Buch lesen: «Levi»

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Inhalt

INTRO

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

NACHWORT

ANHANG

Persönliche Bemerkung zu meinen Romanen

Chronologischer Überblick über meine Romane

Was sind Para-Romane?

© 2012/2021 Melanie Risi-Meier, Zürich

Überarbeitete Neuauflage 2021

Lektorat: Armin Risi

eBook-Gestaltung: buchseitendesign by Ira Wundram, www.buchseiten-design.de

Cover: Melanie Risi-Meier

Verlag:

Melanie Risi-Meier

c/o Josef Meier

Karl-Esser-Straße 5

93049 Regensburg

E-Mail: mm@melanie-meier.de

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig.

Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

www.melanie-meier.de

INTRO

In seinen Augen stand Stille. Es war jene Stille, in der das ganze Dasein Platz findet.

Die Erzengel Michael und Gabriel blickten mit ihren steinernen Gesichtern von der Kirche auf ihn herunter und teilten sein Schweigen. Raphael und Uriel drehten ihm den Rücken zu.

Über ihnen drängten sich die Gewitterwolken ineinander wie Würmer im Eimer des Fischers.

Als die ersten Regentropfen auf sein Gesicht fielen, blinzelte er. Es waren fette Tropfen, und sie verlangten nach mehr. Innerhalb von Sekunden war seine Kleidung durchnässt.

Blind starrten die Monumente. Mit all seinem Sein starrte Levi zurück. Aber sie alle blieben stumm; Fleisch und Stein schwiegen.

Levi zog den Rucksack vom Rücken, holte seinen MP3-Player heraus und stopfte sich die Hörer in die Ohren. Als die Musik begann, wippte er leicht mit dem Kopf im Takt. Das Wasser lief ihm über das Gesicht, trommelte auf den Schirm seiner Mütze.

»Ach leckt mich doch.«

Im Umdrehen zeigte er den Statuen den Mittelfinger. Er ging zur Haltestelle, stieg in den nächsten Bus und fuhr nach Hause.

01.04.2012

Levi übergab sich. Er hievte den Kopf über die Kante des Sofas und kotzte, bis er nichts mehr im Magen hatte.

02.04.2012

Als er am nächsten Tag erwachte, schleppte er sich ins Badezimmer, putzte sich die Zähne und spülte mit Mundwasser nach. Ihm stiegen Tränen in die Augen. Er spuckte das Mundwasser ins Waschbecken und verharrte, den Kopf gesenkt, mit den Händen an dem verdreckten Porzellan abgestützt.

Alles roch nach Hemmungslosigkeit. Er selbst, seine Kleidung, das Badezimmer, die Luft und das Leben.

Schließlich hob er den Kopf und sah in den Spiegel. Die Augen, die ihm entgegenblickten, waren rotgerändert und lagen tief in den Höhlen. Die Haut um sie herum war fahl, als flösse längst kein Blut mehr durch die Bahnen. Das schwarze Haar hing im strähnig in die Stirn, an der Seite war es plattgedrückt vom Schlafen. Die Bartstoppeln waren älter als drei Tage. Seine letzte Dusche ebenfalls.

Levi richtete den Blick hinter sich und damit auf die dunklen Schlieren, die ihn träge umtanzten. Er hob die Hand, schnippte mit den Fingern. Sie verschwanden.

Er ging zurück ins Wohnzimmer und wischte die Hinterlassenschaften des Rausches auf. Danach setzte er sich auf das Sofa und starrte vor sich hin.

Als das Telefon schrillte, schreckte er aus einem flachen Schlaf auf. Er hievte sich in die Höhe, torkelte in den Flur zur Telefonstation und hob ab.

»Levi«, sagte seine Mutter, »endlich erreiche ich dich! Eigentlich wollte ich nur ein Lebenszeichen von dir.«

Er seufzte. »Eigentlich wolltest du mich nur erinnern, dass Tante Hilda heute Geburtstag hat.«

»Das eine schließt das andere nicht aus. Du hörst dich schon wieder so müde an. Ist alles in Ordnung?«

»Ja.«

»Wann kommst du mal wieder raus? Wir haben uns bestimmt seit zwei Monaten nicht mehr gesehen.«

»Ich weiß nicht. Viel zu tun.«

Ein paar Sekunden herrschte Schweigen.

»Also gut. Ich kann dich ja zu nichts zwingen. Musst du wissen. Vergiss nicht, Hilda anzurufen. Das freut sie bestimmt.«

»Ja. Bestimmt.«

»Pass auf dich auf.«

»Klar. Tschüss.«

Er stellte das Telefon zurück in die Station und drehte sich um. Und dort, keinen Meter vor ihm, stand einer der Drillinge. Ein paar Sekunden lang starrte Levi ihn nur an, dann ging er an ihm vorbei und ins Wohnzimmer. Er setzte sich auf das Sofa und sah geradeaus gegen die kahle weiße Wand.

Es gab keinen Grund, den Drilling anzuschauen. Levi wusste, dass er durch ihn hindurchsehen konnte wie durch Rauch, und er wusste auch, dass der Drilling auf keine seiner Fragen antworten würde.

Mit steinerner Miene streckte er sich über die Sofalehne, fingerte im Kasten nach einem vollen Bier und öffnete es mit dem Feuerzeug. Levi nahm einen tiefen Schluck und warf einen Blick auf das Display seines Handys. Fünfzehn Uhr neunzehn.

»Nimm dir doch auch eins«, sagte er tonlos und deutete auf den Bierkasten. »Stoßen wir auf unsere Zusammenarbeit an. Sie ist sehr fruchtbar.«

Schweigen.

Levi zündete sich eine Zigarette an. Währende er ausatmete, sah er die Erscheinung an, die vor dem Türrahmen stand und seinen Blick erwiderte. Da war keine Regung im Gesicht, keine Anteilnahme, aber auch keine Abneigung. Gar nichts.

»Ihr kotzt mich an, du und deine begnadeten Freunde. Ihr lasst mich das alles sehen und schweigt. Ihr seht mir zu, wie ich mich zugrunde richte, und schweigt. Nichts als Schweigen.« Als Levi die Bierflasche schwenkte, schwappte sie über. Er ignorierte die Pfütze auf dem Kunstleder. »Ihr kotzt mich an.«

Einige Zeit trank er, ohne noch einmal hinüberzusehen. Levi wusste, dass der Drilling inzwischen nicht mehr allein war. Sie kamen nie allein. Zuerst erschien einer, dann der zweite und schließlich der dritte. Sie antworteten nicht, aber sie sahen ihn. Genauso wie die Schwärze ihn wahrnahm.

Bevor sie sprechen konnten, stand er auf. Levi ging auf sie zu und sah vom einen zum anderen. Wieder schwenkte er die Bierflasche.

»Ich will nicht mehr. Ich werde streiken. Habt ihr gehört? Ich streike, bis ich eine Antwort bekomme. Das ist mein Ernst.«

Er sah sie der Reihe nach an. Wohlgestaltete Gesichter, wie gemeißelt.

Levi kicherte. »Mein Name ist Ernst, ich bin der König der Gaukler. Nehmt mich beim Wort.«

Als sie sprachen, wankte er bereits zurück zum Sofa und verweigerte jeden weiteren Blick.

»DER EWIGE GEDANKE IST ZEITLOS, UND ER FÜHRT ZUM WORT, UND DAS WORT ZUR TAT. DREI SIND EINS, SO WILL ES DAS EWIGE GESETZ, UND DAS GESETZ IST GOTT.«

Sie sprachen wie aus einem Mund. Sie alle bewegten ihre Lippen, doch es erklang nur eine einzige Stimme, die durchdringend und laut klang. Und die nur Levi hören konnte.

Levi winkte ab. »Kenne ich. Hermes Thoth. Alles nachgelesen, alles Bullshit. Hilft mir einen Scheiß, ihr geklonten Theoretiker. Nehmt euch lieber ein Bier und sprecht mal Tacheles.« Er rülpste.

»ICH BIN DAS ICH BIN.«

»Ja, ja. Eine hängende Schallplatte ist interessanter. Geht und nervt jemand anderen.«

»SIE KOMMT IM MORGENGRAUEN. IHR HAUPT WIRD BUNT SEIN.«

Levi lachte. »Schön für sie. Ich schlafe dann noch.«

»ES STEIGT VON DER ERDE ZUM HIMMEL UND KEHRT ZURÜCK, DAMIT ES DIE MACHT DES OBEREN UND DES UNTEREN EMPFANGE.«

»Verpisst euch! Ich hab euch nicht eingeladen.«

»ICH BIN DAS ICH BIN, WEIL ICH DIE DREI TEILE BESITZE.«

Levi sah zu ihnen hinüber. »Leute, entweder ihr nehmt euch ein Bier, setzt euch zu mir und wir ziehen uns ein bisschen Musik rein, oder ihr haut ab. Ich mach da nicht mehr mit. Das letzte Mal, als ich mich in das Leben eines anderen eingemischt habe, wär’ ich fast im Knast gelandet. Das könnt ihr nicht verlangen.«

Sie waren längst verblasst. Sie gingen, wie sie kamen: plötzlich und unvorhersehbar. Nicht einmal Levi konnte sagen, wann sie kamen oder gingen.

Er zündete sich eine weitere Zigarette an und lehnte sich im Sofa zurück. Die Schlieren umtanzten ihn. Levi hob die freie Hand, schnippte mit den Fingern und verscheuchte sie.

Levi wusste, dass sie hier waren, weil er trank. Sie lauerten wie Diebe, von ihrem Durst getrieben. Sein Rausch zog sie an wie ein Kadaver die Fliegen.

Dieses Mal war es sein Handy, das die Stille zerriss. Seine Hosentasche vibrierte. Levi stellte das Bier auf dem Tisch ab, zog das Handy hervor, warf einen Blick auf das Display und nahm ab.

»Phil! Ich wollte dich anrufen, ich weiß. Ich …«

»Halt die Klappe, Lev. Du bist schon wieder betrunken, ich kann es hören.«

»War eine lange Nacht.«

»Jetzt übernehme ich mal deinen Job: Du hast dich rumgetrieben, eine Alte aufgerissen, sie genagelt, danach hast du gekotzt, und ich hab dich grad aufgeweckt. Und du liegst in deiner eigenen Kotze.«

Levi lachte. »Fast.«

Die Leitung rauschte. Die Verbindung nach Afrika war nicht gut, war fast nie gut.

»In zwei Monaten komme ich für einige Wochen zu Besuch. Kann ich dir das Versprechen herausquetschen, dass du bis dahin noch lebst?«

»Klar. Hand drauf.«

Rauschen.

»Levi, hör zu. Du musst aufhören damit. Ich hau dir deinen blöden Schädel runter, wenn du nicht endlich aufhörst. Du benimmst dich wie ein trotziges Kind. Du hast eine Gabe, und du solltest dankbar sein. Wenn ich zurück bin, hast du eine Entziehungskur hinter dir. Verstehen wir uns?«

Levi schloss die Augen. »Phil? Mann, ich kann dich nicht hören. Was hast du gesagt? Die haben einem Kind den Schädel runtergeschlagen? Du musst raus aus diesem Land! Phil? Hallo? Hallo?« Er legte auf.

Und schlief erneut ein.

Drei Stunden später erwachte er, weil ihm der Speichel über die Wange lief. Levi setzte sich auf, wischte sich über den Mund und trank das angebrochene Bier aus. Anschließend duschte er, rasierte sich und zog frische Kleidung an.

Als er die Wohnung verließ, war es beinahe elf Uhr nachts.


Sie kam kurz vor Mitternacht. Sie trug einen grellbunten Hut.

Levi saß auf der steinernen Umrandung eines Brunnens in der Innenstadt, den Rucksack voll mit Bierflaschen. Zuerst nahm er die Frau nicht wahr. Sein Blick war schummrig, der Alkohol holte ihn ein. Als sie direkt vor ihm stand und nach Feuer fragte, erinnerte er sich.

»Setz dich«, sagte Levi. »Wir müssen reden.»

»Müssen wir?« Sie machte ebenfalls einen angeheiterten Eindruck.

»Niemand sieht mich, denn ich will nicht gesehen werden. Niemand spricht mich an, bis ich mich bemerkbar mache. Du hast mich trotzdem gesehen.« Er deutete auf ihren Kopf. »Und du hast ein buntes Haupt.«

Sie kicherte. »Du rauchst und ich brauchte Feuer. Und ich mag den Hut.«

Levi sah ihr ins Gesicht. Nichts geschah. Er betrachtete den Hut. Er war hässlich.

»Magst du Musik?«

»Was?« Er griff in seinen Rucksack, öffnete ein Bier mit dem Feuerzeug und reicht ihr die Flasche.

»Na, Musik. Hörst du gern Musik?«

Levi sah sie erneut eingehend an. Noch immer nichts.

»Ich liebe Musik«, antwortete er. »Sie ist die einzige Möglichkeit, das nach außen zu bringen, was man mit Worten nicht beschreiben kann. Musik öffnet den Weg in andere Ebenen. Sie ist Ventil und Medium zugleich.«

Jetzt musterte sie ihn erstaunt. Sie nahm einen Schluck vom Bier. Levi fiel auf, dass ihr Lächeln schief war. Sie zog nur einen Mundwinkel nach oben, der andere neigte sich nach unten. Der Hut saß gerade.

»Du bist ein einsamer Mensch, der viel sinniert. Habe ich recht?«

Levi zuckte mit den Schultern. »Nicht einsamer als alle anderen. Einsamkeit ist eine Einbildung und abhängig vom jeweiligen Moment.«

»Mein Gott, kannst du auch normal reden?«

Levi grinste. »Nur, wenn ich nüchtern bin.«

»Na dann.« Sie hob ihr Bier und stieß mit ihm an. »Wir sollten uns mal treffen, wenn wir nüchtern sind.«

»Kommt selten vor.«

»Was? Dass du dich mit anderen Leuten triffst, oder dass du nüchtern bist?«

»Beides.«

»Du machst dich interessant.«

Sie musste die Falsche sein. Noch immer konnte Levi nicht sehen, was aus ihr werden würde. Die Drillinge hatten sich getäuscht.

»Ich mache gar nichts. Ich bin nur. Das ist alles.«

Er konnte grüne Sprenkel im Braun ihrer Augen erkennen. Und Stille, unendliche Stille und Frieden. Ihm wurde klar, dass das hier anders war. Es kam keine Vision. Es würde auch keine kommen. Hier herrschte echte Stille. Blankes Sein.

Unwillkürlich griff er in ihren Nacken, zog sie zu sich und küsste sie. Noch immer nichts.

Sie schob ihn von sich und blinzelte ihn einige Sekunden lang an. »Küsst du alle Frauen sofort?« Ihre Stimme klang misstrauisch. Ihre Heiterkeit war dahin.

»Entschuldige. Das war unüberlegt.« Levi wandte sich ab. »Geh ruhig. Ich kann es verstehen.«

»Warum sollte ich gehen? Was verstehst du?«

»Zu viel.«

Sie lachte. »Hier gibt es viele schräge Vögel, aber du toppst alle! Komm schon, Kopf hoch! Ich werde nicht einfach gehen, nur weil du meinem Liebreiz verfallen bist.« Sie hielt ihm erneut das Bier zum Anstoßen hin.

Sie tranken. Jeder nahm einen tiefen Schluck.

Sie schwieg einen Moment. »Ich heiße Karo, das kommt von Karoline.«

Er lächelte. »Levi.«

»Wir gehen zu mir. Und dann trinken wir nichts mehr, denn ich habe das Gefühl, du schläfst nur mit Frauen, wenn du total betrunken bist. Das ist nachteilig, weil du nicht mehr weißt, wie sich die Frau anfühlt. Und ich will, dass du fühlst. Du hast zu lange nichts mehr gefühlt.«

Levi starrte sie an. Sie zog ihn auf die Beine und führte ihn in ihre Wohnung.

03.04.2012

Sie lagen nebeneinander. Levi starrte zur Decke hinauf, ohne sie in der Finsternis zu sehen. »Ich habe gefühlt«, sagte er.

»Gut.« In ihrer Stimme lag ein Lächeln.

»Haben sie dich geschickt?«

Sie richtete sich in seinen Armen auf. Er wusste, dass sie ihn ansah. »Wer? Wovon redest du?«

»Nichts. Schon in Ordnung.«

Es folgte Stille, aber sie legte sich nicht zurück. Sie überlegte.

»Ich bin kein Mädchen für One-Night-Stands. Ich lasse mich nicht leichtfertig auf etwas ein, denn ich muss erst vertrauen können. Es ist schwer, mein Vertrauen zu gewinnen. Was ich heute gemacht habe, entsprang einer Intuition, und es ist eine große Ehre für dich, so abgedroschen sich das anhören mag. Also reiß dich zusammen und verletze mich nicht, Levi vom Brunnen.«

Er hob die Hand und strich ihr über die Wange. »In Ordnung.«

»Dann sag mir die Wahrheit. Was hast du damit gemeint? Wer soll mich geschickt haben?«

Ein verbittertes Grinsen schlich sich auf seine Lippen. »Du verlangst Vertrauen, ohne es selbst zu geben. Ich kann es dir nicht sagen. Wir kennen uns nicht.«

»Keine Spielchen?«

»Keine Spielchen.«

Sie küsste ihn. Ihre Haare legten sich um seinen Kopf und auf seine Brust. Er umfasste es mit beiden Händen und kämmte es nach hinten.

Noch immer kam keine Vision.

23.04.1996

»Komm endlich!« Ihm standen Tränen in den Augen. Er packte seine Mutter am Arm und zog mit aller Gewalt, so dass sie zusammen in Richtung Flur taumelten. »Bitte! Komm!«

Seine Mutter schlug mit der freien Hand nach ihm. »Lass mich los! Sofort!«

Levi konnte sehen, dass sie Angst hatte. Sie hatte immer Angst vor ihm. Eine unbestimmte Angst, vergraben unter ihren mütterlichen Gefühlen. Jetzt trat die Angst in den Vordergrund.

»Lass mich los!« Ihre Stimme überschlug sich. »Komm zur Besinnung, du irrer Rotzlöffel!«

Ihm blieb nichts anderes übrig, er hatte keine Wahl.

Der Fernseher lief noch immer, eine Nachrichtensprecherin erzählte irgendetwas über Explosionen und Feuer. Am Rande registrierte Levi Bilder von Flammen, die über die Mattscheibe flackerten.

Er schlug zu. Seine Faust traf ihr Kinn so hart, dass irgendein Knochen krachte. Es war ein Knochen in seiner eigenen Hand. Levi unterdrückte den Schmerz. Seine Mutter klappte vor ihm zusammen, er fing sie auf. Sie war zu schwer für ihn. Er ließ sie zu Boden sacken, hörte sie unverständliche Worte murmeln. Dann packte er ihre Arme und schleifte sie in Richtung Flur.

Als die Decke herunterbrach, hatte er sie gerade weit genug geschleift, damit sie nicht von den Trümmern erwischt wurden. Eine kalkige, weiße Staubwolke breitete sich in der Wohnung aus. Levi warf sich über seine Mutter und schützte ihren Kopf. Feine Splitter regneten auf sie herunter, irgendwo schrie jemand.

Levi wollte sich gerade aufrichten, als etwas nachrutschte. Er hörte ein Poltern, dann wurde es schwarz um ihn.


Der Mund war trocken. Seine Zunge war jetzt ein Mehlwurm, ungelenk und gepudert. Er konnte sich nicht bewegen, sein Kopf fühlte sich dumpf an.

»Da wird ja jemand wach«, sagte eine Stimme.

Levi blickte auf und sah eine alte Frau in einem weißen Kittel. Sie lächelte.

Ihm fiel wieder ein, was passiert war. Er hatte seine Mutter geschlagen. Er hob die Hand. Sie war geschient.

»Ein Bruch«, sagte die Krankenschwester. »Die Mittelhand.« Sie beugte sich über ihn. »Außerdem hat dich ein Trümmerstück am Kopf erwischt. Wir haben die Platzwunde genäht. Wird alles wieder.«

»Wasser«, krächzte er. Das Sprechen tat weh.

Sie zog ein mitleidiges Gesicht. »Du darfst noch nicht trinken. Du wirst über die Infusion versorgt. Wir können nicht ausschließen, dass es innere Verletzungen gibt, darum darfst du die nächsten vierundzwanzig Stunden nichts zu dir nehmen. Möchtest du den Mund wenigstens ausspülen? Das hilft etwas.«

Levi nickte.

Sie reichte ihm ein Glas und ein metallenes Behältnis. Er gurgelte und spuckte aus. Der Mehlwurm verwandelte sich wieder in eine Zunge. Das taube Gefühl blieb.

»Meine Mutter?«

Die Krankenschwester lächelte. »Ihr geht es gut. Eine Prellung am Kinn, das ist alles. Sie war die ganze Zeit hier bei dir, gerade ist sie zur Toilette gegangen. Sie wird bestimmt gleich wieder hier sein.« Die Schwester deutete auf einen Knopf. »Wenn du etwas brauchst, klingle. Du darfst noch nicht allein aufstehen wegen der Gehirnerschütterung. In Ordnung?«

Wieder nickte er. Er war entkräftet.

Als die Tür zu seinem Zimmer aufging, schreckte er aus einem seichten Schlaf auf. Seine Mutter trat an sein Bett. Ihr Kinn war geschwollen und blau. Sie sah ihn sehr ernst an.

Levi versuchte zu lächeln. Er war zu schwach, um die Hand nach ihr auszustrecken.

»Woher wusstest du, was passieren wird?« Ihre Stimme klang schroff.

Sein Lächeln schwand. Er zuckte mit den Schultern.

»Hast du wieder diese Bilder im Kopf?«

Er nickte, ohne sie anzusehen.

»Der alte Mann über uns ist samt der Couch in unsere Wohnung gekracht und gestorben. Wahrscheinlich hat sein schwaches Herz vor Schreck einfach den Geist aufgegeben.«

Levi antwortete nicht. Auch sie sagte nichts mehr. Er konnte hören, dass irgendwo im Zimmer ein Stuhl knarrte, aber sie blieb seinem Blick fern. Levi schlief wieder ein.


Levi erwachte, weil ihn jemand am Kopf berührte. Es standen drei Männer um sein Bett, einer von ihnen begutachtete die Platzwunde. Die Krankenschwester war ebenfalls da.

»Alles bestens«, sagte der Arzt und lächelte ihn an. »Wie fühlst du dich?«

Der Mehlwurm war zurück. »Müde und durstig.«

Der Arzt nickte. »Er darf essen. Die Wunden heilen gut. Hast du Schmerzen?«

Levi befragte seinen Körper. »Nein. Ich fühle mich nur schwindelig.«

»Wir führen dir Schmerzmittel über die Infusion zu, das kann daran liegen. Außerdem hast du eine Gehirnerschütterung, da ist man immer etwas schummrig im Kopf.« Er wandte sich den anderen beiden Männern zu. »Wenn er die Nacht über stabil bleibt, entlasst ihn morgen. Er bekommt Abendessen. Noch kein Herumwandern allein.«

Alle nickten. Auch Levi.

Als die Männer weg waren, brachte ihm die Krankenschwester eine Kanne voll Wasser. Sie half Levi, sich ein wenig aufzurichten, und hielt ihm das Glas an den Mund. Er trank gierig. Der erste Schluck schmerzte in der trockenen Speiseröhre.

Ihm fiel auf, dass seine Mutter nicht mehr hier war. Levi erinnerte sich an ihr Gesicht. Sie hatte nicht sehr begeistert ausgesehen.

Er lehnte sich im Bett zurück und konnte die Tränen nicht aufhalten. Er war zu schwach, um dagegen anzukämpfen. Die Krankenschwester tätschelte seine Schulter, und bald schlief er wieder ein.


Levi träumte: Er lag kerzengerade auf einer Tragbahre. Neben ihm stand jemand. Die Erscheinung strahlte Geborgenheit und Wärme aus. Hände fuhren in strukturierten Mustern über seinen Körper, erfüllten ihn mit Wohlbehagen.

24.04.1996

Levi schlug die Augen auf. Sanftes Licht fiel durch das Fenster und erfüllte den Raum mit einem neuen Tag. Er fühlte sich gestärkt und gesund.

Vorsichtig richtete er sich im Bett auf, um die Infusionsnadel nicht aus dem Arm herauszureißen. Er griff nach dem Rollwagen, zog ihn zu sich, schenkte sich Wasser ein und trank. Anschließend klingelte er nach der Schwester. Es kam eine andere. Sie war jünger und sah müde aus.

»Ich will nach Hause«, sagte Levi. »Ich bin gesund.«

»Es ist noch nicht mal sechs Uhr. Jetzt kannst du nicht gehen. Leg dich wieder hin und schlaf noch ein bisschen.« Sie drehte sich um und ging.

Levi blickte sich im Zimmer um. Er wollte nicht mehr bleiben, er war nicht müde. Sein Blick fiel auf die Infusionsnadel. Er fingerte das Pflaster herunter und betrachtete die Nadel, die in seiner Vene verschwand. Vorsichtig zog er sie heraus. Er drückte mit dem Daumen einige Minuten auf den Einstich, bis dieser nicht mehr blutete.

Mit der linken Hand fing er an, den Verband von der geschienten Hand zu wickeln. Als er sie frei hatte, nahm er die Schiene ab und bewegte die Finger. Sie waren ein wenig taub und dick, aber nichts tat weh. Levi stand auf.

Auf dem Stuhl, auf dem seine Mutter gesessen haben musste, lag frische Kleidung. Er schlüpfte in die Jeans und das Sweatshirt und ging zum Badezimmer hinüber. Nachdem er auf dem Klo gewesen war, betastete er die Platzwunde am Hinterkopf und sah sich dabei im Spiegel an. Er konnte geronnenes Blut im vom Kalk und Staub dreckigen Haar spüren, dazwischen den Faden. Er wusch sich das Gesicht.

Im Zimmer sah er sich noch einmal um. Es gab keine weiteren persönlichen Sachen. Levi nahm die Schiene und den Verband mit, schlich aus dem Zimmer und den Gang hinunter. Irgendwann kam er zu einer Treppenflucht. Er fand den Ausgang aus dem Krankenhaus, orientierte sich draußen und ging zu Fuß nach Hause.

€7,49

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Umfang:
161 S. 3 Illustrationen
ISBN:
9783754146910
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