Gefühle sind veränderbar

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Gefühle sind veränderbar
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Matthias Hipler

Gefühle sind veränderbar

Mit Ängsten, Aggressionen, Schuld- und

Minderwertigkeitsgefühlen richtig umgehen


Die in diesem Ratgeber aufgezeigten Hilfen können nicht das therapeutische Gespräch ersetzen. Konsultieren Sie einen Arzt, wenn schwerwiegende körperliche Symptome vorliegen und wenden Sie sich an einen Therapeuten, wenn Sie unter starken psychischen Beeinträchtigungen leiden. Eine Haftung kann weder vom Verlag noch vom Autor übernommen werden.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

2., überarbeitete Auflage 2011

ISBN 9783865065728

© 2000 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, 47443 Moers

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

Titelfoto: istock

Satz: Satz & Medien Wieser, Stolberg

www.brendow-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Im Labyrinth der Gefühle

Von Minderwertigkeitsgefühlen zu einem gesunden Selbstvertrauen

Gesichter der Angst

Mit Aggressionen leben lernen

Freiwerden von Schuldgefühlen

Im Labyrinth der Gefühle

Wir bekommen sie jeden Tag neu zu spüren: Die Kraft, die in unseren Gefühlen steckt. Gefühle machen uns lebendig. Sie bringen uns in Bewegung. Sie bereichern Beziehungen. Einmal werden wir von ihnen angenehm überrascht und beflügelt, ein andermal lassen sie uns kalt erschauern.

Auf der Sonnenseite der Emotionen blühen wir auf. Negative Gefühle verdrängen wir lieber. Frust- und Schuldgefühle törnen ab. Heiße Gefühle, wie Wut und Zorn, können unserer Kontrolle entgleiten. Wir platzen lieber vor Selbstvertrauen, als von Minderwertigkeitsgefühlen niedergedrückt zu werden. Die Gefühlspalette ist breit. Zur Liebe gehört auch der Schmerz. Der Seele ist einmal nach Lachen und ein anderes Mal nach Weinen zumute. Ins Vertrauen mischt sich Angst. Siegergefühle sind nicht ohne Niederlagen zu haben. Die Welt der Gefühle erstreckt sich von paradiesischen Glücksgefühlen bis zur Hölle aus Verzweiflung und Angst. Und manchmal verirren wir uns im Labyrinth der Gefühle.

Verwoben mit der eigenen Gefühlsgeschichte

Jeder Mensch ist verstrickt in ein Netz von Gefühlen, das schon in Kindheit und Jugend geknüpft wurde. Erfahrungen, Prägungen und Ereignisse haben ihre Spuren im Gefühlshaushalt hinterlassen. Unsere Eltern waren unsere Gefühlstrainer. Durch ihr Vorbild und ihren Erziehungsstil haben sie uns den Umgang mit Gefühlen beigebracht: positiv wie negativ. In meiner therapeutischen Praxis berichten Klienten davon, welches Gefühlsmotto in ihrer Herkunftsfamilie vorherrschte, zum Beispiel:

„Über Gefühle spricht man nicht!“

„Männer weinen nicht!“

„Andere sind für meine Gefühle verantwortlich!“

„Brave Kinder sind gute Kinder!“

Eltern können Kinder darin bestärken, Emotionen freien Lauf zu lassen. Aber sie können auch bestimmte Gefühlsregungen für unerwünscht erklären, weil sie diese für unangebracht halten, indem sie zum Beispiel drohen: „Wenn du noch einmal so wütend wirst, kannst du was erleben!“

Ich möchte Ihnen deutlich machen, welche Prägungen aus der Kindheit dazu beigetragen haben, dass Sie heute mit Angst, Aggression, Schuld- und Minderwertigkeitsgefühlen zu kämpfen haben. Erziehungs- und Beziehungstipps schließen sich an. Sie sollen Ihnen Mut machen, Ihre Aufgabe als Gefühlstrainer Ihrer Kinder positiv wahrzunehmen. Ich zeige beispielhaft die Rolle der vier behandelten Gefühle in der Partnerschaft auf. Weil auch in der Beziehung zu Gott und zum christlichen Glauben Gefühle eine Rolle spielen, greife ich an einigen Stellen biblische Aspekte auf.

Der erste wichtige Schritt aus dem Labyrinth der Emotionen besteht darin, dass Sie sich Ihre Gefühle zugestehen. Sie fühlen, was Sie fühlen. Sie dürfen sich beispielsweise Ängste und Ärger erlauben, wenn Sie sich überfordert fühlen oder ein anderer Mensch Ihre Grenzen überschreitet und Sie verletzt.

Es gibt weder gute noch schlechte Gefühle. Sie sind für sich genommen wertneutral. Entscheidend ist vielmehr die Frage, wie Sie angemessen mit Ihren starken Empfindungen umgehen. Wut und Aggressionen können konstruktiv wirken, wenn sie geäußert werden, ohne andere zu verletzen. Sie zerstören Beziehungen, wenn sie darauf abzielen, einen anderen Menschen fertig zu machen. Angstsignale überhören kann in tödliche Gefahren bringen. Panische Angst vor harmlosen Situationen dagegen schafft einen enormen Leidensdruck.

Gefühle leben von der zwischenmenschlichen Interaktion. In der Art, wie wir mit uns und anderen umgehen, spielen Gefühle eine entscheidende Rolle. Was wir für einen anderen Menschen empfinden, entscheidet darüber, wie wir uns ihm gegenüber verhalten.

Mein Ziel ist es, Ihnen die Angst vor negativen Gefühlen zu nehmen. Sie brauchen keinen Bogen um das Bermuda-Dreieck negativer Emotionen zu machen. Wenn Sie Ihre Gefühle verdrängen, melden sie sich um so lauter wieder zu Wort. Gefühle brauchen Raum. Das gilt gerade für unliebsame, schmerzliche Empfindungen.

Wenn sich zum Beispiel Ängste und Minderwertigkeitsgefühle im Alltagsleben die Klinke in die Hand geben, wird es ungemütlich. Spätestens wenn der Gedanke an den nächsten Tag einem Angstschweiß auf die Stirn treibt, eine unfreundliche Bemerkung schmerzlich unter die Haut geht und man sich nicht traut, „Nein“ zu sagen, weil dann Schuldgefühle das Gewissen quälen, gerät man ins Wechselbad der Gefühle. Wenn die Gefühlswelt die Krise kriegt, ist das eine Chance zur Veränderung.

Gefühle sind veränderbar

Ich werde Ihnen keine Do-it-yourself-Methode vermitteln nach dem Motto: „Wenn du gut drauf bist, erlebst du Erfolge. Wenn du Erfolge erlebst, bist du gut drauf. Fühle dich unheimlich gut, dann bist du es auch!“ Ich spreche vielmehr von den Gefühlszuständen, die gerade in Verbindung mit Niederlagen oder Krisen kommen.

Es geht um eine gute Balance zwischen positiven und negativen Gefühlen. Lernen Sie, angemessen mit starker Wut, quälenden Schuldgefühlen, Selbstwertproblemen oder Alltagsängsten umzugehen. Ich möchte Ihnen grundlegende Zusammenhänge dieser Emotionen durchschaubar machen und alltagsnahe Tipps zu ihrer Bewältigung weitergeben.

Gewinnen Sie ein neues Gefühl für Ihre eigene Persönlichkeit. Werden Sie sensibler für die Emotionen anderer. Als Mutter oder Vater brauchen Sie ein Gespür für die Gefühle Ihrer Kinder. Als Partner sind Sie herausgefordert, an Ihrer emotionalen Beziehung zu arbeiten. Und am Arbeitsplatz beeinflussen Gefühle Ihre Leistung.

Die meisten Menschen glauben, Gefühle würden sie schicksalhaft überfallen. Plötzlich tauchen sie in bestimmten Situationen oder Ereignissen auf, sozusagen wie aus heiterem Himmel. Gefühle werden eher passiv erlebt. Sie scheinen einem zu widerfahren. Und weil sie so spontan und unvermittelt auftreten können, fühlen wir uns ihnen hilflos ausgeliefert. Im Nu geraten wir auf 180 oder fühlen uns plötzlich ohnmächtig und von Angst geschüttelt. Die gute Nachricht lautet, dass wir unsere Gefühle tatsächlich verändern können. Gefühle suchen uns eben nicht schicksalhaft heim, sondern sind häufig Ausdruck unserer Gedanken und spiegeln bewusste wie unbewusste Überzeugungen wider, die wir hegen. Wir fühlen, was wir denken. Wir fühlen uns schlecht, wenn wir negative Gedanken pflegen. Wir werden von Schuldgefühlen geplagt, weil wir uns für schuldig halten. Wir reagieren ängstlich, wenn wir etwas als gefährlich bewerten.

Das ABC der Gefühle

Anders ausgedrückt: Alle Gefühle funktionieren nach dem ABC der Gefühle. A steht dabei für Situationen oder Tatsachen, denen wir begegnen. B beinhaltet unsere persönliche Art, die Situationen oder Tatsachen zu bewerten. C meint die entsprechenden Konsequenzen, die wir für uns daraus ziehen und die damit verbundenen Gefühle, körperlichen Reaktionen und Verhaltensweisen. Die Tatsachen sind gegeben. Situationen treten ein. Sie lassen sich nur bedingt beeinflussen. Was wir verändern können, sind unsere Bewertungen. Sie finden zu jedem der vier behandelten Gefühle konkrete Alltagsbeispiele, wie negative Bewertungen zu negativen Gefühlen führen. Ich zeige Hilfen auf, wie unangemessene Bewertungen korrigiert werden können und die daraus resultierenden Gefühle sich verändern.

Ich wünsche Ihnen die Erfahrung, dass Sie Angst, Aggressionen, Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle besser verstehen lernen und Schritte zu ihrer Bewältigung unternehmen. Die aufgezeigten Hilfen können Sie auf Ihre Alltagssituation anwenden. Dieser kompakte Ratgeber kann Ihnen Anstöße vermitteln, aber keine Therapie ersetzen. Er kann Sie ermutigen, das Gespräch mit einem kompetenten Seelsorger oder Therapeuten zu suchen.

 

Von Minderwertigkeitsgefühlen
zu einem gesunden Selbstvertrauen

Vermutlich haben Sie das auch schon einmal erlebt: Eine unangenehme Situation, in der Sie inständig gehofft haben, dass die Erde sich auftut, um Sie augenblicklich verschwinden zu lassen. Genauso erging es einer jungen Krankenschwester: „Das war mir vielleicht peinlich: Einem durchgefrorenen Patienten, der sich bis zur Nasenspitze zugedeckt hatte, bot ich – ganz die fürsorgliche Krankenschwester – eine Wärmflasche für die Füße an. Er antwortete auf mein freundliches Angebot: ‚Für welche Füße?‘ Mein Patient hatte beide Unterschenkel amputiert! Nur eine Woche später kontrollierte ich bei diesem Patienten den Blutdruck. Weil der so hoch war, meinte ich flapsig zu ihm: ‚Mensch, Herr S., Sie haben ja einen hohen Blutdruck! Sind Sie hierher gejoggt?‘“

Pleiten, Pech und Pannen finden wir irre komisch. Einzelne Missgeschicke verursachen noch keine Minderwertigkeitsgefühle. Aber der Spaß hört auf, wenn wir peinlich berührt reagieren. Den Tritt ins Fettnäpfchen können wir uns so schnell nicht verzeihen. „Warum muss das ausgerechnet immer mir passieren?“ – „Die anderen halten mich wohl für bescheuert – und das zu Recht!“ Wenn es uns dann doch gelingt, über solche Alltagskatastrophen zu lachen, kommt alles wieder ins Lot. Aber wenn wir uns bloßgestellt fühlen, haben wir noch lange daran zu knacken. Unser Selbstvertrauen rutscht in den Keller.

Reichen bei Ihnen schon Kleinigkeiten aus und Sie fühlen sich verunsichert? Der kritische Kollegenblick macht Sie misstrauisch. Die vermasselte Prüfung stempelt Sie zum Versager. Ihnen passiert ein blödes Missgeschick und Sie empfinden es als unverzeihlich. Ihr Partner macht eine taktlose Bemerkung und Sie fühlen sich empfindlich getroffen. In solchen Alltagssituationen spüren Sie, dass Ihr Selbstwertgefühl auf wackligen Beinen steht.

Profi in Nächstenliebe –
in Selbstliebe Amateur

In Seminaren zum Thema „Selbstvertrauen“ stelle ich den Teilnehmern folgende Frage: „Wie zeigen Sie einem anderen Menschen, dass Sie ihn mögen und ihn besonders wertschätzen?“ Die Antworten sprudeln nur so: „Zeit widmen, Komplimente machen, loben, anlächeln, helfen, vorurteilsfrei gegenüber treten, gerne haben, ins Herz schließen, umarmen, für ihn interessieren, ermutigen, positiv über ihn sprechen . . .“ Es scheint kein Problem für uns zu sein, einem Menschen, den wir mögen, Liebe zu zeigen. Das lernen wir wie selbstverständlich schon im Sandkasten. Aber wie können wir lernen, uns selbst zu achten und zu mögen? Woran liegt es, dass wir Nächstenliebe perfekt buchstabieren, aber das Einmaleins der Selbstliebe nicht beherrschen?

Machen Sie sich einen Moment folgende Tatsache bewusst: Sie verbringen Ihr ganzes Leben mit sich selbst, mit jemandem, der es wirklich verdient, dass Sie ihn mögen. Er trägt Ihren Namen und wünscht sich, dass Sie gut mit ihm auskommen und liebevoll mit ihm umgehen. Zugegeben, er verhält sich nicht immer so, wie er sollte. Er ist eckig und kantig und manchmal baut er Mist. Einen Schönheitswettbewerb wird er vielleicht nie gewinnen. Im Vergleich mit anderen schneidet er durchschnittlich ab. Und nicht eben selten macht er Ihnen das Leben unnötig schwer.

Stellen Sie sich vor: Sie duschen morgens einen Menschen, den Sie nicht riechen können. Sie ziehen ihn an und finden nicht viel Anziehendes an ihm. Sie ernähren ihn ausgezeichnet, aber sein Selbstwertgefühl halten Sie auf Diät. Das gibt den totalen Krampf. Wenn Sie sich selbst nicht leiden können, müssen Sie gut leiden können – anders ist das nicht auszuhalten.

Ich bin bisher noch keinem Menschen begegnet, der mit sich hundertprozentig zufrieden gewesen wäre. Menschen, die sich immer nur toll finden, halte ich persönlich für ungenießbar. Nach meiner Erfahrung besitzen Leute, die äußerst selbstsicher erscheinen, verwundbare Stellen, an denen sie tief getroffen werden können.

Ich möchte Ihnen dabei helfen, ein liebevolles Empfinden für Ihre eigene Person zu entwickeln. Sie können lernen, sich wertzuschätzen. Begegnen Sie sich mit einer guten Portion Selbstachtung. Überwinden Sie Ihre Minderwertigkeitsgefühle. Stärken Sie Ihren Selbstwert. Ihr Leben gewinnt dadurch deutlich an Qualität.

Minderwertigkeit als Lebensgefühl

Alfred Adler erfand sozusagen den treffenden Begriff „Minderwertigkeitsgefühl“. Er spielt in der von ihm entwickelten Individualpsychologie eine Hauptrolle. Jeder hat sie. Alle versuchen sie auszugleichen. Keiner ist völlig frei davon. Wie lästige Kletten kleben Minderwertigkeitsgefühle am Menschen. Und weil sich keiner gerne klein und unzulänglich fühlt, streben wir danach, die Minderwertigkeitsgefühle loszuwerden. Adler nennt das „Überlegenheitsstreben“. „Minderwertigkeitskomplex“ meint das umfassende und hartnäckige Lebensgefühl, nichts wert zu sein. Es beschreibt eine entmutigte Haltung. Daran etwas zu ändern, erscheint für Betroffene außergewöhnlich schwer.

Einen objektiven Maßstab für Minderwertigkeitsgefühle gibt es nicht. Jeder von uns erlebt sie subjektiv. Unsere Sprache beschreibt eine breite Palette von Gefühlslagen, die einem geringen Selbstwertgefühl entspringen. Wenn Sie sich schüchtern, gehemmt und scheu fühlen, trauen Sie sich nichts zu. Misstrauen Sie den Menschen in Ihrer Umgebung, werden Sie sich zaghaft, befangen und unsicher verhalten. Solange Sie sich Ihres „Selbst“ nicht sicher sind, glauben Sie stärker an Ihre Mängel als an Ihre Möglichkeiten.

„Selbst“-sicher trotz Unsicherheit

Selbstbewusst lebt, wer ein ausgeprägtes Gefühl für sein „Selbst“ besitzt. Mit einer gesunden Portion Selbstbewusstsein müssen Sie nicht den coolen Typen spielen, der jede Klippe mit stoischer Gelassenheit nimmt. Selbstbewusste leisten sich durchaus kleine Unsicherheiten. Wenn Sie wissen, was Sie wert sind, können Sie beispielsweise Herzklopfen und Lampenfieber vor einem öffentlichen Auftritt nicht aus der Ruhe bringen. Und sitzen Sie einmal in der Tinte, kratzt das nicht gleich an Ihrem Selbstwertgefühl.

Minderwertigkeitsgefühle machen wertlos

Umgekehrt gilt: Wenn Sie sich minderwertig fühlen, stellen Sie häufig Ihren Wert als Person infrage. Wenn Ihnen zum Beispiel ein peinlicher Versprecher passiert, sind Sie der letzte, der sich das verzeihen kann. Je pessimistischer Sie denken, umso schneller stempeln Sie sich als Versager ab.

Wenn Sie sich selbst häufig ablehnen oder verneinen, gefährden Sie Ihren Selbstwert. Versagensängste und Beziehungsprobleme belasten Ihr Leben. Selbstwertstörungen können zu selbstzerstörerischen Handlungen führen.

Die Bandbreite der Gefühle, die auf einen mangelhaften Selbstwert zurückgehen, beginnt mit leichter Schüchternheit und endet im Selbst-Hass.

Menschen mit Minderwertigkeitsgefühlen leben unter dem drückenden Joch der unterschiedlichsten „Zu-Vorstellungen“: zu groß oder zu klein, zu dick oder zu dünn, zu erfolglos, zu schlecht, zu unattraktiv, zu ungebildet. Gründe für selbst entwertende Überzeugungen gibt es so viele, wie es Menschen gibt.

Fünf Typen von Minderwertigkeit

1. Physische Minderwertigkeit:

z. B. Behinderungen, organische Beeinträchtigungen, körperliche Anomalien, Leistungsschwächen

2. Soziale Minderwertigkeit:

z. B. einer gesellschaftlichen Randgruppe angehören, in sozialen Brennpunkten leben, Scheidungswaisen, sich in seinem sozialen Prestige entwertet fühlen

3. Eingebildete Minderwertigkeit:

z. B. sich einen körperlichen Makel einbilden: Sommersprossen oder die Figur werden als minderwertig angesehen

4. Angeeignete Minderwertigkeit:

Eine zur Schau gestellte Minderwertigkeit wird benutzt, um eigene Ziele zu erreichen; durch eine Krankheit soll z. B. eine erhöhte Aufmerksamkeit erzielt werden

5. Kosmische Minderwertigkeit:

Der Mensch empfindet sich als winziges Staubkorn im unendlichen Universum; er erlebt z. B. Ohnmachtsgefühle angesichts von Naturkatastrophen

Futter für Minderwertigkeitsgefühle

Wer in eine Atmosphäre des Vertrauens hineingeboren wurde und darin aufwuchs, bildet ein gesundes Selbstvertrauen aus. Wer ungeborgen ins Leben geht, lernt schon früh, anderen Menschen zu misstrauen und sich selbst nichts zuzutrauen. Der Nervenarzt Michiaki Horie schildert anschaulich die Folgen fehlenden Urvertrauens: „Wo keine Geborgenheit ist, hat Entwurzelung stattgefunden. Da ist der Mensch wie eine Pflanze, die aus dem Erdreich gerissen wurde und verdorrt, abgetrennt von der Lebensquelle, die Kraft spendet. Und Unsicherheit schafft Angst, Aggression und Feindschaft. Der ungeborgene Mensch hat in sich keine Spannkraft, um mit Schwierigkeiten fertig zu werden. Er wird leicht zum Versager, zum Außenseiter der Gesellschaft“ (Michiaki und Hildegard Horie, Ängste – Wie gehen wir damit um? Wuppertal, S. 33). Bereits das Kleinkind nimmt sehr genau wahr, wie Eltern und Geschwister mit ihm umgehen. Nehmen sie es bedingungslos an oder praktizieren sie eine ablehnende Haltung? Ihre Art des Umgangs prägt das Selbstbild des Kindes nachhaltig – zum Guten wie zum Schlechten.

Fünf Erziehungsstile,
die Minderwertigkeitsgefühle verstärken
und das Selbstvertrauen schwächen:

1. Überbeschützende Erziehung

Die Eltern räumen in gut gemeinter Absicht jedes Hindernis und alle Schwierigkeiten aus dem Weg ihres Kindes. Sie wollen es vor Frustrationen und schmerzlichen Niederlagen bewahren. Als Folge dieser über-behüteten Erziehung lernt das Kind nicht ausreichend, die Herausforderungen des Lebens zu bestehen. Wer immer nur in Watte eingepackt wurde, den wirft schon der kleinste Windhauch um.

Ähnlich die verwöhnende Erziehungshaltung: Die Eltern tun alles für ihr Kind, erfüllen jeden Wunsch und nehmen ihm so die Chance, Frustgefühle auszuhalten. Im Gegenzug erwarten die Eltern, dass sich ihr Kind wunschgemäß verhält. So rauben sie ihm den Spielraum, die eigene Persönlichkeit auszubilden. Sie erziehen zur Anpassung.

2. Entmutigende Erziehung

„Du bist noch zu klein, zu schwächlich!“ – „Das kannst du noch nicht!“ Bei dieser entmutigenden elterlichen Grundeinstellung verkümmert das kindliche Selbstvertrauen. Das Kind kann sich – bildlich gesprochen – nur mit angezogener Handbremse entfalten: „Weil mir meine Eltern nichts zutrauen, traue ich mir selbst nichts zu!“ Es sammelt mehr entmutigende als Mut machende Erfahrungen. Verkümmert der Lebensmut, wachsen Hemmungen und Minderwertigkeitsgefühle.

3. Destruktive Verhaltensweisen

Alle Verhaltensweisen, die das Grundgefühl von Geborgenheit und Annahme vergiften, berauben das kindliche Selbstwertgefühl. Es erlebt sich unter Wert und verkauft sich unter Wert. Bloßstellung führt zu einem übertriebenen Schamgefühl. Verbale und physische Gewalt wirken extrem entwertend durch die Botschaft: „Ich strafe dich, weil du nicht so bist, wie du sein solltest.“ Eltern überschreiten die schützenden Grenzen ihres Kindes und nehmen ihm den Raum zur gesunden Entfaltung seiner Persönlichkeit.

4. Entwertende Bemerkungen

Das sind Sätze anderer, die auf das „Lindenblatt“, die verletzlichste Stelle des Kindes oder Jugendlichen, treffen. Gleichaltrige können unbarmherzig und brutal direkt sichtbare Schwächen geißeln. „Du kannst ja aus der Dachrinne trinken!“ – „Da kommt die Brillenschlange!“ oder „Du hast eine Figur wie ein Brett!“ Bemerkungen der taktlosen Art klingen manchmal lebenslang nach, weil sie zielsicher genau den wunden Punkt getroffen haben, für den sich der Betreffende selbst schon minderwertig fühlte.

5. Verzerrte religiöse Erziehung

Eltern können Gott als Hilfspolizisten in der Erziehung einsetzen. Die warnende Botschaft: „Gott sieht alles, ihm entgeht kein Fehler!“ produziert Angst und Minderwertigkeitsgefühle. Gott entlarvt mit detektivischem Gespür jede Schwäche und Sünde. Er scheint unnahbar fern und zugleich bedrohlich groß und nah. Biblische Maßstäbe werden vorrangig als Verbote ausgelegt. Das Ich des Menschen muss gebrochen werden. Selbstentfaltung wird als Egoismus verworfen. Jede religiöse Erziehung, die klein macht und in Ängsten gefangen hält, widerspricht dem biblischen Glaubens- und Gottesverständnis. Die Evangelien beschreiben eindrücklich, wie Gottes bedingungslose Liebe den Kindern gilt. Jesus wendet sich ihnen zu und hebt ihr kindliches Vertrauen als vorbildlich für die Erwachsenen hervor. Sie sind eben nicht zu klein, zu unwissend oder zu unbedeutend, um ihren Platz im Reich Gottes einzunehmen.

 

„Im Rückblick auf meine Kindheit kann ich mich nicht an sehr viel Wertschätzung erinnern. Haften geblieben sind vor allem Gebote, ständige Warnungen: ‚Pass auf!‘ – ‚Das kannst du nicht!‘ – ‚Muss das sein?‘ etc. Ermutigende Gegenpole blieben aus. Ich habe innerlich geglaubt: ‚Sei gehorsam und mach, was man dir sagt! Sei schön brav und lieb, dann wirst du auch gemocht!‘ Als Ergebnis sind bis heute ein geringes Selbstbewusstsein und eine geringe eigene Wertschätzung haften geblieben. In kleinen Schritten lerne ich jetzt, ein Gefühl für mich selbst, meine Wünsche und meine Fähigkeiten zu entwickeln. Ich beginne zu begreifen, dass ich ein Recht habe auf ein glückliches, selbstgestaltetes Leben, das nicht immer jemand anderem gefallen oder nutzen muss. Heute bedeutet mir Wertschätzung durch andere besonders viel. Sie ist für mich überhaupt Voraussetzung für ein ‚gutes Gefühl‘ in meinem Leben. Ich sauge sie auf wie ein ausgetrockneter Schwamm das Wasser. Es gibt allerdings auch heute oft Zeiten oder Situationen, in denen ich Lob oder Komplimente überhaupt nicht annehmen kann. Ich höre die Worte dann so, als hätten sie überhaupt nichts mit mir zu tun.“

Christina, 35 Jahre

Jeder Mensch bewahrt im „Archiv“ seiner Lebensgeschichte eine unendliche Zahl an Erinnerungen und Erfahrungen. Die Qualität dieser Erinnerungen entscheidet über die eigene Identität und das Selbstwertgefühl in der Gegenwart.