Die Seele im Unterzucker

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Die Seele im Unterzucker
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Inhaltsverzeichnis

Impressum 3

Vorwort 4

Frühe Kindheit 6

Diagnose: Diabetes Typ 1 13

Individueller Knabe 24

Der lässige Onkel 30

Urlaub in Frankreich und ein gravierender Unterzucker 40

Familienzuwachs 47

Nächte der Angst 52

Rückkehr nach Hause 59

Das nächste Handicap 67

Versuchskarnickel 73

Mein bester Freund 83

Das Ende einer Ära 91

Essen als Ventil? 95

Zusammenbruch vor meinen Augen 101

Depressionen 105

So sein wie meine Vorbilder – um jeden Preis 117

Stationärer Therapieversuch 122

Vaters Leidensweg 128

Das Ende der Kindheit 139

Entzweiung 148

Ohne Rücksicht auf Verluste 154

Sugar Boy 163

Intensivstation 169

Abschied 177

André 185

Mica und die starken Männer 190

Was ICH nicht habe, sei auch DIR nicht vergönnt! 199

Touren des Grauens 207

Ans Bett gefesselt 217

Wiedersehen 232

Endlich 18! 239

Blinkende Maschinen des Glücks 245

Hinter Gittern 252

Hinein ins Arbeitsleben 257

Mit Vollgas in den Unterzucker 269

Umzug 275

Futtern, saufen, schlafen 280

Qualifizierter Berufskraftfahrer 288

Naiver Tagträumer 294

Raus aus den Schulden – rein ins Allgäu! 302

Ein kleines Lichtchen 309

Die größte Freude meines Lebens 315

Abschied einer Freundin 322

Gefährlicher Rückfall 332

Was ist Liebe? 344

Der Entschluss 356

Ein Schäfchen unter Wölfen 362

Körperlicher Ausnahmezustand 372

Die letzte Warnung 391

Heimkehr 400

Der Körper vergisst nicht 423

Ein fleißiger Helfer 435

Unser tägliches Brot nimm mir heute 441

Die Kraft der Psyche 459

Neue Hoffnung 476

Meine Berufung 484

Keine Garantie! 506

Widmung 513

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2021 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99107-238-6

ISBN e-book: 978-3-99107-239-3

Lektorat: Mag. Eva Zahnt

Umschlagfoto: www.pixabay.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

Innenabbildungen: Mica Scholten

www.novumverlag.com

Vorwort

Wenn ich heute auf meine bisherige Lebensgeschichte zurückblicke, so bin ich ziemlich schockiert darüber, was für ein Mensch ich früher einmal war. Was rechtfertigte meine kuriose Denkweise und mein Verhalten in der Vergangenheit? Wo liegt der Punkt, an dem ich selbst zu meinem schlimmsten Feind wurde? Möglicherweise ab jenem Zeitpunkt, ab welchem sich mein Körper dazu entschloss gegen sich selbst zu kämpfen? Brachte er ab diesem Zeitpunkt nicht nur sämtliche fehlgeleitete Antikörper, sondern auch meinen Geist gegen mich auf? Oder war dies lediglich ein Resultat davon? Seit ich mich erinnern kann war ich auf irgendeine Art und Weise stets mit mir selbst auf Kriegsfuß. Versuchte mir selbst zu entfliehen, indem ich die abstrusesten Ideen und Vorhaben ausprobierte, nur um mich nicht mit mir selbst auseinandersetzen zu müssen.

Heute bin ich 28 Jahre alt, alles in allem ziemlich ausgeglichen und gehe wieder zur Schule, um anschließend Journalismus, Ernährungswissenschaft, Psychologie oder Grafikdesign zu studieren. Ganz schlüssig bin ich darüber noch nicht. Aber wenigstens habe ich endlich ein konkretes Ziel im Auge. Und darauf bin ich ehrlich gesagt stolz. Zu viel Zeit in meinem Leben habe ich schon verschwendet, welche ich anderweitig deutlich sinnvoller hätte investieren können. Aber was bringt es schließlich noch im Nachhinein, seine Zeit mit „hätte, wäre, wenn …“ zu vergeuden? Das ist wiederum nur verschwendete Zeit!

Es ist hilfreich, gelegentlich zu reflektieren und sich vor Augen zu halten, was früher schieflief und dies in Zukunft anders zu machen. Oder zumindest etwas besser. Wer Wunder erwartet, fällt viel schneller auf die Schnauze.

Es gibt Menschen, welche glauben, dass sich ein Mensch grundsätzlich niemals ändert. Andere behaupten wiederum das Gegenteil. Ich glaube, dass wir durchaus dazu in der Lage sind, mit zunehmender Lebenserfahrung das eine oder andere gezielt zu verändern. Zumindest dann, wenn wir nur konsequent dranbleiben. Irgendwann ist ein Punkt erreicht, an welchem wir aufhören müssen, alles auf die Vergangenheit oder eine schwierige Kindheit zu schieben. Im Grunde ist das eine banale Ausrede für die eigenen Defizite, wenn möglicherweise auch eine Erklärung. Aber keinerlei Freibrief dafür, andere Menschen oder Tiere darunter leiden zu lassen. Am Ende zählt die persönliche Charakterstärke und die nötige Portion Willenskraft. Jeder Einzelne von uns kann ein guter Mensch sein, welcher etwas bewirken kann. Auch Menschen mit härteren Schicksalen. Selbst mit Kleinigkeiten verbessern wir die Welt. Wir müssen es nur wollen!

Frühe Kindheit

Im Jahr 1992 erblickte ich das Licht der Welt. Ich war das erste und einzige Kind meiner beiden Eltern, welche sich kurz vor der Wende in Ost-Berlin kennenlernten. Nach der Wende zog meine Mutter, welche ursprünglich aus Thüringen stammt, zu meinem Vater nach Baden-Württemberg, wo dessen Wurzeln lagen.

 

Voller Fürsorge boten mir meine Eltern, ja eigentlich meine ganze Familie, alles, was ich brauchte. Sie sorgten dafür, dass ich immer gut zu essen hatte, mein Sortiment an Kleidung und Spielzeug war ausgiebig und auch sonstige Aktivitäten wie Ausflüge, schöne Ferien und Familienfeste gehören zu den schönsten Erinnerungen, welche ich noch immer bei mir trage.

Zu meinen frühesten Erinnerungen zählen die gemeinsamen Ferien bei meiner Oma in Thüringen. Dort wurde viel gemeinsam unternommen. Deren Mann, mein Opa starb als ich ein dreiviertel Jahr alt war. Also kann ich mich nicht mehr wirklich an ihn erinnern. Ich kenne ihn nur aus vielerlei bunten Erzählungen, Bildern und Videofilmen.

Ich denke bis heute sehr gerne an die gemeinsamen Stunden im Gartenhäuschen, auf dem Campingplatz oder im Freibad zurück. Ich kannte und mochte die einfachen und bescheidenen Menschen in der kleinen Ortschaft. Auf Unternehmungen jeder Art freute ich mich regelmäßig.

Stundenlang spielte ich mit meiner Oma Kartenspiele wie Mau-Mau, Skip-Bo und UNO. Auch ausgiebige Puzzlespiele kamen nicht zu kurz. Ich hatte immer einen enormen Spaß an den Stunden des Spiels.

Ich spielte weiterhin gerne Gesellschafts- und Brettspiele mit meinem Vater, welcher die Spielrunde meist noch etwas bunter gestaltete. Spielten wir zu zweit ein Spiel, welches eigentlich für vier Personen gedacht war, wie „Mensch-ärgere-dich nicht“ oder „Fang-den-Hut“, so nahm mein Vater noch zwei Handpuppen von meinem Kasperletheater dazu, setzte sie auf den Tisch, teilte ihnen eine Farbe zu, „vertonte“ sie während des Spiels und ließ sie auf diesem Wege an der Runde teilhaben. Bis heute erinnere ich mich an die witzigen Stimmen, welche er für den König oder das Krokodil imitierte.

Mein geliebtes Abendritual in Form einer Gute-Nacht-Geschichte ist meiner Mutter zu verdanken. Jeden Tag saß sie an meinem Bett und las mir einige Seiten aus diversen Kinderbüchern vor. Einige dieser Geschichten hatte ich auch als Hörspiel in Form von Radio-Kassetten für meinen Walkman, welche mein Vater in seinem Geschäft zum Verkauf anbot. Im Kindergarten wurden sie auch des Öfteren im Stuhlkreis vorgelesen.

Ich war ein sehr kuschelbedürftiges Kind. Jede Nacht drückte ich mich fest an eines meiner Plüschtiere, welche den Rand meines Kinderbettes zierten.

Mein Vater führte über viele Jahre ein Geschäft, welches Unterhaltungselektronik zum Verkauf anbot und Reparaturen vornahm. Direkt darüber lag unsere Wohnung. Wir brauchten nur die Treppen herunter zu steigen und schon waren wir mitten im Laden. Jener war bereits in dritter Generation in seinem und meiner Tantes Besitz, nachdem sie ihn von meinen Großeltern übernommen hatten, als diese Mitte der Neunziger in Rente gingen. Mein Vater war in unserer kleinen Stadt eine angesehene Persönlichkeit und hatte einen Meister als Radio-Fernsehtechniker. Meine Tante, seine Schwester, fungierte im Geschäft als Kauffrau.

Ich liebte es als Kind mit Konsolen zu spielen. Mein Favorit war die Nintendo 64, von welcher ich aufgrund meines Vaters Status beinahe alle Mario-Spiele besaß und auch beherrschte. Gefühlte hunderttausend Stunden verbrachte ich damit zu spielen, ganz gleich ob zuhause oder im Laden direkt, in welchem eine Testkonsole für Kunden aufgebahrt stand. Jene war meistens durch mich belegt, ich war definitiv einer seiner besten Kunden, hihi. Zu meinem 5. Geburtstag im Jahre 1997 bekam ich meine erste eigene Nintendo 64 und einige Lieblingsspiele dazu. Zu Weihnachten folgte ein schwarz-weißer Gameboy 64. Hach, das waren noch echte Retro-Klassiker…

Meine Großeltern väterlicherseits hatten ein großes Haus mit einem schönen Garten, welcher auch ein eigenes Schwimmbad beinhaltete. Regelmäßig war ich dort zugange, lernte schon sehr früh das Schwimmen und tobte ausgelassen im Garten herum. Gemeinsame Grillabende mit der ganzen Familie waren im Sommer an der Tagesordnung. Ich war eine regelrechte „Wasserratte“, wie man mich damals gerne titulierte. Regelmäßig musste man mich ermahnen, nun endlich den Pool zu verlassen, nachdem vom langen Aufenthalt im Wasser meine Lippen schon ganz blau waren. Mit meinem Vater und meinem Opa lieferte ich mir regelrechte Atem-Anhalt-Wettbewerbe. Auch auf unserem Balkon wurde im Sommer immer ein großes Planschbecken aufgeblasen, in welchem sich an heißen Tagen abgekühlt werden konnte. Gelegentlich waren auch Freunde von mir zu Besuch, welche den Badespaß mit mir teilten.

Meine Großeltern hatten einen kleinen Zwergschnauzer, welchen ich sehr gerne mochte. Er war ihr absoluter Liebling, meine Großeltern hatten im Gesamtbild ein sehr großes Herz für Tiere aller Art. Auch Vögel, Igel und Wildkatzen wurden regelmäßig mit Futter im Garten versorgt. Ich schätze, dass ich meine bedingungslose Liebe zu Tieren zum Großteil ihnen zu verdanken habe.

Worauf ich mich als Kind immer am meisten freute, waren die Schützenfest- und Jahrmarktbesuche mit meinen Eltern. Mein Vater war ein leidenschaftlicher Fahrgeschäft-Abenteurer, keine Fahrt war ihm zu wild.

Ab einem gewissen Alter bereitete es auch mir die größte Freude, an den aufregenden Fahrten teilzunehmen. Meine allererste Fahrt verlief mit dem Schnee-Express. Zuerst hatte ich Bedenken, doch als diese Hürde überwunden war, konnte ich von den Fahrten nie mehr genug bekommen. Nach dem Schnee-Express folgten erste Fahrten mit der Achterbahn, dem Break Dancer (bis heute mein Lieblingsfahrgeschäft), dem drehenden Oktopus und vielen mehr. Hierbei fällt mir ein, dass ich stets wahnsinnig enttäuscht und frustriert darüber war, dass ich einige Bahnen damals noch nicht fahren durfte, da man für diese eine Körpergröße von mindestens 1,40 m haben musste. Ich fühlte mich diskriminiert und ausgeschlossen. Dass es sich nur um eine Vorsichtsmaßnahme handelte, kam mir nicht in den Sinn. Natürlich wollte ich ALLE aufregenden Fahrgeschäfte sofort ausprobieren, ganz besonders die angebetete Überschlagbahn Top Spin, welche mein Vater schon häufiger bestiegen war. Anfangs leider noch ohne mich.

Mein Vater war von Natur aus ein sehr lebhafter Mensch. Er pflegte viele Freund- und Bekanntschaften, mit welchen regelmäßig etwas unternommen wurde. Er war unter anderem Mitglied bei den Segelfliegern, in einem Kochclub und auch gern gesehener Kamerad beim Stammtisch, zu welchem ich ihn in Kindertagen gelegentlich begleiten durfte.

Zu Weihnachten und Geburtstagen waren die Tische für mich prall gefüllt mit diversen Geschenken in Form von Spielsachen, Geld, Gutschriften und Kleidung. Nicht nur meine expliziten Kinderwünsche wurden erfüllt, sondern auch stets dafür gesorgt, dass es mir anderweitig an nichts fehlte.

Zu Ostern wurden liebevolle Nester zusammengestellt, welche ich jedes Jahr am Ostersonntag in den frühen Morgenstunden suchen durfte. Das war ein jährliches Highlight für mich, wie es wohl für die meisten Kinder eines darstellt. Ich erinnere mich noch heute an die unendliche Vorfreude auf die ersehnte Suche, als ob es gestern gewesen wäre. Wie ich morgens in die Betten meiner Eltern kletterte, hibbelig wartete, bis jene sich endlich „erbarmten“ aufzustehen und die aufregende Suche beginnen konnte. Ostern mochte ich dank der stets so aufregend gestalteten Suche immer am liebsten. Sogar noch lieber als Geburtstage und Weihnachten, obwohl es da meist die „größeren“ Geschenke zu erwarten gab. An Ostern überwiegten doch meist die Süßigkeiten.

Ich war von der Konfirmation katholisch. Als Kind war ich lange sehr gläubig, betete sogar eine Zeit lang jeden Abend das Vater-Unser und redete mit Jesus. Ich erzählte ihm von meinem Tag und teilte ihm meine sonstigen Kindersorgen mit. Ich bat ihn um Frieden und Gesundheit in der Welt und ganz besonders darum, dass es allen Tieren gut gehen sollte. Im Grunde spielte das Thema Religion niemals eine größere Rolle in meiner Familie. Wir gingen nicht jeden Sonntag – ja eigentlich so gut wie gar nie – in die Kirche. Noch nicht mal zu Weihnachten oder zu Ostern. Das Einzige, an das ich mich konkret erinnere, ist, dass am Karfreitag kein Fleisch gegessen wurde. Meist kochte mein Vater ein Gericht mit Fisch.

Geschichten aus der Bibel kannte ich aus dem Kindergarten und auch von zuhause zur Genüge. Am liebsten mochte ich die Noah-Geschichte, weil die vielen Tiere überleben durften und alle „bösen“ Menschen ausradiert wurden. Die Welt wurde für einen Neustart präpariert. Keine üble Idee, oder?

Mein Kopf war schon sehr früh mit viel Fantasie gefüllt. Durch Kinderserien, Hörspiele, Geschichten und Bücher inspiriert, erfand ich sehr viele eigene Geschichten. Diese spielte ich nicht nur mit meinen Spielfiguren über viele Stunden nach, sondern zeichnete auch sehr viel in Form von Bildern und Comics. Malen zählte zu den größten Hobbys meiner Kindheit. Gelegentlich zeichne ich noch heute.

Meine Mutter meinte einmal zu mir, dass sie persönlich eine wesentlich strengere Kindheit hatte als ich. Es wurden mitunter die besten Noten und die nötige Begeisterung für Virtuosität erwartet, da meine Großeltern mütterlicherseits beide sehr musikalisch waren bzw. sind. Beide unterrichteten sogar als Lehrer Musik, spielten ausgezeichnet Klavier und waren auch sonst sehr belesen in klassischer Musik. Zu meinem Geburtstag war es üblich, dass ich jedes Mal per Telefon ein Ständchen mit dem Klavier von meiner Omi bekam. Ich bewunderte meine Oma für ihre musikalische Begabung und hörte sehr gerne zu. Dieses Talent hatte sie natürlich auch an meine Mutter weitergegeben, welche ihre virtuosen Fähigkeiten später unter anderem sehr gut bei ihrer Arbeit im Kindergarten einbringen konnte, wenn sie mit den Kindern Lieder sang oder für Aufführungen probte. Ich bin sicher, dass es meine Mutter zu einer großen Pianistin gebracht hätte, wenn sie diesen Weg weiter verfolgt hätte.

Und trotzdem schwor sich meine Mutter schon in Kindertagen, ihren eigenen Kindern eines Tages jene Erwartungen zu ersparen. Weder Druck in der Schule zu machen noch das gezielte Erlernen eines Instruments. Dass die Kinder vor 40–50 Jahren noch „strenger“ und anders erzogen wurden, ist kein Geheimnis. Auch mein Vater wuchs in Bezug auf Disziplin und Gehorsam deutlich strenger auf als ich.

Was Bestrafung und Disziplin anging, erhielt auch ich gelegentlich mal eine „Backpfeife“, wurde aber nie wirklich verhauen, wie es bei anderen Kindern der Fall ist. Hin und wieder gab es mal Fernsehverbot, allerdings schaffte ich es meist regelmäßig so lange zu nerven, bis ich vor Ablauf der Frist wieder gucken durfte.

Meine Großeltern väterlicherseits waren deutlich anders gestrickt als meine Verwandtschaft in Thüringen. Extrem konservativ, traditioneller und viel mehr darauf bedacht, „was denn die Nachbarn denken könnten“.

Nachdem sich herausgestellt hatte, dass ich „unterwegs“ war, drängten meine Großeltern väterlicherseits meine Mutter und meinen Vater zur Heirat. Wie sähe dies denn sonst in der Gesellschaft aus? Und außerdem müsse das Kind doch IHREN Familiennamen tragen! Meine Mutter (welche noch niemals die Nerven für ewig lange Diskussionen hatte), fügte sich am Ende und ließ den stolzen Vorzeigebürgern ihren Willen. Einem solch konservativen Druck wäre ich persönlich wohl niemals nachgekommen. Schließlich hat doch jeder ein Recht auf ein frei gewähltes Leben.

Alles in allem hatte ich eine sehr schöne und unbeschwerte frühe Kindheit, welche ich nicht mehr missen möchte!

Diagnose: Diabetes Typ 1

Im Sommer 1996 sollte meine bis dato recht unbeschwerte Kindheit zum ersten Mal im Leben auf eine harte Probe gestellt werden. Wir waren gerade im Urlaub bei meiner Oma in Thüringen, so wie jedes Jahr in den Sommerferien. Erzählungen zufolge begann ich nachts wieder ins Bett zu machen. Und das, obwohl ich schon seit einiger Zeit die Nächte über trockengestellt war. Begleitet wurde dieser Zustand von verstärktem Durstgefühl und leichter Abgeschlagenheit.

Die Symptome erweckten bei meiner Mutter einen Verdacht, da sie einige Zeit zuvor schon einmal einen Fachartikel darüber gelesen hatte. Geistesgegenwärtig führte sie einen Keton Test mittels eines Urinstreifens durch, welcher eindeutig positiv ausfiel.

Wir fuhren einige Tage früher als geplant nach Hause und zusammen mit meiner Mutter ging es auf die Kinderstation, wo ihr befürchteter Verdacht eindeutig bestätigt wurde. Diabetes mellitus Typ 1. Eine unheilbare Autoimmunerkrankung, bei welcher die körpereigene Bauchspeicheldrüse die Produktion von Insulin nach und nach vollkommen einstellt, weil sie fälschlicherweise von Antikörpern angegriffen wird und somit die aufgenommenen Kohlenhydrate nicht mehr verwerten kann. Die Folge: Der Blutzuckerspiegel steigt durch den nicht aufgenommenen Zucker aus Nahrung und Getränken ins Unendliche an. Der Zucker kommt ohne das lebenswichtige Hormon Insulin nicht mehr in Zellen und Muskeln, und verbleibt somit direkt im Blut. Irgendwann kommt es zu einer Ketoazidose, ein lebensgefährlicher Zustand mit übersäuertem Blut, welcher ohne die Zufuhr von Insulin schon bald tödlich endet. Durch vermehrtes Trinken versucht nun der Körper, das völlig überzuckerte Blut weitestgehend zu reinigen und scheidet den Zuckerüberschuss auf diesem Wege über die Nieren aus. Das erklärte meinen starken Durst und den erhöhten Harndrang, welcher nachts aus eigener Kraft nicht mehr zurückzuhalten war. Meine Nieren verlangten durchgehend Nachschub, um mein Blut zu säubern.

 

Vor jeder Mahlzeit hieß es nun mit einer Stechhilfe einen Stich in die Fingerkuppe zu machen und anhand eines Blutstropfens via Blutzuckermessgerät herauszufinden, wie hoch mein Blutzuckerwert war. Idealwerte liegen in etwa zwischen 80 und 160 mg/dl (Stand von vor rund 20 Jahren, heute ist jener Aspekt noch eine Spur strenger geworden und man sagt sogar teilweise bereits zwischen 70 und 140 mg/dl). Wobei es hier im Gesamtbild noch vielerlei mehr Feinheiten zu beachten gibt. Nüchtern-Wert, vor-dem-Essen, nach-dem-Essen, Schlafenszeit, nachts etc.

In Bruchstücken erinnere ich mich noch immer an jene Zeit. Meine Mutter blieb die ganze Zeit über an meiner Seite und schlief auf einer Klappliege neben meinem Krankenbett. Ein weiteres Kind bewohnte ebenfalls mit seiner Mutter das Zimmer, wir verstanden uns sehr gut mit den beiden. Die Ärzte und Schwestern waren alle sehr lieb zu mir, obwohl ich gelegentlich aufgrund der neuen Situation auch etwas mürrisch agierte. Aber ich schätze, das ist mir nicht allzu übel zu nehmen. Ständige Stiche in die Fingerkuppen und in den Bauch sind für ein fast 4-jähriges Kind alles andere als ein Zuckerschlecken. Wortwörtlich, haha!

Alle paar Stunden musste von nun an mein Zuckerwert bestimmt werden, damit meine Insulintherapie perfekt eingestellt werden konnte. Sogar in den nächtlichen Stunden ging zwischenzeitlich die Türe auf. Eine Nachtschwester kam herein, desinfizierte meinen Finger und versetzte mir einen Piekser um meinen Wert zu bestimmen. Anhand dieser Maßnahme wurde die Dosis meines Basalinsulins, (welches den Bedarf unabhängig vom Essen abdeckt), optimal angepasst. Das war eine sehr nervige und mitunter auch schmerzhafte Prozedur. Ganz besonders dann, wenn immer ein anderer Finger zum Pieksen ausgewählt wurde. An unberührten und frischen Stellen schmerzten die Stiche um einiges mehr als an jenen Fingern, welche bereits eine kleine Hornhaut aufgrund der Stiche gebildet hatten.

Mithilfe eines sehr lustig gemachten Hörspiels für Kinder, welches ich damals auf meinem Walkman rauf und runter hörte, begann ich mein neues Handicap allmählich zu begreifen. Durch die lustig untermalten Lieder darin lernte ich sogar schon frühzeitig einige Fachbegriffe bezüglich der Zuckerkrankheit kennen und ansatzweise verstehen.

Wer noch etwas mehr Hintergrundwissen über Diabetes Typ 1 sammeln möchte, liest dieses Kapitel zu Ende. Wen es so gar nicht interessiert, der springt einfach über zum nächsten …

Folgende Begriffe sollten jeder Diabetiker und auch deren nächste Angehörige kennen:

Hypoglykämie (Hypo) = Unterzuckerung

Hyperglykämie (Hyper) = Überzuckerung

Basalinsulin = langwirksames Insulin, welches über mehrere Stunden den täglichen Insulinbedarf unabhängig vom Essen abdeckt

Bolusinsulin = kurzwirksames Mahlzeiten- und Korrekturinsulin

BE = Broteinheit (10–12 g Kohlenhydrate) zur Berechnung des benötigten Insulins. Als altbewährte Faustformel der intensivierten Insulintherapie gilt: Eine Einheit pro BE! Das variiert jedoch ein bisschen von Person zu Person.

Beispiel: 1 mittelgroßer Apfel oder 1 Scheibe Toastbrot haben jeweils 1 BE. Wenn ich nun zum Frühstück 2 Scheiben Toast gegessen habe, musste ich mit 2 Einheiten Bolusinsulin korrigieren. War Käse oder Wurst auf dem Brot, musste dies nicht berücksichtigt werden, da diese keine Kohlenhydrate, sondern nur Fett und Eiweiß enthalten. Anders sah es bei Marmelade oder Nutella aus. 25 g davon, eine weitere BE. Und so weiter und so fort. Hinzu kommt die Tatsache, dass der Körper in den Morgenstunden einen höheren Bedarf an Insulin hat als in den Mittags- und Abendstunden. Alles Feinheiten, welche man für eine perfekte Therapie berücksichtigen muss.

Für einen Diabetiker gilt ernährungstechnisch dasselbe wie für einen „Nicht-Diabetiker!

Diese Weisheit, welche bereits mein damaliges Kinderhörspiel besagte, bestätigt sich bis heute. Erst vor kurzem hörte ich sie erneut in meiner letzten Diabetiker-Schulung. Um Folgeerkrankungen vorzubeugen muss ein chronisch kranker Mensch mit Diabetes stets doppelt so sehr auf der Hut sein wie ein gesunder Mensch. Aber auch jenem würde es natürlich alles andere als schaden, sich in puncto Ernährung an ein ähnliches Schema zu halten. In diesem Sinne gilt so mancher disziplinierte Diabetiker mit gesunder Ernährungsweise sogar als Vorbild. Die einfachsten Regeln dürften wohl nahezu bekannt sein.

 Regelmäßig frisches Obst und Gemüse.

 Die täglichen Mahlzeiten (besser sind mehrere kleine über den Tag verteilt als riesige Portionen) wenn möglich immer zu denselben Uhrzeiten einnehmen.

 Gesunde und lang sättigende Kohlenhydrate mit wenig Zucker.

 Keine großen Portionen vor dem Schlafengehen (bringt den Zuckerspiegel in der Nacht unnötig aus dem Gleichgewicht und sorgt für zu hohe Blutzuckerwerte am Morgen).

 Zuckerhaltige Getränke nur in Maßen (auch mit Light-Getränken nicht übertreiben, da die Zuckeraustauschstoffe nicht gerade das Maß aller Dinge sind) Am besten sind Wasser und Tee.

 Regelmäßig Bewegung und Sport.

Injiziert sich ein Diabetiker mehr Insulin als nötig, so verfällt er in eine Unterzuckerung (Hypoglykämie).

Auch dies variiert wieder individuell von Person zu Person. Der eine merkt bereits bei einem Zuckerwert von 80 mg/dl typische Symptome, der andere wiederum erst ab 50 mg/dl oder sogar weniger.

Die typischen Symptome hierbei sind vorübergehende Seh- und Konzentrationsstörungen, Heißhunger, zitternde Beine, Schwitzen, Krämpfe, Panikattacken, Aggressivität, übertriebene Albernheit, Verwirrung bis hin zur Bewusstlosigkeit (meist bei extremer Unterzuckerung, auch „schwerer Hypo“ genannt). Auch von diesen wechselnden Begleiterscheinungen kann ich als langjähriger Diabetiker mittlerweile ein Lied singen.

Im Falle einer Bewusstlosigkeit ist Hilfe von anderen Personen unerlässlich. Es sollte Traubenzucker oder ein recht schnell wirkendes Getränk wie Apfelsaft oder Cola verabreicht werden, um das Bewusstsein des Diabetikers so schnell wie möglich wiederherzustellen. Ist dies nicht mehr möglich, so darf auf keinen Fall gewaltsam gehandelt werden. Es besteht Erstickungsgefahr!

Bei jeder Unterzuckerung ist der ganze Körper massiver Belastung und Stress ausgesetzt. Die Leber (welche unter anderem Fett- und Zuckerreserven im Körper abspeichert) schüttet in diesem Zustand vermehrt Zucker aus, um den ganzen Kreislauf am Leben zu erhalten. Aus diesem Grunde ist es praktisch unmöglich, an einer Unterzuckerung direkt zu versterben. Reagiert man jedoch nicht rechtzeitig, so nimmt man langfristig teilweise irreparable Schäden in Kauf (Gehirnzellen sterben ab, Muskulatur und Nerven leiden darunter etc.). Deshalb: Unterzuckerungen gilt es konstant zu vermeiden! Lieber ein kleines bisschen zu hoch, als öfters oder sogar konstant zu tief.

Ganz zu schweigen von den äußeren Einflüssen und Gefahren, wenn man nicht mehr Herr über Körper und Sinne ist. Wie zum Beispiel im Straßenverker.

Ein Unterzucker kann in gewisser Weise einem Vollrausch gleichgesetzt werden. An Unterzuckerungen in meiner frühesten Kindheit erinnere ich mich teilweise.

Der Hba1C – eine Art Zwischenzeugnis der Diabetiker

Alle 3 Monate heißt es für den gut koordinierten Diabetiker zum Arzt gehen und den Hba1C (Langzeitblutzuckerwert) bestimmen zu lassen. Jener liegt im besten Fall zwischen 4 und 6. Wobei auch hier zu sagen gilt, dass es sich dabei um einen Richtwert handelt, der von Diabetiker zu Diabetiker variiert. Ein gesunder Mensch hält sich auf natürlichem Wege automatisch in diesem Bereich, die wenigstens Typ 1-Diabetiker schaffen es wohl dauerhaft, auf dieser Ebene zu verbleiben. Blutzuckerschwankungen lassen sich bei diesem Krankheitsbild in der Praxis niemals vollständig vermeiden. So viele Faktoren beeinflussen ihn. Nicht nur die Essensmenge und die darauf abgestimmte Insulindosis bestimmen die Werte. Außerdem tun es Dinge wie Stress, Krankheiten, Bewegung, anspruchsvolle körperliche Aktivität, Adrenalin, psychische Faktoren, Alkohol und Nikotin, sonstige Begleiterkrankungen etc.

Der Hba1C widerspiegelt den gehaltenen Blutzuckerspiegel der vergangenen 3–4 Monate quasi als Durchschnitt. Er setzt sich zusammen aus den „normalen“, sowie den zu hohen und zu tiefen Werten und ergibt so die Gesamtsumme.

Er wird beim Termin mit dem behandelnden Diabetologen gründlich besprochen, sowie das Blutzuckertagebuch analysiert, um vergangene „Patzer“ zu besprechen und künftig zu verbessern. Beispielsweise wird die Essensmenge neu besprochen oder die Insulindosis den Lebensumständen entsprechend neu angepasst. Wer mehr isst, muss dementsprechend mehr spritzen, simple Logik!

Es soll sogar Diabetiker geben, welche sich einige Tage vor der Kontrolle absichtlich in den Unterzucker spritzen, um ihre Statistik zu verbessern. Sinnvoll ist das nicht. Der Arztbesuch ist keine strenge Abschlussprüfung, sondern viel eher eine Hilfestellung. Niemand ist dazu verpflichtet, aber es ist durchaus hilfreich. Ganz besonders zu Beginn der Krankheit.

Im Laufe der Jahre stellt sich Routine ein.

Ich erinnere mich noch sehr gut an die damaligen, vierteljährlichen Besuche bei meinem Lieblingsdoktor Hofer, an welchen ich bis heute gelegentlich zurückdenke. Er war sehr freundlich, hatte für jede Lebenslage ein offenes Ohr und unterstützte mich und meine Eltern in jeder Hinsicht. Ob es nun um die Kontrolle der Spritzstellen an Bauch und Schenkeln und die Anwendung der Nadeln ging, die BE-Anzahlen der Zwischenmahlzeiten oder die Basalratendosis – auf seinen Rat vertrauten wir immer gerne. Bis zum heutigen Tag kann ich mich an keinen Arzt erinnern, welcher mir je sympathischer war. Auch meine Mutter erinnert sich nach wie vor gerne an ihn zurück.

Der Tag des Hba1C war für mich bezüglich der „ganz großen“ Blutabnahme als Kind immer der pure Horror. Aus welchen Gründen auch immer wurde mir in Kindertagen das Blut aus dem Handrücken abgenommen, was natürlich mehr weh tat als aus der Armbeuge. Und obwohl Nadeln mittlerweile zu meinem „täglich Brot“ gehörten, fürchtete ich diesen Stich mit der ganz großen Nadel immer ganz besonders. Während ich mit meiner Mutter wartete, wimmerte ich häufig vor lauter Angst im Wartezimmer. Der eigentliche Vorgang war dann zwar kurz unangenehm, aber trotz allem recht schnell vorbei. Naja, meistens. Ich hatte noch niemals sonderlich gute Venen und oft wurde beim ersten Stich kein Blut gefunden, weshalb noch einmal neu gestochen werden musste. Meine Venen neigen laut einigen Arzthelferinnen dazu, sich zu „verstecken“. Ist das nicht ein eindeutiger Beleg meiner sozialen Inkompetenz und Schüchternheit? Haha!