Chris Owen - Die Wiedergeburt

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Kapitel 26: Krieg der nächsten Generation

Berlin, Rom, Madrid, Marseille, Moskau, New York, 2016

Um 21:30 Uhr der Mitteleuropäischen Zeit detonierten in den Zentren der Städte Berlin, Rom, Madrid sowie Marseille und zeitgleich in der russischen Hauptstadt Moskau die Bomben. Sämtliche Explosionen erschütterten Hauptverkehrsadern, sodass Fahrzeuge, die im unmittelbaren Umkreis der Selbstmordattentäter standen oder fuhren, in die Luft geschleudert wurden und wuchtig zu Boden prallten. Einige der Wagen erschlugen diejenigen Passanten, die nicht von der direkten Detonation zerrissen wurden. Schreiende Menschen, blutüberströmt, lagen teils auf den mit Glassplittern sowie herausgerissenen Fassadensteinen übersäten Straßen und Gehwegen, teils liefen sie verwirrt umher, ohne ihr eigenes Gekreische noch das der anderen zu hören. Die Explosion verletzte bei etlichen das Trommelfell, was neben unerträglich hellem Pfeifen eine dumpfe Geräuschwahrnehmung verursachte.

In mehrere Kinos, Cafés und Gaststätten der Großstädte drangen gleichzeitig mit Kalaschnikows und Granaten bewaffnete Personen ein und eröffneten ohne Vorwarnung das Feuer – zielstrebig eine Vielzahl Unschuldiger in den Tod reißend. Das Letzte, was zahlreiche Todesopfer schreckensstarr erblickten, waren die eiskalten Augen der Terroristen, die unmaskiert ihre Waffen abfeuerten. Zigfach wurde nachgeladen. Tausende von Patronenhülsen klapperten metallisch zu Boden, bis jeder der Angreifer den Splint aus einer Granate zog und diese bis zur Detonation in der Hand behielt.

In New York nebelte zur gleichen Zeit, exakt um 15:30 Uhr, eine Giftwolke Teile des Fulton Center ein, jener U-Bahn-Station, die neun Subway-Linien verband und dreizehn Jahre nach den Anschlägen des 11. Septembers als neuer Downtown-Manhattan-Verkehrsknotenpunkt eingeweiht worden war. Innerhalb weniger Minuten fielen dem Attentat mehr als 2.500 Fahrgäste zum Opfer.

Die traurige Bilanz dieses kriegerischen Feldzuges: über 4.800 unschuldige Frauen, Männer und Kinder. Noch am selben Abend verkündete der Papst in einer weltweit ausgestrahlten Ansprache, mit feuchten Augen und sichtlich erschüttert, den seiner Meinung nach ausgebrochenen Dritten Weltkrieg. Dieses Bild der heimtückischen Kriegsführung sollte die nächsten Jahre die Welt verändern; mehr noch, in vielen den Glauben an eine höhere Macht gänzlich zum Versiegen bringen.

Kapitel 27: Chris sieht Nachrichten

Washington, D.C., Juli 2016

Die ersten Tage zu Hause vergingen wie im Flug. Während sich Sandras Mutter Rachel mehr denn je um ihre Enkelin Meira kümmerte, galt Sandras Fürsorge dem neuen Familienzuwachs Chris. Er hatte die Augen seines Vaters; auch wenn sich diese, aufgrund der roten Pigmentierung, unterschieden.

»Sieh doch nur, Mom, wie er mich anstrahlt.«

Chris lag auf seiner Krabbeldecke im Wohnzimmer und fixierte Sandra, die neben ihm saß.

»Ach, Kleines«, lächelte Rachel, »er ist noch zu klein, um alles richtig wahrzunehmen. Das kommt erst mit der Zeit.«

»Aber sieh doch, er blickt mir direkt in die Augen und hat sichtlich Spaß daran.«

Tatsächlich, dachte Rachel, während sie Meiras Bauch tätschelte, die ebenfalls auf der Decke neben dem Bruder lag.

»Wenn du beide vergleichst, dann habe ich das Gefühl, dass Chris ebenso weit ist wie Meira. Schau nur.«

Lachend schüttelte Rachel den Kopf. »Was du dir wieder einbildest. Meira ist über ein Jahr älter. Und das merkt man ihr auch an.«

»Wenn du meinst … Dennoch bin ich mir sicher, dass Chris mich erkennt.« Sandra beharrte hartnäckig auf ihrer Meinung.

Noch während die beiden diskutierten, steuerte Elias mit todernster Miene den Rollstuhl ins Wohnzimmer.

»Sieh doch mal, wie Chris mich anblickt«, rief Sandra ihrem Bruder zu.

»Toll«, erwiderte Elias knapp.

»Ist was, Bruderherz?«

»Es ist Schreckliches passiert.« Dabei sah er sorgenvoll zuerst seine Mutter, dann Sandra an.

»Was ist?«, fragte Sandra.

Elias antwortete nicht, sondern rollte in Richtung Sideboard, auf dem die Fernbedienung des Fernsehers lag. Er schaltete ein. Jeder Sender im Staat hatte das Programm geändert und berichtete in Sonderausstrahlungen von den Anschlägen auf die U-Bahn-Station Fulton Center sowie die zeitgleich verübten Attentate in Europa.

»Wisst ihr, was das heißt? Es ist Krieg. Ein Scheißkrieg über alle Länder hinweg. Diese Schweine gehen auf die Zivilbevölkerung los, um Angst zu schüren. Die pfeifen auf jegliche ethischen Gesetze oder Regeln der Genfer Konventionen.«

Schweigend lauschten sie dem Nachrichtensprecher: »Die Situation vor Ort ist verheerend. Behörden gehen derzeit von mindestens 2.000 Toten und ebenso vielen Verletzten aus. Schenkt man den ersten Ermittlungsergebnissen Glauben, handelt es sich um einen Giftgasanschlag, dessen tödliche Substanz durch das Belüftungssystem eingebracht wurde. Sicher ist, dass der Anschlag auf unser Land einen terroristischen Hintergrund hat. Dies untermauern die Umstände, dass zur selben Zeit in den europäischen Großstädten Berlin, Rom, Madrid, Marseille sowie in Moskau Unbekannte Bomben gesprengt und bei regelrechten Hinrichtungen Tausende Unschuldige an öffentlichen Plätzen der Städte gemordet haben. Wir schalten jetzt zu unserem Auslandskorrespondenten …«

Chris reckte seinen Kopf nach hinten, um die Bilder des Fernsehers sehen zu können. Er verstand, was er sah, und es bereitete ihm ein Gefühl der Angst.

Kapitel 28: IMMERZEIT

»Warum hast du das getan?«

»Ich tue, was ich tun muss. So ist mir geheißen.«

»Nein, Raphael, die Zeit ist nicht reif und du weißt das.«

»Hör auf zu jammern, Michail. Ich sollte dich auf der Stelle vernichten, du Abtrünniger.«

»Vernichten! So wie du Tausende Unschuldige richtest?«

»Es ist der Wille – die Siegel sind gebrochen.«

»Wäre der Messias jetzt hier, er würde dir sagen, was gebrochen ist und was nicht. Wir werden uns stellen, hörst du!«

Raphael lachte laut auf, während er mit Michail in der New Yorker U-Bahn-Station stand, dabei unbemerkt Hunderte Helfer betrachtete, die sich um Tote und Verletzte kümmerten.

»Willst du damit sagen, Michail, das hier sei nicht passiert? Es ist passiert und weder du noch dein angeblicher Prophet können es rückgängig machen. Wo war er denn, dein verheißungsvoller Heiland? Wo ist seine Macht? Verkrochen hat er sich und weißt du warum? Ich sage es dir. Weil er kein Prophet ist. Nicht gesandt von Thron, neiiiin, ein selbsternannter Messias ist er, ein Scharlatan, wie schon so viele vor ihm. Du solltest umkehren, Michail, und dich deiner vorgesehenen Prophezeiung stellen. Schulter an Schulter, an meiner Seite der Aufgabe gerecht werden, die Thron uns zugeteilt hat. Die Menschen verdienen es! Glaubst du ernsthaft, ich habe das alles veranlasst? Ich sei derjenige, der darauf aus ist, die Menschheit zu strafen? Das erledigen jene dummen Geschöpfe schon ganz von allein. Vertrau mir.« Mit Daumen und Zeigefinger schnippte Raphael an die ausgestopfte Pfote eines kleinen Teddybärs, der vor ihm auf dem kalten Fliesenboden lag. Dass sich das Ärmchen tatsächlich bewegte, nahm niemand wahr.

»Auch wenn die Siegel gebrochen sind und du wie auch deine Schergen das Unheil vorantreiben, so haben wir eine Chance verdient.« Michail blitzte Raphael wütend an.

Dieser wurde jetzt ungehalten. »Wir, du sprichst von wir? Du stellst dich auf eine Stufe mit diesen, diesen …«

»Mit den Menschen, ja!«, fauchte Michail ebenso erzürnt zurück. »Und solltest du es vergessen haben: Wir waren ihresgleichen.«

»Ihresgleichen, in der Tat, bis wir gerufen wurden. Gerufen, das Wort Throns zu befolgen. Und du, du wagst es, dich zu versündigen.«

»Zu versündigen?«, spie Michail zurück. »Wer versündigt sich von uns? Bist es nicht eher du, der voller Ungeduld nur darauf gewartet hat, das Volk zu richten?«

Raphael kehrte Michail den Rücken, ging ein paar Schritte. Dann drehte er sich mit ausgestrecktem Zeigefinger zu ihm um: »Wahrlich, du redest von Ungeduld. Das grenzt an Blasphemie und du weißt das.«

»Wäre es Blasphemie, wie du behauptest, warum schickt uns Thron den Erlöser?«

»Welchen Erlöser?«, fragte Raphael grinsend, während er mit ausgebreiteten Armen um sich blickte. »Ich kann niemanden sehen. Ach«, er hob seinen Zeigefinger, »du sprichst abermals vom selbst ernannten Propheten, jenem, der angeblich von Thron gesandt wurde. Ach, dein Gewinsel ist jämmerlich!«

An diesem Punkt breitete Raphael nochmals die Arme aus, drehte sich tanzend zu einer nicht vorhandenen Melodie und lachte laut auf. Augenblicklich hielt er inne. Seine kalten blauen Augen starrten auf Michail.

»Wie viele Propheten hast du schon gesehen? Hier wie auch auf Erden? Alle, aber wirklich alle nutzen Throns Worte ausschließlich zu ihren Gunsten. So ist es und so wird es immer sein. Ich sage dir jetzt zum letzten Mal: Dein Messias existiert nicht! Vielleicht erbarmt sich Thron tatsächlich, ihn zu senden. Doch jetzt – jetzt, mein Freund, ist meine Zeitrechnung angebrochen und niemand, auch du nicht, wird mich aufhalten. Wage keinen Versuch. Es wird dir sonst leidtun.«

Michail war bemüht, sich seine Angst vor der Drohung Raphaels nicht anmerken zu lassen, und froh, als dieser im selben Moment verschwand. Langsam schloss er die Lider, sackte auf die Knie. Hatte er die richtige Entscheidung getroffen? Wurde er geblendet? Wäre doch Chris noch hier, bei ihm. Aber die Seele des Erlösers hatte Immerzeit verlassen, war in Menschengestalt zurück auf Erden gekehrt.

 

Als Michail die Augen wieder öffnete, kniete er nicht mehr in der Station Fulton Center. Nein, er befand sich im Wohnzimmer jenes Hauses, welches zu betreten Chris strengstens untersagt hatte. Und da sah er ihn. Der Neugeborene hatte den hellblonden Kopf nach hinten gestreckt, um die Bilder der Katastrophe im Fernseher zu betrachten.

»Lässt du dich so schnell irritieren?«, fragte der Säugling durch seine Gedanken und drehte sich musternd zu Michail. Ein sanftes Lächeln umspielte Chris’ Lippen – tapsig hob er einen Arm in Richtung Michail.

Aus dem Augenwinkel heraus sah Sandra die Bewegung und ihre tränennassen Augen erfassten den leuchtenden Blick des Sohnes, der in die Ferne zu schweifen schien.

Kapitel 29: Die Pandemie

Die eingeleitete Fahndung nach Tafari Ballo erübrigte sich nur einen Tag nach Alarm »W69«. Der im Hampton Inn hinzugezogene Arzt reagierte gewissenhaft und ließ beim Anblick Tafaris aus Sicherheitsgründen das komplette Hotel unter Quarantäne stellen. Bemerkenswert, wie er mit dem Hotelmanager streiten musste, der diese Maßnahme als völlig überzogen, ja geschäftsschädigend ansah. Wegen unbedeutenden Nasenblutens gleich das gesamte Areal abzusperren … Der Manager tobte, als ein heller Krankenwagen mit der Aufschrift »Grady EMS« vorfuhr, Sanitäter in weißen Schutzanzügen ausstiegen und mit übergestülpten Schutzmasken die Eingangshalle betraten.

Das wenig später eintreffende Militär sicherte ebenfalls in raumfahrerähnlichen Anzügen weiträumig das Gelände und ordnete die Bewachung sämtlicher Ein- und Ausgänge an. Über die Lautsprecheranlage des Hotels wurden Gäste wie Angestellte aufgefordert, Ruhe zu bewahren. In kürzester Zeit funktionierte man den Speisesaal um. Feldbetten wurden aufgestellt, haufenweise Aluminiumkoffer mit technischem Gerät untergebracht. Es folgte eine vollzählige Registrierung aller anwesenden Hotelgäste in Listen, ebenso erfasste man jene, die bereits ausgecheckt hatten. Die Informationslisten übergab man unmittelbar dem FBI mit dem Ziel, einen lückenlosen Nachweis sicherzustellen, zu welchen weiteren Personen die etwaigen Infizierten Kontakt gehabt hatten. Ein Unterfangen, welches das FBI gerne mit »Sessa« verglich, der bekannten Legende der Reis- oder Weizenkörner auf dem Schachbrett. Erst eins, dann zwei, dann vier, dann acht …

Verängstigte Menschen wurden befragt, ob sie eine direkte, wie sie es nannten, »Interaktion« mit jenem Farbigen hatten, der bereits in die Quarantäne-Klinik nach Atlanta gebracht worden war. »Geht es Ihnen gut? Fühlen Sie sich fiebrig?« Die gestellten Fragen sowie die Blutproben, die jeder Person entnommen wurden, trugen nicht gerade zur Entspannung bei. Unübersehbar wurde ein jeder mit afroamerikanischer Abstammung skeptisch fixiert oder gar gereizt gemieden und nur wenige Stunden nach Einleitung der Schutzmaßnahmen kam es zu ersten Handgreiflichkeiten.

Ein Mann Mitte dreißig, gekleidet in grauem Seidenanzug, stand laut fluchend im Foyer und versuchte den Ausgang zu passieren. Als ihm sein Wunsch verwehrt wurde, rempelte er den Beamten im Schutzanzug zur Seite. Zwei stämmige Soldaten waren gezwungen, den Anzugträger unsanft auf die Knie zu zwingen, bevor sie ihm Handschellen anlegten. Selbiger Akt der Freiheitsberaubung verbreitete sich zwar wie ein Lauffeuer im Gebäude – sorgte indes aber für Einkehr von Ruhe.

Sergeant Major Boyle war abgestellt, die vorgefahrene Presse zu beruhigen. Er war Experte darin, mit beschwichtigenden Phrasen die Pressevertreter vorerst ruhig zu stellen, ohne auf Details einzugehen. »Reine Vorsichtsmaßnahme – noch wisse man nichts Genaueres – keine voreiligen Spekulationen der Presseleute …«

Die Information aus New York, die Dr. Kleinschmidt vorgelegt wurde, enthielt folgende Botschaft:

Erkrankte Person, männlich, farbig, Anfang 30. Transport dreizehn fünfundvierzig nach Grady, Atlanta. Festgestellter Todeszeitpunkt sechzehn null eins. Innerliche Blutungen, Schock, multiples Organversagen. Angereist mit Flugnummer AA407 – Burkina Faso – Ankunft New York zweiundzwanzig vierundzwanzig mit Zwischenlandung Brüssel – Weiterflug Miami. Flugsicherung alarmiert; Passagierlisten aktiv. Erste Laborergebnisse aus Grady werden nochmals geprüft. Unbekannte Virenart der Spezies Filoviridae. Laborbefunde anbei.

Passagierlisten aktiv, dachte Dr. Kleinschmidt. So eine Scheiße. Patient 3, verstorben, hatte sich ungehindert, nichtsahnend, in Belgien und den USA bewegt. Ohne Zweifel war er im Ballungsraum der Flughafengelände mit Hunderten, wenn nicht Tausenden Menschen in Kontakt gekommen. Wenn auch nicht direkt, so indirekt.

Zeitspanne Ansteckung bis Exodus des Patienten: ebenfalls geschätzte acht bis zwölf Stunden. Dr. Kleinschmidt ahnte bereits, welchen Befund der Laboruntersuchungen aus den USA er vorfinden würde. Seine Vermutung bestätigte sich – Deckungsgleichheit mit den Ergebnissen aus Burkina Faso. Es war an der Zeit, den Präsidenten zu unterrichten.

Albany, Wedgewood Drive: Die alte Dame mit violett gefärbten Haaren, brauner Safarihose, weißer Bluse und Sportschuhen bekam das Ende nicht mehr mit. Gerade erst aus Westafrika heimgekehrt, lag sie besinnungslos und blutend auf dem Fußboden ihrer Küche und noch bevor die inneren Organe versagten, erstickte sie an ihrem Erbrochenen.

Kapitel 30: Sechs Jahre Elend

Die Pandemie erfasste große Teile Europas sowie weitere Kontinente. Mehr als 54 Millionen Menschen starben in den Jahren 2016 bis 2021 einen erbarmungslosen blutigen Tod. Dann, so wie die Seuche gekommen war, verebbte sie abrupt. Man fand trotz der Zusammenarbeit internationaler Wissenschaftler kein Gegenmittel zu dem nach seinem Entdecker benannten »Guambo-Virus«.

Über die katastrophale Pandemie hinaus beschäftigte ein expandierendes »Krebsgeschwür« Politiker aller Nationen. Unaufhaltsam wütete ein radikal geführter Krieg terroristischer Mächte unter dem Deckmantel der »wahren Religion« und brachte die Kriegsmächte so weit, mit immer drastischeren und grausameren Aktionen zu antworten. Es war kein Krieg der Fronten – Auge in Auge, sich auf dem Schlachtfeld gegenüberstehend. Es war ein regelrechtes Abschlachten, darauf ausgelegt, unverhofft und mit grausiger Brutalität die Zivilbevölkerung zu treffen. Anschläge auf zivile Opfer waren an der Tagesordnung. Bombardierte man Ölfelder oder Stellungen der Terrormilizen, folgten Vergeltungsschläge auf dem Fuße. Meldete man Erfolge zurückeroberter Landgebiete, folgten hierauf Verlustmeldungen aus anderen Regionen.

Die Menschen beäugten sich gegenseitig argwöhnisch: Andersartig gekleidet? Verschiedenartige Hautfarbe? Bartwuchs oder nicht? Alles und jeder erschien verdächtig.

Durchgesetzte Kriegsrechte wurden wieder zurückgenommen, um kurz darauf von Neuem verhängt zu werden. Gefängnisse vieler Länder waren bis zum Bersten gefüllt, Geheimdienste mächtiger Nationen in höchster Alarmbereitschaft.

Digitale Kriegsführung wurde zu einer neuen, bisher nicht gekannten Waffe: Hacker initiierten Angriffe auf zentrale Knotenrechner des Internets. Man sperrte Bankkonten, verbreitete Propaganda, zeigte Videos grausamster Art, Medien berichteten live »von der Front«.

Die Religion trat in den Mittelpunkt der Ereignisse. Ein jeder berief sich auf seinen Glauben, seinen Gott, seinen Messias, seinen Allah … Erleuchtete Propheten, auf Kartons oder Bierkästen stehend, säumten die Straßen der Städte, um aus voller Kehle den Weltuntergang zu prophezeien. Etliche der Prediger fanden verängstigte »Gläubige«, die sich ihnen anschlossen. Nicht der Verlust von Hab und Gut war hierbei tragisch – nein, die Hoffenden verloren ihre Seelen, während die vermeintlichen Propheten sich die Konten füllten.

Verkündete der Papst das Wort Gottes, hingen Hunderttausende auf dem Petersplatz in Rom an dessen Lippen. Sprach ein Kalif, so war das Bild das gleiche. »Wir führen einen heiligen Krieg, so wie es geschrieben steht.«

Im Verlauf der Kriege und Seuchen, die Millionen von Menschen aus dem Leben rissen, schlich eine weitere Gefahr – bekannt, jedoch verdrängt – auf leisen Sohlen heran. Man wusste von ihrer Existenz – doch man fand zu keiner Einigung. Langsam, Jahr für Jahr, drängte das Quecksilber der Thermometer Millimeter für Millimeter in Richtung Norden.

Klimakonferenzen ergaben vollmundige Bekundungen aller Vertreter der Industrieländer, die sie, sobald sie in ihr Land zurückgekehrt waren, in den Wind schlugen. Wie auch sollte man die Maßnahmen zur Eindämmung der Klimaerwärmung umsetzen? Der Einfluss der Wirtschaft verhinderte drastische Eingriffe und die Politik fürchtete den eigenen Machtverlust von Wahlperiode zu Wahlperiode. Waren Klimagespräche angesagt beziehungsweise präsent, demonstrierten Tausende mit Schildern und Megafonen in den Straßen. Detonierte wenig später eine Bombe im Straßencafé nebenan, verstummten die Demonstranten, ebenso die Nachrichtensender.

Kapitel 31: Er liest

Washington, D. C., 2022

Die Kinder waren Sandras Ein und Alles. Meira, jetzt knapp sieben Jahre alt, liebte es, in die Schule zu gehen, und widmete sich gewissenhaft ihren Hausaufgaben. Verspielt malte sie bunte Blumen um die noch krakelig geschriebenen Worte oder seitlich der »Einmaleins«-Rechenaufgaben.

Wenn es um Chris ging, so vergötterte sie ihn ebenso wie der Rest der Familie. Zum einen lag dies unzweifelhaft an der äußeren Erscheinung. Die helle, wolkenfarbige Haut wie auch die sanft blickenden, klaren Augen glichen der Gestalt eines Engels. Zum anderen beeindruckte sein erstaunlicher Entwicklungsverlauf. Bereits mit einem Jahr lief er ungehalten zwischen den Beinen seiner Mutter umher; im Alter von zwei Jahren entwickelte sich sein anfängliches Geplapper zu sauber geformten Worten. Als er vier Jahre alt war, fiel Sandra auf, dass er die aus dem Bücherschrank gezogenen Romane nicht einfach nur betrachtete, nein, er schien völlig geistesabwesend, während die roten Augen flink über die Seiten huschten. Die seinem Alter entsprechenden Bilderbücher blieben unangetastet.

Dann, im zarten Lebensalter von fünf, hörte sie ihn. Gemeinsam mit seiner Schwester saß Chris auf der Kinderschaukel im Garten. Meira hing sichtlich an den Lippen des Bruders und lauschte konzentriert, wie er soeben eine Passage aus einem Buch laut vorlas. Sandra erinnerte sich an den Inhalt, denn vor nicht allzu langer Zeit hatte sie selbst die Geschichte von Kunta Kinte, dem Sklaven aus Roots gelesen. Chris betonte sanft jede Wendung des Romans, wie Omoro seinem Sohn Kunta den Kummer nehmen wollte, da dessen Großmutter verstorben war. Omoro erklärte seinem Sohn, dass in jeder Dorfgemeinschaft drei Gruppen von Menschen lebten: Die erste Gruppe sei diejenige, die man sah, wie sie aß, umherlief, schlief und arbeitete. Die zweite Gruppe sei die der Vorfahren, zu denen nun auch die Großmutter Yaisa gegangen war. Als Kunta seinen Vater nach der dritten Gruppe fragte, lief es Sandra eiskalt den Rücken hinab. Chris sah zu seiner Schwester Meira und rezitierte liebevoll, dass die dritte Gruppe einer jeden Gemeinschaft jene sei, die darauf warte, wieder auf die Welt zu kommen.

Mit seitlich geneigtem Kopf lief Sandra auf die Schaukel zu, während sie dem Text lauschte. Chris’ Lippen formten indes Wort für Wort des Romans Roots, den sie, Sandra, von Olivia geschenkt bekommen hatte. Er enthielt eine handschriftliche Signatur ihrer Schwiegermutter mit den Worten: »Dieses Buch schenke ich dir von ganzem Herzen, im Andenken an deinen Mann und unseren wundervollen Sohn. Ich habe es jetzt endlich gekauft, nachdem ich beim ersten Versuch durch Magie davon abgehalten wurde.«

»Chris, was machst du da?«, flüsterte Sandra, da Chris, derart in die Lektüre vertieft, sie nicht zu bemerken schien.

»Ich lese Meira vor«, antwortete Chris anständig, so als ob dies das Normalste der Welt sei.

»Das kannst du nicht lesen.« Sandra wusste selbst nicht, wie sie ihren Satz interpretieren sollte. Das kannst du nicht lesen, weil … du in deinem Alter unmöglich lesen kannst; oder: Das kannst du nicht lesen, weil … es sich um keine Lektüre handelte, die ihr altersgerecht für ihn und Meira erschien. Vorerst entschied sie sich für letztere Version.

 

»Chris, das ist keine gute Geschichte für euch beide. Bitte gib mir das Buch!«

»Aber Mom, Roots ist spannend«, protestierte Chris, während er ihr dennoch brav das Buch entgegenhielt. Sandra griff danach.

»Wir unterhalten uns später darüber. Spielt doch noch ein wenig im Garten. Derweil helfe ich Grandma beim Abendessen.« Verwirrt ging Sandra zurück ins Haus.

»Schade«, meinte Meira. »Es hat mir wirklich gefallen.«

»Ich hab’s schon ganz gelesen«, erwiderte Chris. Er sah seine Schwester an, lächelte verschwörerisch und begann, diesmal ohne Buchvorlage, von Neuem zu rezitieren: »Der Regen hatte aufgehört …«

»Mami, Chris hat mir die Geschichte weitererzählt«, entfuhr es Meira eine Stunde später kauend am Esstisch, froh darüber, ihre Mutter ausgetrickst zu haben.

»Welche Geschichte?«, fragte Elias.

»Na, die aus dem Buch«, sagte Meira stolz.

»Was für ein Buch?«, wollte Elias wissen.

»Roots«, gab Sandra die Antwort.

»Roots?« Rachels Blick stellte tausend Fragen.

Elias lachte auf, während Chris scheinbar teilnahmslos in seinen Burger biss. »Klar, Chris liest Roots!«, prustete Elias.

Bevor Sandra antworten konnte, begann Chris frei – und wieder Wort für Wort, wie es geschrieben stand – vorzutragen, wie ein junges Mädchen der Dorfgemeinschaft in Afrika vor vielen Jahren verschwunden war und jeder der Dorfbewohner sanftmütig der klagenden Großmutter Mut machte, dass die Verschwundene sicher am nächsten Morgen zurückkommen würde.

»Was ist das?«, fragte Rachel; Elias hörte auf zu kauen.

»Roots«, war die lapidare Auskunft von Chris.

Sandra stand wortlos auf und holte das Buch aus dem Schrank. Wieder am Tisch, fing sie an darin zu blättern.

»Kapitel 19, Seite 75, zweiter Absatz«, half ihr Chris.

Alle Augen waren auf Sandra gerichtet, außer denen von Chris, der damit beschäftigt war, eine Handvoll Pommes in den Mund zu stopfen. »Könntest du das wiederholen?«, bat Sandra.

»Ich darf weitererzählen?«

»Ja, ja, mach weiter«, forderte Sandra ungeduldig.

Chris schloss die Augen und mit leiser Stimme trug er über Minuten hinweg die Passage aus Kapitel 19 des Romans vor. Die Stille am Tisch ließ den Vortrag wie eine Predigt wirken.

Blass im Gesicht, senkte Sandra den Roman. Dann sah sie zu Elias. »Wort für Wort«, murmelte sie.

Ihr Bruder beugte sich aus dem Rollstuhl zu ihr hinüber und griff nach den Seiten. »Chris, du willst mir doch nicht erzählen, dass du lesen kannst, darüber hinaus auswendig lernst?« Elias hörte sich ärgerlich, nein, eher verängstigt an, während sein Blick auf dem fünfjährigen Knirps ruhte. Dieser schien mit der allgemeinen Verwunderung nichts anfangen zu können, denn er aß genüsslich sein Lieblingsmenü weiter.