David - Die Grausamkeit des Unterlassens

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David - Die Grausamkeit des Unterlassens
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Maxi Hill

David - Die Grausamkeit des Unterlassens

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Verstoßen

Verflucht

Verwöhnt

Verzweifelt

Verkannt

Verdrossen

Vertröstet

Verpflichtet

Verabredet

Verwandt

Verschwiegen

Vernünftig

Verzwickt

Verdächtig

Verunsichert

Verurteilt

Maxi Hill

Bibliografischer Überblick über die jüngsten Maxi-Hill-Bücher

Impressum neobooks

Verstoßen

Ein ganz normaler Tag im Leben von Ellen Herold, und doch beginnt Furchtbares seinen Lauf zu nehmen, von dem weder Ellen noch ihr Mann Oliver etwas ahnen können. Bald wird in diesem Haus nichts mehr so sein, wie es einmal war. In diesem Haus hatten sie sich zu leben durchgerungen, weil ihr Traum vom Eigenheim nie und nimmer erreichbar wurde.

Ellen blickt durch das Küchenfenster über das Grün der Stadt bis zum Turm, dessen Uhr mal wieder streikt. Doch ihr Kopf ist nicht da draußen und nicht hier drinnen bei dem Gemüse, das ihr Messer akribisch auf dem Holzbrett zerteilt. Ihr Sinn ist auch nicht bei Oliver, der jeden Augenblick kommen wird. Das Essen ist noch nicht fertig. Ein Blick zur Uhr sagt ihr, er wird gerade das Auto vor dem Haus einparken und wie stets diszipliniert die Treppe nehmen anstelle des Aufzugs. Was wäre jetzt anders, hätte sie heute den Aufzug genommen?

Ihre Gedanken sind bei dem Kind, das da auf der Schwelle der Familie Brock saß, das sie nicht kannte und dem sie zurief:

»Na, mein Kleiner? Wohin gehörst du denn?«

Das Kind mit den scheuen Augen im zarten Gesicht reagierte kaum. Zwar schnellte ein Kinderbein trotzig in ihre Richtung, dann saß es wieder da, apathisch, nur sein bleicher Mund zuckte noch und sein Blick ging nach oben, als wartete es darauf, dass die Tür sich wieder öffnete.

»Bist du hier zu Besuch?« Die Lider des Kindes verdunkelten die hellgrünen Augen, Worte kamen nicht durch die verbissenen Lippen.

Der blonde Junge mochte noch keine drei Jahre alt sein. Seine Wangen waren rau, als habe sie kalter Herbstwind geschunden, und sein helles Haar lag in Strähnen verklebt auf der Stirn. Aber es ist Sommer und das Wetter kann freundlicher gar nicht sein.

»Willst du da rein? «, hatte sie es noch einmal versucht. Worte kamen noch immer nicht von dem Kind zurück, nur der Blick nahm eine gewisse Helligkeit an, die sie als Zustimmung gedeutet hatte.

Wäre sie doch bloß mit dem Aufzug gefahren!

Sie griff unter die Achseln des Kindes und hob es hoch. Kaum, dass sie den zarten Körper zwischen ihren Händen spürte, sprang ein seltsamer Funke über. Dieser Funke hat etwas entzündet und das brennt jetzt auf ihrem Gewissen. Das Kind konnte freilich auch unterernährt sein, vernachlässigt, verstoßen. Ausgestoßen, wie eben jetzt vor dieser Tür!

Es war ein Reflex, nichts anderes. Kein Gedanke an Einmischung. Kein Vorwurf. Keine Neugierde. Nur ein Reflex ließ sie zur Klingel greifen.

Es dauerte eine Weile, bis die Tür sich einen Spalt breit öffnete.

Die Hälfte vom Gesicht der Frau Brock erschien zwischen Holz und Wand.

»Entschuldigung«, hatte sie vorsichtig begonnen. »Ist der Junge vielleicht bei Ihnen zu Besuch? «

Ein Arm schnellte durch den Spalt, eine Hand griff nach dem Kind und zerrte es am Kragen in den Flur, ein Mund entließ wütend ein einziges Wort: »David!« Und dann hörte Ellen nur noch dumpf einen Halbsatz hinter der eiligst zugeschlagenen Tür: »Hundsfott, du! Willst du endlich…«

Was das Kind endlich sollte, blieb Ellen verborgen. Sie war festen Willens, sich über nichts zu wundern, doch das kindliche Wimmern hinter der Tür drückt auf ihrem Gewissen. Was ist zu tun? Warum hat sie geläutet? Zu wem gehört dieses Kind? Sie kennt schließlich die Kinder der Familie Brock. Und sie kennt sogar die Vorlieben der großen Jungen für Action- und Science-Fiction-Filme; sie muss schließlich nicht selten den Lärm aus dem Fernseher ertragen.

Aber ein Kind namens David? Nein. Das hat sie weder gesehen noch hat sie je eines der Geschwister diesen Namen rufen hören.

Man ruft sich doch unter Geschwistern. Woher sonst würde sie all die anderen Namen kennen. Zugegeben, alle kennt sie nicht, aber deren Gesichter kennt sie. Sie kann sogar die großen Jungen unterscheiden, von denen man sagt, sie seien Zwillinge. Der eine – Sven – trägt sein Haar über den Ohren und im Nacken geschoren und das Kopfhaar zu einer steilen Tolle gekämmt. Niklas, der sanftere von den beiden, trägt das Haar sauber geschnitten und gescheitelt, weshalb es auch dunkler erscheint als das von Sven. Und sie kennt Falk und Susi, die von der Mutter oft zum Einkaufen geschickt werden, wenn etwas Wichtiges fehlt. Aber dieses zarte, blond umrandete Gesicht mit den hellgrünen Augen und den bleichen Lippen hat sie noch nie gesehen. Darauf kann sie schwören.

Am späten Abend schlagen Türen in der Wohnung unter der von Ellen und Oliver Herold. Olivers Blicke huschen zu Ellen, die am Rechner sitzt und sich seit Minuten über etwas empört.

»Soziales Netzwerk? So ein Blödsinn. Hier wird nur Langeweile geschoben. Schau dir das mal an! Jetzt postet man schon sein Essen, bevor man es verschlingt. Und diese geistreichen Kommentare. Ellen flötet in höchsten Tönen: Ist ja süüüüß! Na, dann Guten Appetit, liebe Ira. «

Als sich ihre Stimme wieder in der normalen Oktave bewegt, schüttelt sie ihren Kopf: Ist das für einen normal bemittelten Menschen soziale Kommunikation? Ist miteinander zu reden aus der Mode gekommen?

»Ist zu reden die einzig menschliche Art des Verstehens? «, erwidert Oliver, während Ellens Gedanken die direkte Richtung bis vor die Tür der Familie Brock nehmen: Worte sind wie Gewehre. Einige retten dich vor dem inneren Tod. Andere töten dein Ego.

Oliver schenkt dieser offenkundigen Absurdität im sozialen Netzwerk nur selten Beachtung. Manchmal kommt auch er nicht umhin.

»Vielleicht wohnen die meisten der Facebook-User auch in einem Haus mit so wortkargen Untermietern. « Sein Daumen zeigt zur Tür, mehr an Gesten ist nicht vonnöten. Sie weiß, dass er Untermieter falsch anwendet, aber sie weiß auch, wie er es meint und auf wen seine Spitze abzielt.

»Wortkarg schon, aber sonst ziemlich laut!«, erwidert sie aus lauter Höflichkeit, dennoch mit eindeutiger Geste nach unten, woher die Laute zumeist kommen.

Das Schlagen der Türen unter ihnen ist eine Sprache für sich, und jetzt fällt Ellen das Kind wieder ein. Noch ehe sie den Nerv aufbringt, mit Oliver darüber zu reden, murmelt er vor sich hin: »Gregor Brock kommt vielleicht gerade wieder aus der »Glucke« Ich hab ihn dahin gehen sehen. Wird wohl wieder hackevoll sein. «

»Am Monatsanfang, sagt Frau Hedel, geht die Mutter auch mit, und manchmal nehmen sie sogar die Kinder mit in diesen Kneipendunst. «

Oliver schüttelt seinen Kopf, unmerklich, aber ihr entgehen seine minimalen Gesten nicht: »Wie mein Freund Kalle schon sagt: Auf den Geldtag folgt zuverlässig die Schnapsidee. «

»Wenn das Geld dafür reicht!« Oliver weiß, dass sie sich um die Aufwendungen der staatlichen Sozialfürsorge keine Gedanken macht. In dieser Hinsicht ist sie einigermaßen begriffsstutzig. Ihr Mann dreht seinen Körper zur Hälfte in ihre Richtung. Das tut er nur, wenn er ganz bei der Sache ist. Und das wiederum wundert Ellen jetzt.

»Bei den vielen Kindern leben die alleine vom Kindergeld schon nicht schlecht. Hinkebein kriegt überdies noch Hartz IV, und Brummbär geht schließlich arbeiten. «

Hinkebein und Brummbär nannte Oliver die Brocks schon, als sie beide damals hier eingezogen waren und sie noch keinen einzigen Namen ihrer Nachbarn kannten.

»Wo arbeitet er?«, fragt Ellen ehrlich interessiert.

»Arbeitsbeschaffung glaub ich. Viel fällt da nicht ab, aber er fällt damit aus der Statistik …«

»Genau das ist der Umstand, den man beklagen könnte, andererseits … Ein Intelligenzbolzen ist der schließlich nicht. «

»Zum Kinderzeugen reicht sein Grips«, sagt Oliver. »Wie viele Kinder haben die eigentlich? « Mit dieser Frage kommt er ihrer eigenen Neugier ziemlich nahe.

 

»Keine Ahnung. Frau Hedel sagte unlängst, drei wären in einem Heim, seit die Mutter den Unfall hatte. «

In der nächsten Minute denkt Ellen, man muss einfach über eine Sache reden, um sie endlich zu begreifen: Vielleicht ist der Kleine einer von denen aus dem Heim. Vielleicht kommen die Kinder ab und zu nach Hause? Aber würde die Mutter in diesem Fall so mit dem Kleinsten umgehen? Wenn sie ihn nicht liebt, muss sie ihn doch nicht nach Hause holen. Dieser David ist bestimmt das Nesthäkchen. So klein und zierlich wie er ist.

Als sie den Rechner schließt, weil das, was sie sieht und liest alles andere als sozial ist und eigentlich nur nervt, erzählt sie Oliver von dem Kind auf der Schwelle vor Brocks Tür. Er ist noch mit etwas befasst, was sie nicht erkennt, dennoch reagiert er – wohl mehr aus Anstand als aus ehrlicher Überzeugung: Halte dich da raus. Was diese Familie treibt, geht uns nichts an.

Seit einiger Zeit fühlt sich Oliver vom kinderreichen Mieter unter ihnen gestört. Allzu heftig geht es zuweilen in der Wohnung zu. Sie sagt dann mitunter, über Kinderlärm habe man sich nicht zu beschweren, dabei ist es längst nicht nur das. Die Alten brüllen lauter als die Kinder. Nur auf der Treppe oder im Aufzug sind die beiden stumm wie Fische. Zumindest die Frau ist nach Ellens Geschmack viel zu zurückhaltend, verängstigt gar, lässt sich auf kein Gespräch ein. Als ihre eigenen Kinder noch klein waren, ist sie, Ellen, mit beinahe allen Menschen ins Gespräch gekommen. Irgendein Wort ließ jeder fallen und es war ein Leichtes, in den Kanon einzustimmen. Frau Brock scheint aus anderem Holze zu sein. Als sie in dieses Mietshaus zogen, wusste Ellen, sie kannte diese Frau vom Sehen. In der kleinen Schlecker-Filiale hatte sie zeitweilig Waren in die Regale sortiert. Womöglich ist die Frau wegen der Schlecker-Pleite total verunsichert. Bei ihren vielen Kindern wird sie wohl einer Umschulung nicht zustimmen, vielleicht den Anforderungen auch gar nicht gewachsen sein. Wer weiß das schon. Vielleicht hat Oliver Recht – das geht die Nachbarn nichts an. Aber der Kleine tut ihr irgendwie leid … Einen Moment lang schließt sie die Augen und durchlebt den Moment im Treppenhaus noch einmal. Manchmal müssen Eltern den Kindern Grenzen setzen, das meint auch Oliver. Er war es schließlich, der mit den eigenen Kindern rigoros konsequent bleiben konnte. Sie hingegen hat sich an Pestalozzi orientiert: Erziehung ist Beispiel und Liebe, sonst nichts.

In den ganzen Jahren hatte sie sich darauf verlassen, dass Konsequenz nicht schaden kann, aber wenn sie allein war mit den Kindern, durchlebte sie das Glücksgefühl zwischen ihrer Großzügigkeit und der kindlichen Anhänglichkeit. Wie Oliver darüber denkt, weiß sie nicht. Großzügigkeit gilt für ihn eher als Schwäche. Wohl wegen seiner Konsequenz zollten die Kinder ihrem Vater zwar den nötigen Respekt, aber innig waren sie nur mit ihr. Freilich tobten sie gerne mit Oliver herum und unternahmen Dinge, für die eine berufstätige Mutter keine Zeit aufbringen kann. Doch wohl nur sie spürte die kindliche Enttäuschung, wenn er die beiden abrupt und für deren Geschmack grundlos wieder zur Räson brachte.

Zum ersten Mal stellt sie sich vor, wie es wäre, noch einmal ein so kleines Menschlein um sich herum zu haben. Sie würde vieles anders machen, jetzt, wo sie den nötigen Abstand zu allen Zweifeln hat.

Das Mietshaus, in dem sie wohnen, wurde vor drei Jahren restauriert und sie zogen gern hier ein. Die Drei-Zimmer-Wohnung bietet alles, was sie zum Leben brauchen. Bester Standard, beste Lage und ebensolche Aussicht. Nicht zu unterschätzen die kurzen Wege für allerlei Besorgungen und auch für die Freizeit. Theater, Kino, Ämter und diverse Konsumtempel – all das in der Nähe zu wissen ist von Vorteil, weil ihr der Beruf nicht viel Zeit lässt. Ein bisschen zu groß ist der Block für Ellens Geschmack. Sie hätte es anheimelnder gefunden, irgendwo zu wohnen, wo jeder jeden kennt, so, wie sie es von zu Hause gewöhnt war. Aber Oliver ist so zu wohnen gewöhnt, wie es hier ist, und sie hat der sachlichen Vorteile wegen nachgegeben.

Am Samstag muss Ellen das Treppenhaus putzen, noch immer. Oliver hat sich zwar bei der Wohnungsverwaltung darüber beschwert, dass in anderen Häusern eine Reinigungsfirma diese Arbeiten erledigt. Ihm ginge es nicht um die Arbeit, sondern um die Ordnung, weil gewisse Mieter eben davon nichts hielten. Die zuständige Mitarbeiterin hatte ihn aufgeklärt. Dass in ihrem Haus noch die Mieter selbst reinigen müssten, läge an den alten Mietverträgen. Nur die neuen billigten solche Art Entscheidungen einzig dem Vermieter zu, die alten Verträge wiesen dieses Recht nicht aus. In ihrem Hause wohnten aber noch viele Mieter mit alten Verträgen und die müssten der Kostenumlage für Reinigungsarbeiten nicht zwingend zustimmen. Als er nicht locker ließ, hatte man Oliver aufgetragen, dann doch bitte selbst das Einverständnis der Mieter einzuholen. Vollständig. Wenigstens rückte man damit raus, was finanziell auf die Mieter zukäme. Die anfallenden Kosten lägen so zwischen einem und einem Euro fünfzig pro Zimmer der Wohnung. Das ist wahrlich nicht viel, wenn man bedenkt, was zentral geregelt wird, kann nicht verwahrlosen. Ein Räuspern holt sie zurück in die Welt zwischen Wischeimer und Terrazzo. Oben auf dem Treppenabsatz türmt sich die Nachbarin Frau Hedel majestätisch auf und Ellen fragt sich still, ob sie der Eindruck vielleicht täuscht. Es sieht zumindest so aus, als breite die Frau ihre Arme aus wie Jesus Christus während er Bergpredigt. Dafür aber lächelte sie zu unschlüssig.

»Guten Morgen«, sagt Ellen einigermaßen freundlich, trotz der Anstrengung, die das Bücken in ihrem Alter schon mit sich bringt. Frau Hedel lächelt zurück, im Ton aber klingt ihre Frage nicht freundlich. »Was wird denn nun eigentlich. Ich denke, Ihr Mann wollte sich darum kümmern?«

»Das hat er. Aber es stimmen nicht alle Mieter zu. « Ellen will nicht deutlicher werden, Frau Hedel macht aus ihrem Herzen nur selten eine Mördergrube. Und prompt hat sie ihr Stichwort: »Das können doch nur diese …«, sie schiebt ihren Kopf in Richtung der Wohnung unten links, wo Familie Brock in einer Fünf-Zimmer-Sozialwohnung wohnt. Ihr Mund hatte schon das große A geformt, dann aber doch davon abgesehen, das schlimme Wort Assi außerhalb ihrer eigenen vier Wände laut werden zu lassen. Es gab schon einmal einen Knatsch und Frau Hedel musste sich geschlagen geben. Wenn sie seither etwas vermeiden will, dann Krach im diesem Haus. »Ich kann das schon verstehen, Frau Hedel. «

Ellen richtet sich auf, unterstützt ihren Rücken mit beiden Händen, die sie fest gegen die Lenden presst. »Es sind immerhin zwischen fünf und sieben Euro jeden Monat. Dafür kann man schon ordentlich was einkaufen oder Schulmaterial für die Kinder. Das muss man den Menschen zugestehen. «

»Schulmaterialien? Liebe Frau Herold …«

Die Hedel kommt vorsichtig über die noch feuchten Stufen näher zu Ellen herunter. So wie sie den Handlauf loslässt, fährt ihr Finger in eindeutiger Geste an die Gurgel: »Darum wird es wohl gehen! Oder um eine Schachtel Zigaretten mehr oder weniger. Mir muss man nichts erzählen. Erst gestern wieder …«

Unten geht die Tür auf und Frau Brock tritt über die Schwelle. Ihre ausgeblichene Kittelschürze verdeckt die blassen, dicklichen Knie der Frau nicht. Aus unerklärlichem Grund besinnt sie sich auf etwas und schließt die Tür wieder von innen. Nach Sekunden betretenen Schweigens nutzt Ellen die Gelegenheit: »Jetzt, wo die Schlecker-Pleite der Familie zusätzliche Probleme bringt, habe ich durchaus Verständnis für die Ablehnung. «

Frau Hedel kommt Ellen so nah, dass sie den schlechten Atem der Frau und den Dunst ihrer Kleidung nach Fleischbrühe ertragen muss.

»Die hat doch längst nicht mehr dort gearbeitet. Was meinen Sie denn, warum die ihre Kinder aus dem Heim zurückgeholt haben. Den Falk, die Susi und den David. Das Kindergeld für drei Gören zusätzlich ist ein ziemlicher Batzen. «

Ellen hört auch diese beiden Kinder-Namen zum ersten Mal. Sie interessiert sich nicht für Kindergeld und dergleichen. Ihre Gedanken kreisen: Dann war der Kleine, der auf der Schwelle gesessen hat, bis jetzt im Heim? Kein Wunder, dass ich den nicht kenne.

»Warum waren die Kinder im Heim? «, fragt sie wie beiläufig.

»Na weil die Birthe, die Mutter eben, sich aus dem Fenster gestürzt hatte, damals vor vier Jahren in etwa. Das hat sie nun davon. Wird wohl nichts mehr mit ihrer Hüfte. Wird wohl ewig humpeln. «

Ellen hatte sich auf einiges gefasst gemacht, aber für die Hedel ist es ein Leichtes, sie Tag für Tag mit ihren Neuigkeiten zu verblüffen.

»Vor vier Jahren? «

»Oder fünf.« Frau Hedel presst die Lippen aufeinander und schnauft stoßweise aus der Nase. »Der David war kaum ein halbes Jahr und völlig verwahrlost soll er gewesen sein …«

»Dann müsste David ja schon mindestens viereinhalb Jahre alt sein? «

»Das bestimmt«, sagt die Frau und will zu einer weiteren Tirade ansetzen. Nicht, dass es Ellen nicht interessieren würde, aber jetzt will sie sich keine weitere Bemerkung zuschulden kommen lassen. Außerdem bäckt in ihrem Herd ein Kuchen und die Wäsche in der Maschine müsste längst aufgehängt werden. Es wird noch alles zerknittern in der Trommel. Rasch bückt sie sich, wischt hurtig über den letzten Absatz und lässt keinen Zweifel aufkommen, dass sie schon viel zu viel Zeit unnütz vertan hat. Als die Hedel die Fassung wiedererlangt, wischt sie ihren Ärger mit den Handrücken an der Bluse ab und steigt über die feuchten Stufen ihrer gemeinsamen Wohnetage entgegen.

Genervt, dass ihr das Kind nach Frau Hedels Gerede schon wieder im Kopf herum geistert, nimmt Ellen sich nach getaner Arbeit ein Buch zur Hand und lenkt ihre Gedanken weg von diesem Haus, weg von der Familie mit den unbekannten Sorgen, weg von dem Kind, das viel älter ist als es aussieht. Auch weg vom Mitleid für die Mutter, die sich nicht ohne Grund aus dem Fenster gestürzt haben wird.

Zum Glück hat sie selbst einen guten Mann – die wohl beste Partie überhaupt, die sie hätte machen können. Sie fühlt sich respektiert und kann sich nicht vorstellen, mit einem anderen Menschen so als Mann und Frau zusammenleben zu müssen.

Mit all der Leidenschaft, die sie aufbringen kann, mit all der Dankbarkeit für ihr gutes Leben, deckt sie zwei Stunden später auf dem Balkon den Kaffeetisch und stellt den noch warmen Kuchen dazu. Oliver ist nicht anspruchsvoll, aber ein Wochenende ohne selbstgebackenen Kuchen ist kein Wochenende.

Verflucht

»Kuchen will der Hundsfott! «, schreit Birthe Brock und schlägt mit der flachen Hand derb auf die kleinen Finger, die nach dem Tablett gieren, das auf der Kühltruhe steht. »Wer sein Mittag nicht isst, kriegt auch keinen Kuchen. «

Genaue Töne formen die Lippen des Kindes nicht, aber es beißt und kratzt und tritt nach der Mutter. Das ist zu viel für Birthe. Ihre ganze Verzweiflung des Tages schlägt um in jene Kraft, die sie bei ihren Schmerzen in Bein und Hüfte oft vergisst. Wie von Sinnen schlägt sie zu. Zuerst erwischt sie den Rücken, dann die Oberarme und schließlich treibt ihre Wut die an Kraft schwellenden Schläge gegen den Kopf des Kindes, das nicht aufhören will zu schreien und um sich zu schlagen. Sie packt das Balg, bändigt die Schreie mit harter Hand und schleift das Kind ins Zimmer, stößt es hinein und verschließt die Tür. Zu allem steht man alleine da …! Ihre Lippen formen diese Worte nicht, ihr Kopf schiebt sie hin und her, den ganzen Tag schon, an dem sie Leute spazieren gehen sah, fein gekleidet, oder die Nachbarsleute im Auto auf Tour fahren hörte. Wann gab es das für sie das letzte Mal? Nicht einmal zur Glucke konnte sie heute mit …

Derweil ringt das siebente Kind der Birthe Brock hinter der Tür nach Luft. Sein Kopf ist nicht mehr blass, er ist rot und die Lippen bläulich. Nach einer Minute beginnt es zu schreien, mit Händen und Füßen auf den Boden zu schlagen, die Kissen und Decken aus seinem Bett zu reißen und im Zimmer zu verteilen. Und dann ist es wieder so weit. Der warme Strahl rinnt an seinem Schenkel herunter. Einen Moment genießt es das Gefühl. Die Pfütze auf dem Boden wird größer und größer, und es weiß, was es für die Frau hinter der Tür bedeutet, zu der es Mutti sagen soll. Sie wird ihn packen und mit der Nase hinein stupsen. Das kann David verhindern, er ist ja nicht dumm. Er legt das Deckbett über die Pfütze und sich selbst darauf. Eine Weile noch zeigt seine Stimme, dass er wieder lebendig ist, aber bald findet er Gefallen an einem Stock, an dem sein Bruder einen Gummi befestigt hat. Noch beherrscht er es nicht, eine Murmel oder Erbse mit dem Gummi abzuschnippen, aber er hat Geduld. Wenn bloß der Bauch nicht so rumoren würde.

 

Birthe Brock horcht an der Tür. Alles ruhig. Es wäre ja noch schöner! Macht denn hier jeder was er will. Sie hat das Leben mal wieder so richtig dicke. Schon einmal hatte sie Schluss machen wollen. Einfach Schluss! Ob sie Gregor strafen wollte oder ihre Söhne, die nie wirklich mit anpacken, das war ihr damals selbst nicht klar. Aber eine Strafe wäre nur gerecht gewesen. Nun aber hat sie den Schaden ihres Fenstersprunges ganz allein und sie krankt noch immer daran. Ihr Hüftknochen war gebrochen. Und nun hinkt sie, weil sie nicht einmal zu einer Reha gehen konnte. Ein bisschen ambulant geübt, aber nicht einmal das hat sie durchgestanden. Freilich war Gregor erschrocken und sogar für kurze Zeit zugänglicher geworden, belohnte sie auch hier und da mit dem, was er Liebe nennt. Die Kinder kamen sofort in ein Kinderheim. David hatte ihr vom ersten Tag an Scherereien gemacht, wollte schon als Baby nicht ordentlich essen. Wenn es nach ihr gegangen wäre, wären die Kinder noch immer dort. Vielleicht hätte sie ja wieder eine kleine Arbeit gefunden. Besser als diese Ohnmacht, von all dem abhängig zu sein, was sie bei den Ämtern bekommt. Freilich, Gregor macht es sich einfach. Wenn kein Geld im Hause ist, muss sie zum Amt, irgendeine Zuwendung ergattern. Sie leben vom Kindergeld und von diversen Sozialzuwendungen. Und wenn das alles nicht reicht, schickt Gregor sie wieder los wegen irgendwelcher Berechtigungsscheine. Er macht sich um nichts Sorgen. Jeden Tag sitzt er nach der Arbeit in der Kneipe, und als sie sich einmal beschwerte, bot er ihr an, einfach mitzukommen und ihren Frust hier zu Hause zu lassen. Dass das alles noch mehr ins Kontor schlägt, will er nicht begreifen. Und dann – war sie wieder schwanger mit Chrissi und ein Jahr später mit Moni - als ob sie noch dieselbe wäre wie vor dem Sturz. Schlimmer noch, als ob sie nicht schon genug Gören um sich herum und auch durchzufüttern hätten.

Es ist kurz nach sechs. Die Großen sind unterwegs und Gregor muss sie noch nicht befürchten. Ihre Hand greift hinter den Vorhang unter der Spüle. Nicht sofort, aber dann fischt sie die Flasche hervor. Das muss jetzt sein. Gregor weiß nichts davon. Es ist ihre eiserne Reserve für Momente wie diese, in denen sie nicht mehr ein noch aus weiß mit dem störrischen Jungen, oder wegen der Sorge ums liebe Geld, aber manchmal auch wegen ihrer großen Söhne. Nicht etwa, weil sie bei Nachbarn wie Lehrern nicht hoch im Kurs stehen. Nein. Ihre Herren Söhne beginnen zu motzen, weil sie nicht verstehen, was gerade angesagt ist. Jetzt ist Härte angesagt, gerade gegen David, das Horrorkind. Sie müsste noch aufräumen, den Fußboden wischen, die Wäsche türmt sich … Das alles kann warten. Sie nimmt den ersten Schluck und denkt sofort: Du trinkst auch wegen Gregor!

Sie hat sich das Leben mit ihrem zweiten Mann besser vorgestellt. Damals. Immerhin war sie froh, wieder einen gefunden zu haben. Sie hatte schon drei Kinder. Die Zwillinge Sven und Nicki, aber auch Holger, der einzige, der schon außer Haus ist und den es auch nicht nach Hause zieht.

Nach dem vierten Glas wird es leichter um ihr Gemüt. Das Kind im Zimmer nebenan ist vergessen, die anderen spielen hinterm Haus und die Großen kommen – wenn überhaupt – zur Abendbrotzeit. Wenigstens das haben sie beibehalten: Gemeinsam zu essen. Alles andere würde auch nicht klappen. Sie bringt auf den Tisch, was gegessen werden kann, schön eingeteilt für jeden. Sie muss die Übersicht behalten. Da war es die einzige Konsequenz zu sagen: Wer nicht da saß, der nicht mit aß. Basta.

Der zottelige Kopf fällt auf den Küchentisch. Es ist so friedlich und still jetzt, das liebt sie so … Klar weiß sie, dass die Großen oder auch Gregor ihr manchmal in den Rücken fallen. Heimlich bringen sie dem, der sich nicht an die Regeln gehalten hat, etwas zu essen ans Bett. Meistens aber mischt sich Gregor nicht in ihre Erziehung ein. Er will keinen Stress und er meint auch, es muss einer die Zügel führen. Bequem ist das Leben für ihn allemal. Und von den Bequemen einer ist Gregor Brock schon immer gewesen.

Gegen sieben kommen die Großen und bringen die Kleinen vom Spielplatz mit nach oben. Es ist Zeit, sich zu erheben … Die Welt schwankt, aber sie ist noch Herr ihrer Lage.

Nach David fragt noch niemand. Gerade, als der Tisch gedeckt ist, stolpert Vater Gregor herein. Er räuspert sich, setzt an, etwas zu erklären, um mit einer wegwerfenden Handbewegung sein Vorhaben wieder zu lassen. Birthe dreht sich um. Obwohl er es schafft, seinen Zustand einigermaßen vor ihr zu verbergen, hat sie den Dunst der Glucke sofort in der Nase. Kalter Rauch und Fuselgestank. Auch sie ist bemüht, sich nichts anmerken zu lassen. Eigentlich hat sie selbst genug. Und dann fällt ihr ein, sie wollte noch für alle eine Tütensuppe kochen. Nudeln mit Hühnchenfleisch. Gab es en gros bei der städtischen Tafel. Macht nichts. Sie hebt die Tüten auf für die kälter werdenden Abende. Wenigstens stellt sie noch den Schmalztopf dazu. Die rasche Drehung aus der kranken Hüfte lässt sie stolpern. Sie schlägt vor dem Küchentisch auf den Boden und flucht. Langsam, ganz langsam erhebt sich erst der Kopf, dann der Brustkorb. Schwieriger werden die Beine, für deren richtige Position sie einige Versuche braucht.

»Was ist los? «, flucht Gregor. Als ob er das nicht wüsste. Hat selber Probleme, sich senkrecht zu halten, kommt sowieso bloß heim, weil er Hunger hat.

»Kannst mal eins und eins zusammenzählen«, mault Birthe und rappelt sich endgültig auf.

»Der war schon immer schlecht in Mathe«, kräht Sven dazwischen, »und er lebt noch immer. «

Sven Brückmann hat auch seine Probleme, um die sich keiner kümmert. Nur Lehrer Pittkuhn redet ihm dauernd ins Gewissen, er würde sich das Leben verbauen. Na und? Dann wird er eben Maurer.

»Euer Vater lebt besser als ich, wie man sieht. Ich arbeite sieben Tage die Woche, er viereinhalb. Freitag ab eins macht jeder seins …« Ihr Lallen ist weder Sven noch seinem Bruder Niklas entgangen. Sie sitzen bei Tisch und ordnen die Naturalien ein bisschen, weil das der Mutter heute nicht gelang. Das ist nichts Besonderes. An Dingen, die ihnen nützen, beteiligen sie sich gern. Daran, dass die Kleinen ihre von Schmutz verkrusteten Hände zu waschen hätten, denkt heute niemand. »Wo ist David? «, fragt Sven, der den Kleinen nicht oft neben sich ertragen muss. Etwas ist immer mit diesem Terrorkind. Je seltener er dabei ist, desto mehr Platz am Tisch hat Sven und nur das interessiert ihn jetzt.

»Im Straflager«, mutmaßt Niklas und er liegt mal wieder gar nicht so falsch. Auf einen Wink vom Vater geht er zum Zimmer der drei Kleinen. Es ist verschlossen. Der Schlüssel steckt – das weiß er zumindest - in Mutters Schürzentasche.

Niklas Brückmann mag seinen kleinen Halbbruder inzwischen, obwohl sich David noch immer nicht an seine richtige Familie gewöhnt hat. Das ist auch kein Wunder. Er war noch viel zu klein, als er weg musste. Und dann, als er wieder zurückgeholt wurde, kannte er niemanden mehr. Alles war nur bedrohlich für ihn. Noch immer wehrt er sich gegen alles und jeden mit der ganzen Kraft seiner kleinen Gestalt.

Mutter sagt zwar, er war schon als Säugling so, und sie wisse nicht, warum er so anders sei als die anderen. Aber Niklas findet das Bürschchen irgendwie witzig. Mit seinen dünnen Beinen und den knochigen Armen aber einem hübsche Kindergesicht ist er die perfekte Marionette. Vater meint zwar immer Schmidtchen Schleicher und er kichert dabei, aber Niklas weiß nicht was das zu bedeuten hat.

David liegt auf der Decke vor dem Bett. Er hat sich aller Kleidung entledigt und es riecht nach Pisse im Zimmer, wie Niklas stöhnend bemerkt.

»Komm, David, es gibt Abendbrot.« Niklas greift nach Hose und Pulli, die verstreut im Zimmer herumliegen. Das Malheur entgeht ihm nicht. In die Küche zurück ruft er: »Mensch Mama, warum lässt du ihn nicht wenigstens aufs Klo gehen?«

Es dauert, ehe Birthe Brock begreift, was der Junge sagt.

»Hat das Miststück wieder eingepinkelt?«

»Na ja …«

»Dann bleibt er, wo er ist. Ich will hier am Tisch keinen Gestank. «

David hört die Worte der Frau, die gar nicht seine Mutter sein kann. Mütter lieben ihre Kinder, das hat Tante Ursel gesagt, als diese Menschen vor ihm standen, mit versteinerten Gesichtern, mit unruhigen Händen und fahrigen Blicken, und die ihn wegholten von Tante Ursel.

Bockig setzt er sich in sein Bett, lehnt den Rücken an das Holz am Kopfende und schlägt die dünnen Arme um seine Knie.

Er hat Hunger, aber jetzt wird er nicht betteln. Er wird warten, bis alle schlafen, dann schleicht er sich zum Kühlschrank.

Die Wurst – gleich aus dem Papier gegessen – ist rasch aufgebraucht, vom Brot liegt noch ein letztes Ende auf dem Brett. Eines der Kleinen verlangt noch eine Scheibe, aber die Mutter sagt: »Schluss jetzt. Ihr fresst mir noch die Haare vom Koppe.« Die Kleine beginnt zu heulen. »Das Geld ist alle …« . Birthes Blicke haben Mühe, Gregors Gesicht zu treffen. »Und morgen habt ihr auch wieder Hunger. Schluss! Aus! Sense!«