Solange sie schlief

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Solange sie schlief
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Matthias Rathmer
Solange sie schlief

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Danken möchte ich vor allem Dir, meine liebe Stephanie, wieder einmal, für Deine grenzenlose Geduld mit mir und der deutschen Rechtschreibung, für all die Zeit und Mühen, die Du mir und diesem Roman geschenkt hast und für Dein Verständnis, zwischen Wahrheit und Fiktion unterscheiden zu können.

Solange sie schlief

Matthias Rathmer

Copyright © 2014 Matthias Rathmer

Coverfoto by nnb, Gewährung aller Rechte

Published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN: 978-3-8442-7159-1

Nicht, weil etwas schwierig ist,

wagen wir es nicht.

Weil wir es nicht wagen,

gerät es schwierig.

1
Ihr habt’s gut! Ihr seid blöd!

Solange sie schlief, war ich ehrlich zu ihr, dachte ich und verfluchte Reue wie Sehnsucht gleichermaßen. Sie zu betrachten, wenn ihr Geist ruhte, wenn ihre fein geschwungenen Lippen aufeinander lagen und mir ihr kompromissloser Sinn für die eigene Würde entgegenstrahlte, war ein Geschenk des Himmels und zugleich die Schwelle, die mich vom Unglück trennte. Ich korrigierte meine Einsicht, denn nur, solange sie schlief, belegte ich sie stets mit meinen Wahrheiten. So wie ich auch im Stummfilm mehr sah, war derart auf sie zu blicken immer schon die Ursache für die Klarheit meiner Gedanken. Die meisten Männer schätzten es früher oder später, wenn die Synapsen ihrer Frauen ungereizt blieben und die Partnerinnen ihren Mund hielten, weil ihr ständiges Gebrabbel oftmals ein gesundes Maß an Plauderhaftigkeit überschritt. In Wirklichkeit hatten viele der so Beschwiegenen gemeinhin im Zustand ihrer Wachheit lediglich deswegen wenig zu sagen, weil sie die Trennung von ihren einfältigen Begleitern längst schon beschieden hatten. Langsam und quälend hatte ihre Stille die Liebe gefressen.

Eves Antlitz besaß für mich etwas Göttliches und hatte nicht eine Regung an Fesselung verloren. Doch obwohl ich geübt darin war das zu beschreiben, was sich mir darbot, hatte ich ausgerechnet bei der Frau, die ich liebte, stets das Gefühl, dass mein Urteil keine Genauigkeit besaß. Immerhin. Sie saß noch neben mir, wem auch immer der Dank dafür gebührte. Ich ertappte mich bei dem Wunsch, sie möge immerzu schlafen, was letztlich ihren Tod bedeutete, wie ich mich unverzüglich korrigierte, und den zu wollen entsetzlich und damit ausgeschlossen war. Scham belegte sogleich mein Gemüt ob dieses wirren Einfalls. „Entschuldigung! War nicht so gemeint,” murmelte ich ihr zu und war abermals froh, dass ihre Sinne schlummerten.

„Was hast du gesagt?“ fragte sie mich im Halbschlaf, wischte sich durchs Gesicht und nahm unseren neuerlichen Stillstand wahr, dessen sie leise aufstöhnte und damit unmissverständlich ihren Unmut demonstrierte.

„Nichts! Schon gut! Schlaf’ ruhig weiter! Sieht toll aus.“

„Was sieht toll aus?“ wollte sie mit leicht knatschigem Unterton wissen und kämpfte um eine neue Position für ihre Behaglichkeit. Ihr schlanker Körper erlaubte die komischsten Verwindungen.

„Du! Du siehst wunderschön aus, wenn du schläfst.“

„Wenn ich schlafe?“ Sie schloss ihre Augen. Eve wusste genau, wie es um sie stand.

„Du siehst immer wunderschön aus. Aber wenn du schläfst, siehst du eben besonders wunderschön aus.“

„Elender Schmeichler,” gab sie gedämpft zurück. „Das sagst du doch nur, weil ich dann leichter zu ertragen bin.“

Ihre kleine Heiterkeit war noch lieblicher als sonst, wie ich feststellte, vielleicht, weil ich sie in den letzten Wochen so selten gesehen hatte. Abgesehen davon hatte sie Recht.

Seit Stunden waren wir unterwegs. Dutzende von Frauen waren in ähnlicher Pose an mir vorbeigerollt. Nahezu alle sahen gleich verhärmt aus. Deswegen hatte ich Eve genau im Auge behalten um festzustellen, ob auch sie diese Bitterkeit in ihrem Gesicht trug. Tat sie nicht, selbst wenn sie nicht schlief.

Tausende Frauen waren vor mir, noch mehr von ihnen vermutlich hinter mir. Der Verdacht lag nahe, sie alle ähnlich unglücklich vorzufinden. Schmal der Mund, regungslos jede Falte, starr der Ausdruck. Mit jedem Tag waren sie sich selbst fremder geworden. Gezüchtigt die Sehnsüchte, der Freiheit beraubt. Die Anstrengungen des Lebens bedrückten ihr Gemüt. Sie alle waren ein Abbild eines allgemeinen Zustands, es im Leben zu etwas bringen zu wollen, doch bislang so wenig davon geschafft zu haben. Das straffe Korsett ihres Alltagstrotts zwischen Gehalt und Gewohnheit nahm ihnen jede Fantasie des Ausbruchs, erstickte jede Energie, die mit einem tiefen Atemzug nach Erlösung aus ihrer Trägheit schrie. Man musste kein Therapeut sein um zu erkennen, dass sie die hohe Wahrscheinlichkeit fürchteten, zukünftig ein noch unerfüllteres Dasein ertragen zu müssen, weil jeder Wille nach Veränderungen betäubt war.

Die Monotonie unserer zwanghaften Schleichfahrt spiegelte gewiss auch den Verlust ihrer Lust wider, sinnierte ich über den Grund, warum es mir so vorkam, dass letztlich zu viele ihre Sinnlichkeit verloren hatten. Der Vulkan hemmungsloser Leidenschaften ruhte tief versunken in ihrem Schoß. Ihn zu erwecken, dann und wann ein Beben zu entzünden um die Liebe zu entflammen, war irgendwo im Nirgendwo verloren gegangen. Ich stellte mir vor, wie unachtsam alle diese Frauen mit der Zeit geworden waren, weil die Feuersteine in den Hosentaschen ihrer Männer einer Maschine Buntes zum Opfer gefallen waren, und die Wagenlenker, gleichgültig jeder Verlustmeldung geworden, keine Ahnung hatten, wie sie auf andere Art Funken schlagen konnten. Die Gesichter dieser Frauen kamen mir wie Schemen vor. Blass und ohne Konturen fehlten ihnen Augenleuchten und Hoffnungsschimmer. Ihre Blicke waren sinnentleert. Zusammen mit ihm fühlten sich zu zweit einsam. Die meisten sprachen nicht einmal zu ihren Wegbegleitern, deren eigene Knechtschaft ihnen selbst deswegen verborgen blieb, weil sie Männer und einer gesunden Selbstreflexion noch unfähiger waren.

Am Kilometerstein einhundertachtzehn schaute plötzlich eine junge Frau zu mir herüber. Sie schenkte mir ein zartes Lächeln. Mir schien es, als wollte sie sagen: „Fahr’ du mich durchs Leben! Rette mich!“ Der Gefährte musste ihr Interesse bemerkt haben, denn fortan vermied er den Wagen auf Höhe zu halten. Mit seiner jämmerlichen Eifersucht war er zu spät. Ihr indes wünschte ich den Mut augenblicklich auszusteigen.

Ich riss mich selbst aus der Schieflage meiner Gedanken. Ich war mit mir selbst unversöhnt und hatte mich dabei ertappt, mein Problem zu einem der anderen zu machen. Menschen machten Dinge nicht besser oder schlechter, als ich sie tat. Sie taten sie anders. Ich blickte auf Eve. Sie trug ein weißes Top mit dünnen Trägern. Es war ihr Lieblingsshirt. Sie besaß es gleich mehrfach, in unterschiedlichen Färbungen, doch am liebsten trug sie es bauchnabelfrei in der Farbe der Unschuld. Sie lehnte ihren Kopf ans Seitenfenster und tat so, als schliefe sie. Schwermut beschlich mich. Ich liebte diese Frau, nur war das Glück in der Liebe immer woanders und sicher nicht mit mir. Ich spielte zu lange schon in meinen Taschen mit einer ganzen Hand voll Feuersteine. Noch schrecklicher nämlich war Funken schlagen zu wollen, aber keinen Vulkan vorzufinden. Ihr Kopf lag typischerweise nicht an meiner Schulter. Ihr Ausschnitt gab einen Blick auf ihre kleinen Brüste frei. Ein Schauer der Erregung durchfuhr meine Adern.

Ich sah sie auf mir sitzen, wie sie mit geschlossenen Augen auf mir herumwippte, und ihre Haare zusätzlich, wie zum doppelten Schutz, vorhangähnlich in ihrem Gesicht hingen. Sie krallte meine Unterarme. Sie zitterte. Sie schwitzte. Sie beugte sich vor, damit ich ihre Brüste küsste. Sie mochte diese Stellung. Sie genoss es. Doch eben nicht mehr. Danach ließ sie mich stets gewähren, fast so, als ginge sie der gemeinsame Flug ins Chaos des Eros nichts mehr an und ihre Rolle darin lag, die Unbeteiligte zu spielen. Eve konnte mich nicht beherrschen, und sie konnte sich mir nicht unterwerfen. Ihr diese Fehlbarkeit zuschreiben zu müssen, war eine schreckliche Qual und zugleich das Geheimnis, das ihre Schönheit verbarg.

Was bloß war es, das diese Frau, die ich so sehr liebte, an mir sexuell erregte? Seit wir uns das erste Mal gehabt hatten, beschäftigte mich dieser Gedanke unentwegt. Es verging kein Tag, an dem ich mir diese Frage nicht stellte. Eve hatte es geschafft, dass ich klein und schwach geworden war. Ich war ständig besorgt. Immerzu rang ich mit der Entscheidung öfter mit ihr zusammen zu sein, als wir es waren, oder mich von ihr zu trennen. Die Angst wiederum Eve zu verlieren, machte mich bisweilen verrückt. Ich war von ihr besessen und betört zugleich.

Viele Male hörte ich sie sagen: „Es ist schön, dass es dich gibt.“ Aber nicht ein Mal konnte oder wollte sie gestehen. „Ich will dich. Ich begehre dich. Ich kann ohne ihn nicht mehr leben. Ich liebe dich! Ich bin dir verfallen.“ Deswegen trieb mich ständig die Furcht, sie könnte sich einem anderen zuwenden. Ich konnte mir ihrer nie sicher sein. Jetzt war es so weit. Es war besser mich trennen zu lassen. Zwei Jahre Besessenheit hatten einen Hampelmann aus mir gemacht.

In den letzten Wochen hatten sie ungewohnt häufig Migräneattacken heimgeholt. Sie nahm Pillen. Öfter, als ich es von ihr kannte, schlugen ihre Launen um. Die waren grundsätzlich schon für jedermann Gesetz, nur nicht für sie selbst. Bedrückte sie ihr unberechenbares Gemüt, schwieg sie wenigstens, meistens jedenfalls, weil sie wusste, wie sehr sie damit zur Last werden konnte. Als Kind hatte sie Asthma, keinen Vater und eine Mutter, die ihr zu früh die eigene Selbständigkeit zugemutet hatte, ohne selbst fest im Leben zu stehen. Heute hatte sie dieses Kopfweh und einen Mann, der gehörig darunter litt, was ihre Eltern falsch gemacht hatten. Darüber und über andere Prägungen ihrer Persönlichkeit durch ihre neurotische Mutter und ihren herrischen Vater zu reden, war stets eine heikle Angelegenheit.

 

Eve hatte sich seit geraumer Zeit aus Gründen zurückgezogen, über die ich nur mutmaßen konnte. Wegen ihrer Dünnhäutigkeit verzichtete ich auf nahezu jede Konfrontation und verkniff mir meinen Unmut, was oftmals noch anstrengender geriet, setzte ich mich doch dadurch in steter Regelmäßigkeit dem Vorwurf der Ignoranz aus. So faszinierend sie sein konnte, so sensibel war sie geworden. Neben meiner ständigen Verlustangst ärgerte mich noch mehr, wie wenig ich es vermocht hatte, diesen Menschen anzustecken und glücklich zu machen. Die vier Quadratmeter Innenraum meines alten Mercedes’ waren, so hatte ich gehofft, ein geeignetes Terrain, um ihr die eine oder andere Wahrheit zu entlocken. Doch Eve schlief. Ich hätte nicht denken sollen. Ich hätte nicht einmal lernen sollen, denken zu können.

Ich wusste noch genau, wo er geschrieben stand. Wie konnte ich diese bedeutenden Worte vergessen? Immer mal wieder war er mir in den letzten Wochen zu verschiedenen Anlässen in den Sinn gekommen. Er war mit einfachen Worten ausgedrückt und, war meine Erinnerung verlässlich, eher beiläufig gefallen, gewissermaßen als heilsame Weisheit vor die Füße von Jünglingen geworfen wie die berühmten Perlen vor die Säue. Doch dieser Ausdruck besaß für mich mehr an Bedeutung als viele Persönlichkeiten von Rang hätten äußern können. Statt über uns hatten wir eine ganze Weile zuvor über die Rolle des amerikanischen Präsidenten für das Weltgeschehen parliert. Wir waren so unbedeutend. Ich hatte die Zuversicht besessen bei der Frau, die ich liebte, mit diesem Ausdruck eine Diskussion auszulösen, obgleich ich wusste, dass Hoffnung das Seil war, auf dem die Narren tanzten.

Eve und ich hatten an diesem Sonntag meine Familie besucht. Ich wollte es so. Ich hatte darauf bestanden, ähnlich wie damals meine Eltern auf etwas beharrt hatten, was mir nicht gefiel. Eve hatte dieser Reise nur widerwillig zugestimmt. Meine Schwester war Chorleiterin und hatte mit einhundertfünfzehn Kindern zwischen Pups und Pubertät ein Musical auf die Bühne gebracht.

In „Meereszauber“ beklagten allerlei Kreaturen und Fabelwesen die Entführung einer Prinzessin, deren Gesang ihnen im trüben, vom Menschen verseuchten Ozean wenigstens ein bisschen Glück und Harmonie brachte. Die Aufführung war reizend. Am Mittag waren wir bei meinen Eltern zum Essen gewesen. Es war einer dieser ungeplanten und außergewöhnlichen Besuche, die aus und in alle Richtungen der Republik neben den Familienzusammenführungen an hohen Feiertagen unternommen wurden, wenn sechshundertfünfzig Kilometer Wegstrecke spontan waren.

Ich konnte Eves Protest ja durchaus verstehen, aber Mütter enttäuschte man nicht, hatte man am Tag zuvor sein Erscheinen zugesagt. Abgesehen davon war Eve eine Meisterin des stundenlangen Zorns, wenn ich eine Absprache mit ihr gleich welcher Art nicht einhielt.

Am Abend saßen wir im Wagen auf der Rückfahrt nach Hamburg, wie Hunderttausende auch, die sich schon im Korso zu Mama und im Stau zu Oma gequält hatten. Hochgezüchtete Motoren verpesteten den lauen Sommerabend. Im Inneren der vielfach auf Pump geschossenen Statussymbole war, schaute man den muffigen Mucken nach, tausendfach eine ähnliche vergiftete Atmosphäre wahrscheinlich. Gerne hätte ich, ein kleines bisschen nur, mit der jungen Frau vom Kilometerstein einhundertachtzehn weitergeflirtet, ohne sofort ihren entblößten Hintern vor mir zu haben.

Eve hatte sich aufgesetzt. Seit ein paar Minuten verfolgte sie aufmerksam den automobilen Wahnsinn um uns herum. Schließlich griff sie gelangweilt ein altes Schulheft von mir. Darin stand er geschrieben, in der krakeligen Handschrift eines Quintaners.

„Seite dreizehn,” bemerkte ich und versuchte, ihre Aufmerksamkeit mit unterstützendem Mienenspiel zu erhöhen.

Eve schlug die betreffende Seite auf. „Fünfzehnter Oktober, zehn Uhr und elf Minuten,” murmelte sie und las weiter. Sie stutzte und sah mich derart verständnislos an, als hatte sie soeben die unverschämten Enthüllungen eines Pennälers gelesen, der sich darüber wunderte, warum er sich mit links so schwerlich selbst befriedigen konnte. „Deswegen haben wir nach dem Essen fast eine Stunde auf dich gewartet?“ fragte sie erstaunt mit zusammengekniffenen Augen, nachdem sie meine blaue Tintenschrift entziffert und schon am Mittag aus ihrer Verstimmung keinen Hehl gemacht hatte, weil ich sie mit meiner Familie für die Dauer der Suche nach diesem Relikt hatte allein sitzen lassen.

„Der Satz! Ich meine den Satz!“

„Ja doch! Das dachte ich mir,” grummelte sie zurück. „Ich habe ihn gelesen. Was ist so bedeutsam daran?“

„Was so bedeutsam daran ist? Na, aber hör’ mal?“ Ich war enttäuscht. So war sie immer, wenn sie keine Lust hatte sich möglicherweise bereichern zu lassen, ärgerte ich mich und beäugte, wie schwer es ihr fiel, einen angemessenen Kommentar zu bedenken.

Eve spielte immer noch beleidigtes Mädchen. „Ah, that’s it, righty right, ja doch! It works,” denglischte sie schließlich.

„Mein alter Englischlehrer war ein großer Geist, musst du dazu wissen,” begann ich nicht unwesentliche Hintergründe zu erklären. „Er sprach alle romanischen Sprachen, unterrichtete Deutsch und so ganz nebenbei erklärte er uns, welcher Piepmatz während des Unterrichts am Fenster gerade vorbeigeflogen war, oder welches Blatt von welchem Baum nach unten trudelte und warum das Poesie war. Wie gesagt, er war ein großer Geist. Jedenfalls richtete er bisweilen mahnende Worte an uns Jungs, die wir auf einem Gymnasium, dessen Trägerschaft in den Händen von nicht immer ganz so sittsamen Ordensmännern lag, die Schulbank drückten.“

„Das hat er gesagt? Jungs! Ihr habt’s gut. Ihr seid blöd!“ Sie schaute noch skeptischer zu mir herüber.

„Auf den Punkt genau, oder? Jungs! Ihr habt’s gut. Ihr seid blöd!“ wiederholte ich tiefsinnig. „Da war ich dreizehn.“ Mein Blick forderte, solange wie es mir der Verkehr gestattete, eine Reaktion auf diese Gelehrtheit ein.

„Ja! Hab’ selten etwas Spannenderes gelesen,” erwiderte sie nüchtern und blätterte ohne jede weitere Bemerkung durch meine Aufzeichnungen.

Mir kam es so vor, als suchte sie nach kleinen Herzchen, in denen Buchstaben gekritzelt waren, die von der Kleinen aus der ersten Reihe stammten und erste Gefühlsausbrüche dokumentierten. Eve hatte mir einfach nicht zugehört, denn Wesen wie sie gab es damals in unserer Klasse noch nicht. Die Ordensmänner mochten zunächst keine Frauen unterrichten, mussten ein paar Jahre später aber wegen rückläufiger Schülerzahlen ihre heilige Vorliebe opfern, was sie nie verwunden hatten, für uns Jungs jedoch deswegen zum Segen geriet, weil sich einige aus der Bruderschaft die Mädels zur Brust und mehr genommen hatten, um die alle Schüler stets einen großen Bogen gemacht hatten. Eve hielt lediglich ein schnödes Vokabelheft in Händen, das aber immerhin der Grundstein war, mich in ihrer Muttersprache unterhalten zu können.

„Der Satz meint wohl, je mehr der Mensch fähig ist zu denken, je komplexer er ist, desto schwieriger hat er es.“ Etwas in ihr hatte sich doch noch geregt.

„Anders gesagt. Der Mensch ist einfach. Und es ist einfach zu einfach, wie er sich lebt. Ist er verstandesgemäß in der Lage sein Dasein zu reflektieren, fängt sein Elend erst richtig an, was so viel heißt wie – wer zu viel denkt, steht sich selbst im Weg.“ In mir stieg der Wunsch, dass ihr die Reflexion dieser Weisheit gelang.

„Wofür brauchst du es? Für eine Filmfigur in deinem Drehbuch?“ fragte sie nach einer Weile und schloss das Heft, nachdem sie sich ab und an leise darüber amüsiert hatte, wie simpel unser Englischunterricht gewesen war.

„Weiß noch nicht, möglicherweise,“ antwortete ich neuerlich ernüchtert, denn ich wusste, dass sie wusste, wie sehr diese verkopfte Lebensart auf sie zutraf.

Eve dachte die Liebe. Und sie lebte ihren großen Geist. Sie legte ihr Haupt wieder an der Fensterscheibe ab. Das tat sie immer, wenn wir Auto fuhren, ihr langweilig oder sie müde war, oder die Migräne sie besuchte. Wir hatten uns wieder einmal gestritten, so wie wir am letzten Wochenende uneins gewesen waren und uns in den Wochen zuvor mehrfach gegenseitig erzürnt hatten, ohne dass es jedes Mals wirklich wichtig gewesen wäre. Sie war angeblich zu erschöpft gewesen, um die Tour ins Münsterland zu unternehmen. Während ich mir vorgenommen hatte, mit ihr einigermaßen gehaltvolle Gespräche zu führen, weil wir ein paar Stunden lang dem anderen nicht entfliehen konnten, hatte Eve schon auf der Hinfahrt ihr schlaues Köpfchen zur Seite gelegt und geschlafen. Dabei. Meine Wahrheiten hätten sie tief verletzt. Mehr noch empört. Eve hingegen war sich, so meine Einschätzung, in wesentlichen Dingen ihrer Gefühlswelten noch unklarer geworden, als sie es grundsätzlich schon dauerhaft war. Also schwiegen wir. Es war zu diesem Zeitpunkt das Beste, was wir sagen konnten.

Eine halbe Stunde später, ich hatte uns drei Kilometer weitergebracht, war sie tatsächlich eingenickt. Ich hatte den zähen Fluss fortwährend mit ein paar anderen Gedanken an meine Schulzeit verbracht. Relikte wie Bücher und Zeugniskladde, die mir neben jenem Heft auf dem Dachboden in die Hände gefallen waren, ließen mich nicht mehr los.

Jedes Mal, wenn ich die Gebäude der Lehranstalten gewechselt hatte, dachte ich damals, musste es jetzt doch bestimmt endlich losgehen, musste ich doch endlich viele Menschen treffen, schlaue Menschen, die mir etwas beibrachten, über die Welt, wie sie funktionierte, über das Leben und was man dafür brauchte, Lehrer oder Gebildete eben oder einen Mentor sogar, wie ich ihn aus dem Kinderprogramm des Fernsehens kannte. Ich hatte wieder die Räume getauscht, das Abitur bestanden und studiert. Stets hatte ich gedacht, dass es jetzt doch endlich losgehen musste. Ich hatte als Journalist fürs Fernsehen gearbeitet und war ein paar Jahre im Ausland gewesen. Nie aber ging auch nur irgendetwas los. Mit meinen Fragen blieb ich immer allein zurück. Im Gegenteil.

Je älter ich wurde, desto mehr Fragen mit immer weniger Antworten türmten sich auf. Immerzu hatte ich gelernt, mich in einem System zu arrangieren, Bestandteil dieser Ordnungsrahmen zu sein, ohne dass jemand da gewesen wäre, zu dem ich hätte aufschauen können. Manchmal war ich ausgebrochen. Ich hatte Frösche mit einem Strohhalm aufgeblasen, Mofas frisiert, im Hallenbad uraufgeführt erigiert und erstmalig ein Mädchen ins Eiscafé eingeladen, nämlich zum Trotz die Freundin derjenigen, die sich mich ausgeguckt hatte, aus dem einfachen Grund, weil ich fasziniert davon gewesen war, dass die Brüste der Kameradin mit jedem Tag größer zu geraten schienen. Ich hatte für den Erzfeind Bundeswehr wochenlang Säcke voller Reis und Mehl geschleppt, um mit siebzehn bei einer Zweiundzwanzigjährigen zu glänzen, mit der ich ein verlängertes Wochenende in Paris verbrachte, weil ich sie davon überzeugen wollte, wie dämlich ihr verflossener Macker war. Ich hatte ein Urlaubssemester eingelegt und monatelang nur das gelesen, was ich auch verstand, Comics nämlich.

Ich las in vielen Büchern über Politik und Geschichte, mich interessierten das Theater und die Literatur. Ohne auch nur die geringste Ordnung in meinem Leben errichtet zu haben, konnte ich mit Recht sagen, dass ich um alle Dramen der Weltgeschichte wusste. Durch meine naive Berufung, denen Sprachrohr zu sein, die eine Menge zu sagen hatten, aber so selten zu Wort kamen, lernte ich, wie heuchlerisch Journalisten waren, vor allem die, die in den Schützengräben öffentlicher Anstalten lagen. Seitdem wusste ich um all die Manipulationen und glaubte keiner Nachrichtenmeldung mehr. Ich hätte wirklich Kinderarzt werden sollen.

Was ich konnte, was ich wusste und wer ich war – für alles im Leben musste ich mich unentwegt anstrengen, musste ich aus den Erfahrungen lernen, die man gemeinhin als Fehler bezeichnete. In der Liebe sowieso. Niemand war da gewesen, der es mir auch nur ein kleines bisschen einfacher gemacht hatte.

„Ich fühle mich so oft so hilflos,” hatte ich Eve gegenüber einmal eingestanden, als wir eine Woche lang alle Krisengebiete der Welt aus fünf verschiedenen Zeitungen und mehreren Wochenmagazinen gesammelt hatten und nicht weniger als zwei Dutzend Konflikte von Bedeutung vor uns lagen. „Die Welt ist ein Saustall. Und Politiker wie Wirtschaftsbosse sind die größten Schweine. Sie tragen keine Moral in sich. Sie sind korrupt und raffgierig,” erinnerte ich mich an mein Fazit.

 

„Vergiss’ die Banken nicht. Diese Heuchler haben die Welt an den Abgrund geführt. Und sie werden es wieder tun,“ hatte Eve mir zugestimmt und dann eine Frage formuliert, die ich nie mehr würde vergessen können. „Ich kenne das Gefühl von Ohnmacht sehr genau. Möchtest du vielleicht beten?“

„Beten?“ Viel lieber hätte ich sie hemmungslos geliebt.

Ich blickte zurück auf die Frau an meiner Seite. Wir waren seit mehr als zwei Jahren ein Paar und nur ein paar Kilometer vorangekommen. Aus einem anderen Grund wäre es vielleicht besser gewesen, ich wäre dumm geblieben. Bei allem Elend, das die Welt prägte, hatte ich in der Vergangenheit auch stets die Liebe verloren und damit einen Teil dessen, was das Leben überhaupt noch sinnvoll geraten ließ. Ich liebte Eve, doch wieder spürte ich den drohenden Verlust, der über uns schwebte wie ein böser Geist, entsendet aus dem Reich der Emotionen, der sich anschlich, Liebe aus dem Herzen riss und noch erbärmlicher stank als diese vergiftete Sommernacht.

Ich hatte Eve in den letzten Wochen bereits mehrfach betrogen. Noch vor ein paar Tagen lag eine dieser verlorenen Töchter aus meiner Stadt, die Beine gespreizt und mit den Fäusten auf die Tischplatte schlagend, rücklings auf meinem Küchentisch. Ich schämte mich dafür. Mich quälte mein schlechtes Gewissen und ich war im Grunde erleichtert, dass Eve nicht über uns reden wollte, als mir, wie von einem Programm gestartet, immer mehr Bilder dieser und anderer Penetrationen im Kopf kreisten, die mitunter ordinärer waren als die virtuellen Selbstbefriedigungsportale im Internet, mit deren Hilfe Tom bisweilen dem Wahnsinn zwischen beiden Geschlechtern zu entfliehen versuchte.

Schon mit der Rückkehr von seinem ersten Ausflug ins Jenseits dieser Mauer, die die Menschen vor Lug und Betrug beschützen sollte, so hätte ich Eve gerne und ausführlich meinen Seelenkummer offenbart, führte man fortan ein anderes Leben. In der herkömmlichen Welt hatte sich nichts verändert. Alles war so, wie man es kannte, doch danach lebte man mit ihm wie mit einem unsichtbaren Makel, der an einem haftete wie ein Schmierenpelz unter der Haut. Waschen half nicht, eher schon permanentes Verdrängen. Man trug ihn als Geheimnis nicht in sich wie einen kostbaren Schatz, denn das Gewissen hielt einen nicht davon ab, ihn zu begehen, wohl aber, ihn zu genießen. Um ihn zu vollziehen, musste man abgebrüht sein. Er kannte weder Warnung noch Rücksicht. Und nicht einmal, wenn man sich verschleudert hatte, konnte man sein Beschämen mitteilen. In den meisten Fällen folgte seiner Überwindung keine Berechnung. Ort und Zeit waren nicht bestimmbar. Es passierte einfach, wenngleich die Sinne in einem längst schon nach ihm gegiert hatten.

Man schlich entlang, an diesem Mauerwerk, schlenderte wieder davon und fragte sich, wie es dahinter wohl aussah. Beim nächsten Mal erklomm man die wenigen Vorsprünge und kletterte ein Stück hinauf, doch der Mut war noch nicht groß genug seine Skrupel zu bezwingen. Bereits hier aber zeichnete er sich ab, denn wer diese Mauer suchte, wollte auch über sie. Man suchte die Befreiung, die keine war, und man wusste darum. Der Alltag zwang einen die Sehnsucht nach diesen Ausflügen kontrollieren zu müssen, doch je länger man sein Leben im Diesseits lebte, desto magischer zog er einen an. Weggefährten offenbarten sich und sie berichteten einem von ihren Kletterkünsten auf den Sims, von ihrem Absprung und von ihrer Landung. Der Ausflug dauerte in der Regel nur ein paar Stunden und es war klug, sich den Weg für seine Rückkehr ebenso zu merken wie eine Erklärung für seine kurzzeitige Abwesenheit.

Es war zuallererst eine Frage der Veranlagung. Hatte der Teufel grundsätzlich eine Chance bei einem, war es so, als ob man etwas stahl, seine Mutter belog oder beim Verkauf seines Autos den Unfall verschwieg. So wie andere mit Gut und Böse rangen, führte man mit ihm einen langen, inneren Dialog. War die unaufhörliche Auseinandersetzung erst einmal in Gang gesetzt, stand am Ende sein unumstößlicher Vollzug.

Die Gründe sich für ihn zu entscheiden, waren dabei vielfältig, meistens aber ziemlich banal. Dann war er da, der Tag der Begehung. Man kletterte über die Mauer und sprang geradewegs in die Unordnung. Das Risiko, für seine Überwindung bestraft zu werden, war hoch. Also musste es sich lohnen. Man wusste genau, was man vorfand, schließlich hatte man seine Augen immer intensiver für nichts anderes geschärft. Für die Dauer seines Aufenthalts waren Frust und Sorgen gleichgültig. Der Drang nach Befriedigung nahm jeden Verstand. Hatte man ihn, genussvoll oder nicht, vollzogen, war zu schweigen erste Pflicht, schon aus reinem Selbstschutz. Man kletterte zurück in die alte Ordnung und tat, als war nichts geschehen. Mitunter kam es vor, dass einige so entsetzt über ihn waren, dass sie ihn enttarnten und damit ihr Leben, wie ich fand, unnötig verkomplizierten.

Ich stellte sie mir vor, diese Mauer von unabschätzbarer Länge. Überall auf der ganzen Welt kletterten sie an ihr hinauf, entweder im Diesseits oder auf der anderen Seite, um sich unerkannt zurück in das alte Leben zu schleichen. Längst schon war eine heimliche Massenwanderung unterwegs, millionenfach hin und her, tagtäglich und vor allem lautlos, weil darüber zu reden, sich zu brüsten gar, niemandem gut tat. Es nahm einem die Möglichkeit, ihn unbemerkt zu wiederholen. War man nämlich erst einmal über die Mauer geklettert, tat man es wieder. Immer wieder.

Wann ich ihn verrichtet hatte, den ersten Betrug an Eve, wusste ich nur allzu gut. Sie war um die dreißig und besaß ein Paar prächtige Brüste, zwischen denen ich gleich zu Beginn unserer wilden Körperlichkeiten abwechselnd meinen Kopf und mein Gemächt legen durfte. Eve war an diesem Wochenende zusammen mit ihrer besten Freundin nach Berlin gefahren, während ich in einer Bar eine Begegnung gemacht hatte, die mir im Laufe ihrer Dauer wie verfügt erschien, weil die Dame zum einen sehr genaue Vorstellungen vortrug, was sie wollte und zum anderen ausgiebig zu erkunden bereit gewesen war, was sie noch nicht wusste.

Wieder fiel mein Blick auf die Frau, die ich liebte. Schuldgefühle plagten mich und Bedauern ersetzte jene Gleichgültigkeit, mit der ich mich hatte treiben lassen. Ich fragte mich, ob mich meine Märchenfee mit ihrem Entzug von Hemmungslosigkeit für die Unzulänglichkeiten bestrafte, die sie an mir ausgemacht hatte. Mit Eve zu verschmelzen war zu einem routinierten Akt verkommen. Ich dachte ihr die Wahrheit an, wenn sie schlief. War sie wach, dachte ich nicht einmal mehr an meine Lügen. Den Frauen an meiner Seite war ich noch nie treu gewesen, und wie bestellt rollte die junge Frau wieder an mir vorbei, die lässig ihr Haupt in die Kopfstütze gelegt hatte, herüberschaute und lächelte. Ich erwiderte ihren verspielt unanständigen Blick. Ohne ein Wort miteinander zu sprechen, verband uns die Vorstellung gegenseitigen Entdeckens. Wo, wie oder wann auch immer. Wer sich mit den Menschen beschäftigte, konnte ihnen ansehen, wenn sie das Abenteuer suchten. Das Augenpaar neben mir verriet ohne jeden Zweifel lustvoll das Verlangen nach einem Ausflug jenseits der Mauer.

Für die Dauer eines Menschenlebens sein privates Glück in der eigenen Dummheit zu suchen, sinnierte ich weiter, weil der Wagenlenker erneut jeden Kontakt unterbunden und sich vor uns gesetzt hatte, war wirklich meine Sache nicht. Ich hatte gelernt, mich zu arrangieren. Ich wusste, wie dumm und töricht Anarchie war. Systeme, gleichgültig ob öffentlicher oder privater Art, ließen sich nicht verändern, in dem man sie von außen bombardierte. Sie ließen sich gar nicht wandeln, selbst durch beharrliches Mitwirken in ihnen nicht, was die Alternative zu Blut und Terror war.