Buch lesen: «Das exegetische Proseminar», Seite 3

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Forum Exegese und Hochschuldidaktik Verstehen von Anfang an (VvAa)

Jahrgang 1 – 2016, Heft 2

Schritt für Schritt auf dem Weg in den Text –

Die Methode der Verssegmentierung am Beispiel von Joh 4,1–15

Christina Hoegen-Rohls

Abstract | This article emphasizes the meaning of segmentation of verses as first methodological access to biblical text passages. This method is not included in exegetical textbooks yet, but serves as a tool to support a qualified awareness of biblical texts by students in each phase of their studies. The self-assurance to be an »expert from the very beginning« motivates students to investigate the deeper structures of texts and to get themselves into exegetical methodology.

In a first step the author refers to the differences of printed images in various editions of biblical texts. In a second step, students raise their awareness for characteristics by language within the texts. And in the final step they develop their appreciation for the narratological structure of the text.

Der vorliegende Beitrag möchte praxisnah an einem konkreten Textbeispiel aus dem Johannesevangelium zeigen, wie wertvoll es ist, sich im exegetischen Proseminar von Anfang an Zeit für den Text zu nehmen. Vorführen und reflektieren möchte ich die Methode der Verssegmentierung, die den ersten wissenschaftlichen Kontakt zum auszulegenden biblischen Text herstellt – sei es in der Originalsprache, sei es in einer deutschen Übersetzung. Diese Methode ist bisher nicht fester Bestandteil unserer exegetischen Methodenbücher.1 Als Hochschullehrerin im Bereich der Bibelwissenschaften und der Biblischen Didaktik machte ich jedoch in langjähriger Praxis die Erfahrung, dass Studierende es schätzen, diesen grundlegenden Arbeitsschritt für den Umgang mit einem alt- oder neutestamentlichen Text zu erlernen, da er Sicherheit verleiht und ihnen hilft, sich von Anfang an als selbständig agierende »Textexperten« zu verstehen. Die Methode der Verssegmentierung erfolgt nach klaren, nachprüfbaren Regeln, die von den Studierenden und der Lehrkraft im gemeinsamen Lehr-/Lern-Prozess festgelegt, immer wieder überdacht und unter Angabe von Gründen verschlankt oder weiter ausdifferenziert werden können. Eine Beschäftigung mit dem »visuellen Text« in unterschiedlicher Textgestalt bereitet die Verssegmentierung vor – eine Aufgabe, bei der sich Studierende nach meiner Erfahrung intensiv mit ihren eigenen Beobachtungen einbringen und ihr Auge dafür schulen, dass ein Druckbild Sinn erzeugen kann, indem es Hinweise auf Inhalt und Struktur des Textes gibt. Auf diese Weise von Anfang an produktiv arbeiten zu können und dabei zu frühen Erfolgserlebnissen zu gelangen, ohne bereits auf das Methodenbuch angewiesen zu sein, macht die im folgenden skizzierte Methode der Verssegmentierung gerade für Anfängerinnen und Anfänger im exegetischen Proseminar attraktiv. Das Selbstbewusstsein, »Experten von Anfang an« zu sein, motiviert Studierende dazu, sich den Text im weiteren Lernprozess tiefer zu erschließen, und fördert ihre Bereitschaft, sich auf den Kanon der exegetischen Methodenschritte einzulassen.

Christina Hoegen-Rohls, *1959, Dr. theol., ist Professorin für Bibelwissenschaften (Altes und Neues Testament) und ihre Didaktik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Sie studierte Evangelische Theologie, Germanistik und Erziehungswissenschaften an den Universitäten München und Zürich. In den Jahren 1991–1994 war sie als Gymnasiallehrerin für Deutsch und Evangelische Religionslehre tätig. Als Privatdozentin an der LMU München wurde sie vom Bayerischen Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst mit dem »Preis für gute Lehre 2004« ausgezeichnet. Sie ist Mitglied im Lehrbeirat der WWU Münster, der die Universitätsleitung u.a. in Fragen zu Studienbedingungen und Qualität in der Lehre berät.

Erster Schritt: Visuelle Textwahrnehmung

Der Text Joh 4,1–15 stellt sich unseren Studierenden genauso wie uns als Lehrenden in einer bestimmten materialen Gestalt dar, die wir von Anfang an wie selbstverständlich visuell wahrnehmen. Ob in elektronischer Form aufgerufen oder traditionell in einer der zur Verfügung stehenden Bibelausgaben aufgeschlagen – die äußerlich sichtbare Textgestalt verliert ihre Selbstverständlichkeit, sobald wir entdecken, wie zeit- und mediengebunden sie ist. An den Buchausgaben wie an den elektronischen Versionen der Bibel lässt sich beobachten, dass derselbe Text je nach Publikationsorgan ein unterschiedliches Aussehen besitzt. Bereits beim ersten Schritt auf dem Weg zur Verssegmentierung lohnt sich daher der Blick in verschiedene Formate des Bibeltextes, um erstens sein Erscheinungsbild wahrzunehmen und sich dabei gegebenenfalls der eigenen Sehgewohnheiten bewusst zu werden, um sich zweitens früh für sprachliche Eigenheiten des Textes intuitiv zu sensibilisieren und um drittens ein erstes Problembewusstsein für seinen erzählerischen Aufbau zu entwickeln. Durch die folgenden Beschreibungen verschiedener Textgestalten möchte ich den heuristischen und didaktischen Wert der visuellen Textwahrnehmung veranschaulichen.

Textgestalt 1: Joh 4,1–6 im sinnabschnittsgliedernden Fließtext Nestle-Aland 28. Aufl. online1

4 1 Ὡς οὖν ἔγνω ὁ Ἰησοῦς ὅτι ἤκουσαν οἱ Φαρισαῖοι ὅτι Ἰησοῦς πλείονας

μαθητὰς ποιεῖ καὶ βαπτίζει ἢ Ἰωάννης 2– καίτοιγε Ἰησοῦς αὐτὸς οὐκ

ἐβάπτιζεν ἀλλ‘ οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ– 3 ἀφῆκεν τὴν Ἰουδαίαν καὶ ἀπῆλθεν πάλιν εἰς τὴν Γαλιλαίαν.

4 Ἔδει δὲ αὐτὸν διέρχεσθαι διὰ τῆς Σαμαρείας. 5 Ἔρχεται οὖν εἰς

πόλιν τῆς Σαμαρείας λεγομένην Συχὰρ πλησίον τοῦ χωρίου ὃ ἔδωκεν Ἰακὼβ [τῷ] Ἰωσὴφ τῷ υἱῷ αὐτοῦ· 6 ἦν δὲ ἐκεῖ πηγὴ τοῦ Ἰακώβ. ὁ οὖν Ἰησοῦς

κεκοπιακὼς ἐκ τῆς ὁδοιπορίας ἐκαθέζετο οὕτως ἐπὶ τῇ πηγῇ· ὥρα ἦν ὡς

ἕκτη.

Textgestalt 2: Joh 4,1–6 im sinnabschnittsgliedernden Fließtext der Zürcher Bibel 20072

4 1 Als nun Jesus erfuhr, dass die Pharisäer gehört hatten, Jesus gewin-

ne und taufe mehr Jünger als Johannes 2 – allerdings taufte Jesus

nicht selber, sondern seine Jünger tauften –, 3 verliess er Judäa und ging

wieder nach Galiläa.

4 Er musste aber durch Samaria hindurchziehen. 5 Nun kommt er

in die Nähe einer Stadt in Samarien namens Sychar, nahe bei dem

Grundstück, das Jakob seinem Sohn Josef gegeben hatte. 6 Dort war der

Brunnen Jakobs. Jesus war müde von der Reise, und so setzte er sich an

den Brunnen; es war um die sechste Stunde.

Gut erkennbar wird für Studierende beim visuellen Vergleich von Textgestalt 1 und Textgestalt 2 – ganz unabhängig davon, ob sie für ihren Studiengang die Originalsprachen der Bibel erlernen oder nicht –, dass sowohl der textkritisch rekonstruierte Text, wie ihn das Novum Testamentum Graece (Nestle-Aland 28. Aufl.) bietet, als auch die Buchversion der Zürcher Bibel 2007 typographisch einen versübergreifenden Fließtext präsentieren, der zugleich Sinnabschnitte abbildet. Für beide Textgestalten von Joh 4,1–6 liegt ein deutlich sichtbarer Sinneinschnitt nach V. 3. Studierende werden in einer kurzen Einzel- oder Partnerarbeit herausfinden können, dass zweierlei für diesen Abschnittswechsel verantwortlich sein könnte: zum einen die Tatsache, dass ab V. 4 die in den V. 1–3 genannten Pharisäer, Johannesjünger und Jesusjünger nicht mehr erwähnt werden; zum anderen, dass mit der Wegnotiz von V. 3 ein gewisser topographischer Abschluss erreicht zu sein scheint. Einigen Studierenden wird allerdings auffallen, dass auch V. 4 eine Wegnotiz enthält und daher das Itinerar als Ganzes (V. 3–4) zum ersten Sinnabschnitt gezogen werden könnte. Andere werden darüber hinaus den Wechsel der Tempora von V. 4 (im Deutschen: Imperfekt »er musste«; im Griechischen: Imperfekt ἔδει) zu V. 5 (im Deutschen: Präsens »nun kommt er«; im Griechischen: Präsens ἔρχεται οὖν) entdecken und als Argument für eine von den notierten Textgestalten abweichende Sinnabschnittsgliederung ins Spiel bringen.

Bestätigt sähen sich die Überlegungen der Studierenden zum Zusammenhang der Wegnotizen durch die modernen Druck- und Online-Versionen der Lutherbibel, die in Textgestalt 3 und Textgestalt 4 festgehalten sind:

Textgestalt 3: Joh 4,1–6 im sinnabschnittsgliedernden Fließtext der Lutherbibel 1984 online3

4 1 Als nun Jesus erfuhr, dass den Pharisäern zu Ohren gekommen war,

dass er mehr zu Jüngern machte und taufte als Johannes 2 – obwohl Jesus

nicht selber taufte, sondern seine Jünger –, 3 verließ er Judäa und ging

wieder nach Galiläa. 4 Er musste aber durch Samarien reisen.

5 Da kam er in eine Stadt Samariens, die heißt Sychar, nahe bei dem Feld,

das Jakob seinem Sohn Josef gab. 6 Es war aber dort Jakobs Brunnen. Weil nun Jesus müde war von der Reise, setzte er sich am Brunnen nieder; es war um die sechste Stunde.

Textgestalt 4: Joh 4,1–6 im versgebundenen Spaltentext der Lutherbibel 1984/Standardausgabe4

4 Als nun Jesus erfuhr, daß den Phari-

säern zu Ohren gekommen war, daß er

mehr zu Jüngern machte und taufte als

Johannes

2 – obwohl Jesus nicht selber taufte, son-

dern seine Jünger –,

3 verließ er Judäa und ging wieder nach

Galiläa.

4 Er mußte aber durch Samarien reisen.

5 ¶ Da kam er in eine Stadt Samariens, die

heißt Sychar, nahe bei dem Feld, das Ja-

kob seinem Sohn Josef gab.

6 Es war aber dort Jakobs Brunnen. Weil

nun Jesus müde war von der Reise, setzte

er sich am Brunnen nieder; es war um die

sechste Stunde.

Studierende werden in Einzel- und Partnerarbeit darauf stoßen können, dass die beiden Versionen der Lutherbibel typographisch unterschiedlich organisiert sind.5 Die Lutherbibel 1984 online gestaltet einen versübergreifenden Fließtext, der Sinnabschnitte durch Zeilenumbruch voneinander trennt, während die Lutherbibel 1984 in Buchform (Standardausgabe) einen versgebundenen Spaltentext bietet, in dem bereits jeder einzelne Vers einen eigenen Absatz bildet.6 Sinnabschnitte müssen in dieser Ausgabe daher zusätzlich durch das Druckzeichen Alinea (¶) kenntlich gemacht werden, das im ausgewählten Text Joh 4,1–6 für V. 5 Verwendung findet. Textgestalt 3 und Textgestalt 4 demonstrieren also auf je eigene Weise mit ihrem Druckbild, dass sie die itinerarischen Angaben der V. 3–4 zusammenbinden und somit die V. 1–4 als ersten Sinnabschnitt der Erzählung von Jesus und der Samariterin auffassen. Dies wahrnehmen und beschreiben zu können, wäre eine erste Kompetenzstufe, zu der der Schritt »visuelle Textwahrnehmung« Studierende bei der Vorbereitung auf die Verssegmentierung zu führen vermag.7

Zweiter Schritt: Einblick gewinnen in die drucksemantische Qualität eines Textes

Dass Druckformate Sinn- und Bedeutungsträger sind, lässt sich besonders gut im Umgang mit dem letzten von Luther autorisierten und noch zu seinen Lebzeiten erschienenen Bibeldruck (Wittenberg 1545) vergegenwärtigen und didaktisch vermitteln. Die Arbeit mit diesem Bibeldruck empfehle ich Lehrenden aus Gründen seiner Erschließungskraft im Blick auf die Vers- und Satzgliederung des Bibeltextes ausdrücklich. Er ist leicht zugänglich in einer Studienausgabe (Reclams Universalbibliothek)1, die »buchstaben- und zeichengetreu die Textgestalt des Originals«2 bewahrt. Der Text Joh 4,1–6 zeigt in dieser Druckfassung – in der Sprachgestalt des Frühneuhochdeutschen3 – folgendes Erscheinungsbild:

Textgestalt 5: Joh 4,1–6 im Druckbild der Lutherbibel 15454

DA nu der HErr innen ward / das fur die Phariseer

komen war / wie Jhesus mehr Juͤnger machet /vnd

teuffet / denn Johannes 2(wiewohl Jhesus selber nicht

teuffet / sondern seine Juͤnger) 3verlies er das land

Judea / vnd zoch wider in Galileam / 4Er muste aber

durch Samariam reisen.

DA kam er in eine stad Samarie / die heisset Sichar /

nahe bey dem Doͤrfflin / das Jacob seinem son Jo-

seph gab / 6Es war aber daselbs Jacobs brun. Da nu

Jhesus muͤde war von der Reise / satzte er sich also auff

den brun / Vnd es war vmb die sechste stunde.5

Die optischen Besonderheiten von Textgestalt 5 werden Studierende im Vergleich mit den bisher betrachteten Textgestalten klar hervorheben können: die ungewohnte Schreibweise der Wörter (wie etwa die Schreibung des Jesusnamens, die uneinheitliche Schreibung des Vokalklangs »u« als »v« oder »u«, der hochgestellte Umlaut-Vokal und das fett gesetzte D in »Doͤrfflin«); die satzgliedernden Schrägstriche (Fachausdruck: »Virgel«6), die sich vielen bei genauerem Hinsehen als mit Punkt und Komma vergleichbare Satzzeichen erschließen werden;7 vor allem aber die beiden Großbuchstaben zu Beginn eines Absatzes sowie die beiden Großbuchstaben im Gottesnamen »HErr«.

Manche werden von selbst die Frage nach Funktion und Charakter dieser Großbuchstaben (Fachausdruck: »Versalien«8, »Majuskeln«9) stellen – eine Frage, die es lohnt, in kurzem Partneraustausch ventiliert zu werden, bevor sie im Plenum erörtert wird. Einige mögen die Versalien vage als »typisch altmodisch« bewerten. Andere, die etwa im Geschichts- oder Germanistikstudium schon mit alten Handschriften und Drucken zu tun hatten, könnten sich an visuelle Eindrücke von Initialen erinnert fühlen und die hervorstechenden Großbuchstaben als Verschönerung des Druckbildes, als Schmuck verstehen (Fachausdruck: »typographisch-ornativ«10). Einzelne werden in dieser Diskussion aber möglicherweise auch vorschlagen, die Großbuchstaben funktional und inhaltlich noch genauer mit Sinn zu füllen. Hintergrund ihres Vorschlags könnte nämlich die Verwunderung darüber sein, dass die Verwendung der Doppel-Großbuchstaben offensichtlich nicht einlinig zu begründen ist. Das Großbuchstabenpaar DA, dessen erster Großbuchstabe größer und in Fettdruck erscheint, scheint funktionalen Sinn zu haben: Es zeigt einen neuen Absatz an (Fachausdruck: »Abschnitt-Initiale«11). Das Großbuchstabenpaar HE hingegen könnte inhaltlich motiviert sein: Es könnte darauf hinweisen wollen, dass es sich bei Jesus nicht um einen menschlich-alltäglichen »Herrn«, sondern eben um den »Herrn Jesus Christus« handelt.

Mit solchen wichtigen, aus der visuellen Textwahrnehmung erwachsenen Vermutungen wären die Studierenden der »symboltypographische[n] Gestaltung«12 des historischen Luthertextes auf die Spur gekommen. Bei dieser Gestaltungsweise handelt es sich um ein »Auszeichnungsprinzip«13 des Textes, das den Laien-Lesern der Reformationszeit »visuelle Hilfen zum besseren (und schnelleren) Erfassen gewisser Wörter, Begriffe, Sentenzen usw. geben«14 sollte. Luthers Mitarbeiter Georg Rörer (1492–1557)15, der als Protokollant auch die Revisionsarbeit an Luthers Bibelübersetzung im Wittenberger Kreis festhielt,16 notiert in seinem Nachwort zum Bibeldruck von 1545 einige der Auszeichnungsregeln, die auf Luther selbst zurückgehen.17 So werden die wichtigsten »Spruͤche« des Alten Testaments, in denen Luther bereits eine Verheißung auf Christus hin erkennt, »mit groͤsser schrifft gedruckt«, damit sie der Leser »leicht vnd bald finden koͤnne«.18 Im Neuen Testament werden, wenn auch nicht völlig konsequent, die direkte Rede Gottes (wie etwa die Himmelsstimme bei Jesu Taufe nach Mk 1,9–1119), herausragende Worte und Reden Jesu (wie etwa der Taufbefehl in Mt 28,18–2020), aber auch menschliche Zeugnisse von Gotteserkenntnis und Gotteslob (wie etwa das Magnificat der Maria in Lk 1,46–5521) durch eine besondere Schriftart22 gekennzeichnet, um solche Passagen als theologisch bzw. christologisch relevante Aussagen erkennbar und wirksam werden zu lassen.

Eine Hervorhebung dieser Art zeigt sich im Textabschnitt Joh 4,1–15 gleich innerhalb des ersten Wechselgesprächs, das sich aus Jesu Bitte, die zum Brunnen gekommene samaritische Frau möge ihm zu trinken geben, entwickelt (V. 9–10):23

Textgestalt 6: Joh 4,9–10 im Druckbild der Lutherbibel 1545

9Spricht nu das Samaritisch weib zu jm / Wie bittestu

Von mir trincken / so du ein Juͤde bist / vnd ich ein

Samaritisch weib? Denn die Juͤden haben keine ge-

meinschafft mit den Samaritern. 10Jhesus antwortet /

vnd sprach zu jr / WENN DU ERKENNETEST DIE GABE

GOTTES / VND WER DER IST / DER ZU DIR SAGET / GIB MIR

TRINCKEN / DU BETEST JN / VND ER GEBE DIR LEBENDI-

GES WASSER.

Die für Jesu Antwort gebrauchten Kapitälchen signalisieren, dass seine Worte von der »Gabe Gottes« und vom »lebendigen Wasser« auf ihn selbst verweisen und also christologisch zu deuten sind. Die Kapitälchen erweisen sich somit als »drucksemantische Zeichen«24, in denen sich sowohl die exegetische Reflexion Luthers und des Wittenberger Übersetzer- und Revisionskreises spiegelt als auch deren Intention, den Lesern schon auf visueller Ebene einen theologischen Text zu präsentieren.

Auch zu den bei der visuellen Textwahrnehmung gewonnenen Überlegungen der Studierenden, die Großbuchstaben könnten bestimmten funktionalen oder inhaltlichen Sinn besitzen, finden sich Hinweise in Rörers Nachwort zum Bibeldruck von 1545 sowie bei Luther selbst in seiner Vorrede zum Alten Testament von 1523. Wenn es bei Rörer heißt: »so offt eine newe Historien / Straffe oder Trostpredigt / Ermanung / Wunderzeichen etc. angehet/ Jst am anfang derselben ein grosser Buchstab gesetzt«25, so bestätigt sich die studentische Vermutung, das Großbuchstabenpaar, dessen erste Versalie in Fettdruck und größer als die zweite gesetzt ist, diene der Absatzgliederung. Was wiederum die studentische Erwägung betrifft, das Großbuchstabenpaar HE solle inhaltlich auf Jesus Christus hinweisen, so lässt sich auch diese stützen durch den Hinweis darauf, dass Luther ausdrücklich festhält, die Schreibweise »HErr« – und davon unterschieden die Schreibung »HERR« oder »HERRE« – sei theologisch begründet: »Es sol auch wissen / wer diese Bibel liesset / das ich mich geflissen habe / den namen Gottis den die Juden / tetragrammon heyssen / mit grossen buchstaben aus zu schreyben / nemlich also /HERRE / vnd den andern / den sie heyssen /Adonai / halb mit grossen buchstaben / nemlich also / HErr / denn vnter allen namen Gottis / werden dise zween alleyn / dem rechten waren Gott ynn der schrifft zu geeygent / die andern aber werden offt auch den engelen vnd heyligen zu geschryben. Das hab ich darumb than / das man da mit gar mechtiglich schliessen kan / das Christus warer Gott ist / weyl yhn Jeremia. 23. HERR nennet / da er spricht / sie werden yhn heyssen HERR vnser gerechter / also an mehr orten des gleichen zu finden ist.«26

Studierende werden mit Hilfe eines Lehr-/Lern-Gesprächs, in dem Luthers Ausführungen erklärt und auf die Sprachtradition der Hebräischen Bibel bezogen werden, feststellen können, dass der abschnitts- und kapiteleinleitende Temporalsatz in seiner frühneuhochdeutschen Fassung und Schreibweise (»Da nu der HErr innen ward« [neuhochdeutsch: »weil/als nun der Herr sich dessen bewusst war«]) intentional den von Luther für die hebräische Gottesbezeichnung ‎‏אָדוֹן‎‏ [Adon/Herr] bzw. ‎‏אֲדֹנָי‎‏ [Adonai/(mein) Herr] reservierten Gottesnamen birgt. Es wird sich ihnen in der Anfangsphase ihres Studiums die Frage stellen, wie eine hebräische Gottesbezeichnung aus dem Alten Testament Eingang in die Sprache des Neuen Testaments findet.27 In Erwartung dieser Frage werden wir als Lehrende die Septuaginta in ihrer griechischen Fassung28 und die Ausgabe Septuaginta Deutsch – in Buchform29 (samt Erläuterungsbänden30) und mit dem entsprechenden Hinweis auf die elektronische Version31 – bereithalten, um auf Belege zugreifen zu können, in denen das griechische Wort κύριος zum einen in alltagssprachlich-profaner, zum anderen in theologischer Verwendung hervortritt. Anschauliche Beispiele für die profane Bedeutung »Herr, Gebieter, Besitzer« könnten etwa im Rahmen der Erzählung von Abrahams Kauf einer Grabhöhle für Sara (Gen 23,1–20) die Belege Gen 23,11.15LXX sein (Anrede Abrahams als κύριε) oder im Rahmen der Rechtsordnungen Ex 21,1–23,19 das Syntagma ὁ κύριος τῆς οἰκίας (Ex 22,7LXX). Beispiele für die theologische Füllung des Wortes bieten permanent die Psalmen mit der wiederkehrenden Gottesanrede κύριε/Herr (vgl. nur Ps 3,2LXX; 5,2LXX; 6,2LXX; 9,2LXX; 12,2LXX; 14,2LXX; pass.). Stilistisch eindrücklich lässt sich die Verwendung der Kyrios-Anrede durch die Repetition in Ps 134,13LXX (κύριε, κύριε/Herr, Herr) und durch die Alliteration in Ps 8,2LXX belegen (κύριε ὁ κύριος ἡμῶν/Herr, unser Herr[scher]). Semantisch besonders überzeugend wird für Studierende der Hinweis auf Ps 7,2LXX und Ps 79,5LXX sein, wo sich »Herr« und »Gott« in einem Atemzug als Invokationen ergänzen können: κύριε ὁ θεός μου (Ps 7,2LXX: Herr, mein Gott)/κύριε ὁ θεὸς τῶν δυνάμεων (Ps 79,5LXX: Herr, Gott der Heerscharen). Das Lehr-/Lern-Gespräch wird in diesem Zusammenhang die Gelegenheit nutzen, die sprach- und kulturgeschichtliche Leistung der Septuaginta zu thematisieren32 und fachsprachliche Termini wie »Gottesnamen«, »Würdenamen«, »christologische Hoheitstitel« einzuführen und zu reflektieren.33

Möglicherweise werden wir als Lehrende aber zunächst mit einer ganz anderen Frage der Studierenden konfrontiert. Es könnte ihnen nämlich bei der Arbeit an Textgestalt 5 im Vergleich mit den bisher betrachteten Versionen von Joh 4,1 aufgefallen sein, dass anstelle des explizit benannten Subjekts »Jesus« (vgl. Textgestalt 1–4) im Druck der Lutherbibel von 1545 eben der Auszeichnungsname »HErr« steht. Wenn wir nicht davon ausgehen wollen, dass Luther hier eine andere Ausgabe des griechischen Textes vorlag – Nestle-Aland 28. Aufl. verzeichnet jene Zeugen, die in V. 1 κύριος lesen –, so werden wir mit den Studierenden entdecken können, dass Luther bewusst für »Jesus« den christologischen Titel »Herr« einsetzt und mit der dafür verwendeten Druckgestalt »HErr« zum Ausdruck bringen möchte, dass er Jesus als Gott versteht.

Um nun die berechtigte Vermutung der Studierenden, das Großbuchstabenpaar HE könne Jesus als den »Herrn Jesus Christus« zur Geltung bringen wollen, endgültig als relevant zu würdigen und im Blick auf die drucksemantische Dimension »Jesus ist Gott« hin zu vertiefen, lohnt sich der Blick auf das Wechselgespräch zwischen Jesus und der Samariterin in den V. 11–15, in denen gerade das alltagssprachliche »Herr« erscheint. Nach Jesu Wort vom lebendigen Wasser in V. 10 beginnt mit V. 11 eine neue Phase des Dialogs, die durch die irritierte Frage der samaritischen Frau eingeleitet wird, woher denn Jesus, zumal ohne Schöpfgefäß, »lebendiges Wasser« nehme – die Samariterin bezieht solches Wasser auf das sprudelnde Grundwasser, das der Brunnen als »›gefasste Quelle‹«34 und aufgrund seiner Tiefe bereit hält. In V. 15 weicht ihre Irritation einer dringenden Bitte: Wenn wirklich, wie Jesus ihr sagt, er ein anderes Wasser zu bieten habe als der Jakobsbrunnen – eines, das in dem, der trinkt, eine Quelle von Wasser erzeugt, das ins ewige Leben »springt«35 – , dann möge er ihr eben dieses Wasser geben!

Textgestalt 7: Joh 4,11.15 im Druckbild der Lutherbibel 1545

11Spricht zu jm das weib / Herr / hastu doch nichts / da

mit du schepffest / vnd der Brun ist tieff / Wo her hastu

denn lebendig wasser?

15Spricht das weib zu jm / Herr / Gib mir dasselbige

wasser / auff das mich nicht duͤrste / das ich nicht her

komen muͤsse zu schepffen.

Eindeutig können die Studierenden nun erkennen, dass zwischen »HErr« (V. 1) und »Herr« (V. 11.15) ein Unterschied besteht. Die Samariterin spricht Jesus mit der Höflichkeitsanrede »Herr« an – und dem Bibeldruck von 1545 scheint daran gelegen zu sein, diese Anrede als eine alltags- bzw. routinesprachliche Anrede zu kennzeichnen. Weder in V. 11 noch in V. 15 wird »Herr« als christologischer Titel ausgezeichnet. Soll das zeigen, dass die samaritische Frau noch am Anfang eines Verstehensprozesses steht? Wird ihr im weiteren Gesprächsverlauf, in dem sie sich Schritt für Schritt an Jesu Bedeutung als Prophet (V. 19) und Messias (V. 15) herantastet, das doppelte Großbuchstabenpaar als Zeichen wachsender Christuserkenntnis zugebilligt? Studierende werden sich nicht ohne Neugier auf solche Fragen einlassen.

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