dennoch haben sie eine glückliche Ehe geführt. Unterschiedliche Interessen müssen kein Trennungsgrund sein.



Albus



Sie sind also durch das wachsende Gemeinsame mehr zueinander gekommen, aneinander gewachsen?



Frau Fink und Herr Fink



Ja, Ja! Unbedingt!



Albus



Ich beginne, mir das immer deutlicher vorzustellen durch Ihre Erzählungen: Sie haben zusammen ein ausgefülltes und erfülltes Leben geführt. Nach der Pensionierung haben Sie das weiter intensiviert, haben irgendwie ohne größere Sorgen gelebt, waren im Rahmen Ihrer Möglichkeiten glücklich. – Und jetzt auf einmal ist die Krankheit in Ihr Leben eingebrochen. Wie hat sich das angekündigt? Wie sind Sie, als Sie es wussten, damit umgegangen?



Herr Fink



Da muss ich noch etwas einschieben: Mein Verhältnis zu meinen Mitarbeitern, meinen Untergegebenen im Beruf war immer gut. Das war auch eine Erfahrung von Glück, dass sie immer, auch wenn es Schwierigkeiten gab, hinter mir und zu mir gestanden sind.



Albus

 



Es war Ihnen also auch wichtig, zu den Menschen ein gutes Verhältnis zu haben, die man normalerweise als „Unter“-Gebene bezeichnet.



Herr Fink



Darum habe ich mich immer bemüht. Ja, das war mir sehr wichtig!



Frau Fink



Helmut hat zu seinem Geburtstag von einer ehemaligen Mitarbeiterin ein Gedicht von Petrus Ceelen geschenkt bekommen, das für sich spricht und zeigt, wie sein Verhältnis zu den Berufskolleginnen und -kollegen war. Es lautete so:





Ein Geschenk







Manche Menschen wissen nicht,







wie wichtig es ist, dass sie da sind.







Manche Menschen wissen nicht,







wie gut es tut, sie nur zu sehen.







Manche Menschen wissen nicht,







wie wohltuend es in ihrer Nähe ist.







Manche Menschen wissen nicht,







wie viel ärmer wir ohne sie wären.







Manche Menschen wissen nicht,







dass sie ein Geschenk des Himmels sind.







Sie wüssten es nicht, würden wir es ihnen sagen.





Herr Fink



Als ich mich bei der ehemaligen Mitarbeiterin telefonisch dafür bedankte, haben wir gemeinsam miteinander geweint. Das habe ich davor noch nie gemacht. Ich bin kein Typ, der schnell weint.



Albus



Wir kommen wieder auf den Zeitpunkt des Ausbruchs Ihrer Krankheit zurück.



Wie hat sie sich angekündigt? Wie und wann haben Sie etwas gespürt?



Herr Fink



Ich habe Schwierigkeiten beim Wasserlassen gespürt. Mein ganzes Leben lang war ich jedes Jahr zweimal beim Urologen zur Kontrolluntersuchung. Da war immer alles ganz in Ordnung. Der PSA-Wert war immer ganz normal. Nun aber hat das Krankenhaus gesagt, nachdem die Prostata ausgeschält und die Untersuchung durchgeführt worden war: Krebs! Und zwar ein Krebs, der ausgesprochen aggressiv und lebensbedrohlich war.



Albus



Wie haben Sie die Nachricht aufgenommen?



Herr Fink



Für mich war das eine der härtesten Urteile, die ich je in meinem Leben bekommen habe. Und da mir niemand eine Prognose geben wollte oder konnte, habe ich gesagt: Also ich gebe mir noch drei Monate! Dann würde ich in das Grab steigen, das „Fink“ heißt … (Ringt nach Worten, kann nicht mehr weitersprechen).



Albus



Herr Fink, ich frage mal Ihre Frau, wie das war? Ich denke, dass diese Information wie ein Keulenschlag auf Sie niedergefahren ist.



Frau Fink



Bei dem Gespräch mit der Ärztin war ich ja dabei. Ich habe es nicht wie ein Keulenschlag empfunden. Ich habe es einfach weggeschoben. Habe mir gesagt: Das kann nicht sein! Helmut ist dann ziemlich schnell, nach fünf oder sechs Tagen, aus dem Krankenhaus gekommen und ist weiter beim Urologen in Behandlung gewesen. Es ging ihm ein ganzes Jahr so gut, dass ich einfach nicht an die schreckliche Nachricht glauben konnte. 2014 begannen dann wieder die massiven Beschwerden mit der verstopften Harnröhre. Er musste wieder ins Krankenhaus, ist wieder ausgeschält worden. Danach ging es wieder ein Dreivierteljahr gut. Aber im Dezember 2014, als Helmut und ich die Grippe hatten, ging’s ihm auf einmal ganz schlecht, weil noch weitere massive Beschwerden hinzukamen. Schließlich musste er akut ins Krankenhaus und ist dann operiert worden. Von da ab ging es nur noch schlecht und schlechter.



Albus



Sie haben gesagt, Frau Fink, das dürfe nicht wahr sein: diese Nachricht, dieser Befund. – Wieder zu Ihnen, Herr Fink: Wie hat das auf Sie gewirkt? Da sind Ihnen doch die widersprüchlichsten Gedanken durch den Kopf gegangen. Hat sich ein Überlebenswille gemeldet? Oder haben Sie sofort resigniert? Welche Gefühle haben Sie beherrscht? Was können Sie heute dazu sagen, wenn Sie sich zu erinnern versuchen?



Herr Fink



Meine Überzeugung war: Ich habe nur noch kurz zu leben. Ich habe zu Hause angefangen, aufzuräumen, war der Meinung: Das Leben geht jetzt nicht irgendwann, sondern bald, ja schnell zu Ende. Ich habe mich wirklich über jeden Tag gefreut, den ich noch erleben durfte. Ich war innerlich ganz ruhig und habe keine Hektik entwickelt.



Frau Fink



Wir sind sogar noch in Urlaub gefahren.



Albus



Herr Fink, haben Sie sich unter der Oberfläche des Alltags in dieser Zeit mit der Härte der Tatsache und dem, was daraus folgen könnte, auseinandergesetzt, oder haben Sie die neue Wirklichkeit verdrängt?



Herr Fink



Ich habe mich nicht mit der Tatsache auseinandergesetzt, weil ich relativ zufrieden war. Ich habe mir gesagt: Du bist jetzt 75 Jahre alt, bist eigentlich zufrieden.



Albus



Haben Sie sich bei aller Zufriedenheit nicht doch in Ihrem tiefsten Innern gegen dieses Urteil, das Ihnen der Arzt übermittelt hat, aufgelehnt?



Herr Fink



Doch, manchmal habe ich mich aufgelehnt. Aber anfänglich ging’s mir doch noch gut. Auch angesichts des Urteils der Ärzte habe ich keinen Anlass für eine Veränderung in meiner Lebensführung gesehen. Ich habe und hätte mir ja auch erlauben können, in Urlaub zu fahren und das oder jenes zu „drehen“. Das wollte ich aber nicht. Ich wollte mein Leben ganz normal weiterführen. Ich wollte rausgehen, in den Garten, wollte sehen, was da wächst. Und ich wollte mit meiner Frau zusammen schön frühstücken. Wir haben begonnen – was ich vorher nie gemacht hatte –, morgens einen Piccolo zu trinken. Das hat uns genügt.



Albus



Frau Fink, war das so, wie es Ihr Mann gerade beschrieben hat?



Frau Fink



Nicht ganz! Nach der Diagnose hat sich Helmut im Internet oder in Büchern kundig zu machen versucht. Alles, was er kriegen konnte, hat er erforscht: Über Leute, denen es genauso ging wie ihm nun. Und wie die das erlebt haben. Wir sind in viele Vorträge gegangen. Helmut hat auch sein Essen total umgestellt. Er hat keine Kohlehydrate mehr, sondern nur noch Gemüse gegessen, weil Kohlehydrate den Krebs ernähren würden. Auch Fisch und Fleisch hat er gegessen. Am Frühstückstisch und auch bei den anderen Mahlzeiten hat er eine ganze Palette Gewürze verwendet, die ihm helfen sollten. Manchmal habe ich nicht mehr gewusst, ob ich das, was ich gekocht hatte, richtig abgeschmeckt habe. Ihm konnte keiner mehr, was seine Krankheit betraf, etwas vormachen. Auch der Arzt nicht!



Ich habe manchmal geschimpft mit ihm, weil er die Sachen gar nicht aus seinem Kopf rausgekriegt hat. Ich habe ihm gesagt: Was interessiert dich denn, wie der oder der gelebt oder gestorben ist. Lass’ es doch auf uns zukommen! Es wird doch alles gut! – Ich habe immer geglaubt: Das haben wir im Griff!



Albus



Sie hatten es dann nicht mehr im Griff.



Frau Fink



Ja! Leider ja!



Albus



Sie haben gedacht, es wird doch wieder gut. Und jetzt die Gewissheit, das Todesurteil: Es wird nicht mehr gut. – Was ist da mit und in Ihnen beiden vor sich gegangen?



Was hat es mit Ihnen, Herr Fink, gemacht? Haben Sie die Frage aufkommen gespürt, ob es danach irgendwie weitergeht? Ob etwas – etwa im Blick auf die Kinder – von Ihnen bleibt, was vielleicht sogar „ewig“ bleibt? (Herr Fink wird jetzt sehr müde, schließt die Augen, kann nicht mehr reden)



Frau Fink



Am Anfang, kurz nach der ersten Diagnose, hat mein Mann sich Gedanken gemacht, wie er seinem Leben ein Ende setzen kann. Er wollte den Leidensweg, der unmittelbar vor ihm lag, nicht mitmachen. Das war am Anfang ganz stark, hat sich aber, als er gemerkt hat, dass es ihm eigentlich noch ganz gut geht, wieder verflüchtigt. Er hat dann auch nicht mehr davon gesprochen. Später hat er seiner Tochter gestanden, dass er am Anfang daran gedacht hat, sich das Leben zu nehmen. Aber dann ging es ihm ja wieder gut, und er wollte das Leben noch genießen. Als aber die Schmerzen wieder kamen, musste halt etwas geschehen.



Dann haben wir uns hier bei der Palliativstation der Universitätsklinik gemeldet. Mitarbeiter von dort kamen zu uns nach Hause und haben mit Helmut gesprochen, haben ihm auch stärkere Schmerzmittel gegeben. Aber das hat alles nicht so richtig geholfen.



Albus



Herr Fink, haben Sie nach der entscheidenden Urteilsverkündung den Gedanken gehabt, sich das Leben zu nehmen? (Frau Fink gibt ihm etwas zu trinken)



Herr Fink



Ja, ganz am Anfang, als die Keule, das Urteil, kam, habe ich mich nach dem besten Sterbebegleiter umgesehen. Ich dachte, das Leben ist doch so nicht mehr sinnvoll. Gefallen hat mir nicht, dass ich dafür ins Ausland reisen und dort das t�

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