Buch lesen: «Als ich verlor, was ich niemals war»
Matthias Dhammavaro Jordan
Als ich verlor, was ich niemals war
Matthias Dhammavaro Jordan
ALS ICH VERLOR,
WAS ICH
NIEMALS WAR
Wie der Buddhismus mein Leben verändert hat
1. Auflage 2019
Verlag Via Nova, Alte Landstr. 12, 36100 Petersberg
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© Alle Rechte vorbehalten
Print: 978-3-86616-474-1
e-Pub: 978-3-86616-495-6
Inhalt
Vorwort
Unterwegs
Ernüchterung
Eine Reise beginnt immer mit dem ersten Schritt
Wat Suan Mokkh – Garten der Befreiung
Zurück auf die Insel
Bangkok – Tokio – Berlin
Zurück in Berlin
Wat Pang Bua – das Kloster am Lotusteich
Zurück nach Suan Mokkh
Die erste ‚Erleuchtung‘
Penang – Katmandu
Berlin
Abschied von Berlin
Bangkok / Suan Mokkh
Karma
Internationales Waldkloster
Klösterliches Leben
Freude und Glück der Welt
Herzenstrübungen und Hindernisse
Tod und Vergänglichkeit
Das letzte Treffen
Zurück in Pah Nana Chat
Ordination zum Novizen
Die Felsenwelt am kleinen Berg
Puh Jom Gom – ein Traum wird wahr
Abschied von Anna
Ordination zum Mönch Dhammavaro Bhikkhu
Liebende Güte und die unendliche Weite des Seins
Leben in der Wildnis
Mein Papa
Deutschland
Zurück nach Thailand
Puh Jom Gom (Zweite Vassa)
Das Mysterium entfaltet sich
Der Weg ist das Ziel
Retreat in Wat Küan und Ajahn Chahs Tod
Klosteralltag
Schuld – ein Echo aus weiter Vergangenheit
Klosteralltag und hungrige Geister
Ajahn Chahs Feuerbestattung
Der Dalai Lama
Ajahn Buddhadasas Tod
Wat Puh Jom Gom
Besuch von Ajahn Pasanno
Die fünfte Regenzeit
Vergänglich sind alle Erscheinungen
Der Weg in die Freiheit
Abschied von Puh Jom Gom
Auf Wanderschaft
Sri Lanka
Vipassana
Eine spirituelle Depression
Vipassana und die Erkenntnisstufen
Polgasduwa, Island Hermitage
Inselleben
Nyanavimala
„Sei der Raum, in dem die Welt tanzt!“
Abschied von Sri Lanka
Deutschland
Weiße Magie
Weiter geht’s
Hospiz in Wiesbaden
Kanada
Wolf und Adler
Das Indianerfest
Im Bauch der großen Mutter
Der mit dem Bären tanzt
Abschied und Aufbruch
Deutschland
Heiligenfeld
Rückblick
Zurück im Kloster Langenselbold
England
Der ‚falsche‘ Platz
Die letzten Tage als Mönch
Die ‚letzte‘ Reise …
Wie ging mein Leben weiter?
Danke
Bild- und Quellennachweise
Vorwort
Liebe Leserin, lieber Leser,
wir haben nur ein Leben, nämlich dieses – und es will gelebt werden – aber wie?
Als ich mir selbst diese Frage stellte, war ich Ende zwanzig, lebte in Berlin und hatte eine kleine Gartenbaufirma. Eigentlich war alles mehr als gut – im Außen.
Aber dann schlich sich auf einmal ein seltsames Gefühl der Ernüchterung in mein Leben, weil ich die immer wiederkehrende Veränderlichkeit aller Dinge erlebte. Damals wusste ich noch nicht, dass ich eine Grundwahrheit unserer Existenz entdeckt hatte, nämlich die, dass alles, was entsteht, auch wieder vergeht. Diese Erkenntnis ließ mich langsam, aber sicher an dem Wert der Dinge zweifeln, die ich bislang als erstrebenswert erachtet hatte.
Dann stellten sich mir Fragen wie: Um was geht es hier in diesem Leben wirklich? Wer bin ich eigentlich? Und was ist der Sinn dieses Lebens? – und ich konnte für mich keine zufriedenstellenden Antworten finden.
Aber eins wurde mir sehr schnell klar: Dass ich nicht so weitermachen konnte wie bisher, und ich machte mich auf den Weg …
Ich möchte dich, liebe Leserin, lieber Leser, an einem Teil dieses Weges teilhaben lassen, wohin er mich brachte, was ich erlebt habe, welche Erkenntnisse sich einstellten.
Vielleicht ermutigt es auch dich, deinen Weg zu gehen, dich nicht von Ängsten, Sorgen oder Zweifeln leiten zu lassen, sondern mit deiner eigenen Kraft, Freude und Weisheit in Berührung zu kommen, um am Ende deines Lebens sagen zu können: Ich habe mein Leben gut gelebt. Ich wünsche dir beim Lesen viel Freude und erkenntnisreiche Momente.
Mit guten Gedanken
Matthias Dhammavaro Jordan
Unterwegs
„Hey, Anna, was meinst du, was ist der Sinn des Lebens?“
„Du stellst Fragen!“, antwortete sie und blickte kurz zu mir herüber, während sie die letzten Gabeln voll Reis in ihren Mund schob. „Nein, jetzt mal ehrlich. Hast du dich das noch nie gefragt? Um was geht’s hier eigentlich wirklich? Jetzt sind wir schon zirka sechs Wochen in Asien unterwegs und ich frage mich, was wir hier eigentlich machen? Das war doch alles ganz schön anstrengend, oder?“ „Naja, klar war es anstrengend, aber es war doch auch schön – oder etwa nicht?“
Wenn ich jetzt nein gesagt oder es angezweifelt hätte, würde sie mir ihren leicht vorwurfsvollen Blick zuwerfen, und das wollte ich vermeiden. Darüber hinaus wollte ich ihr auch nicht das Gefühl geben, dass mir das alles keinen Spaß gemacht hätte. Natürlich machte es auch Spaß, herumzureisen. Aber irgendwie war ich so satt von alledem und hatte keine Lust mehr, irgendwohin zu reisen. Aber es schien so, dass sie keine weitere Antwort von mir erwartete, und sie machte sich jetzt über den süßen Nachtisch her.
Wir hatten eine sehr schöne Zeit am Lake Toba in Sumatra verbracht, reisten durch Indonesien, waren in Malaysia, aber zuvor waren wir in Thailand auf Koh Samui gewesen, wohin wir auch gerade wieder zurück wollten, um dort die letzten Wochen unserer gemeinsamen Reise am Strand zu verbringen, bevor Anna nach Japan fliegen wollte.
Wir hatten nämlich nach einer Dschungeltour in einem Gästehaus auf Sumatra einige junge Europäerinnen getroffen, die gerade von einem Arbeitsaufenthalt aus Japan zurückgekommen waren, und sie erzählten, wie viel Geld man dort mit verschiedensten Jobs verdienen könne.
Da Anna und ich noch keine genauen Pläne hatten, was als Nächstes anstehen würde, entschied sie sich, es mal in Japan zu probieren. Wir hatten Zeit, wir hatten Geld, aber das wurde jeden Tag weniger.
Wir besprachen ihr Vorhaben, besprachen alles, was daran hing, auch unsere Beziehung, und waren uns schließlich einig, dass sieben Monate ja keine Ewigkeit sind.
Ich würde wieder nach Berlin gehen, Garten- und Landschaftsbau machen, und dann würden wir uns im kommenden Winter wieder in Bangkok treffen. Uns verblieben jetzt noch gut drei gemeinsame Wochen in Asien.
Es war eine lange Zugfahrt zurück nach Thailand. In Surat Thani angekommen, erwischten wir noch die Nachtfähre nach Koh Samui, landeten dort morgens um sieben Uhr, nahmen ein Taxi und waren wieder am Chaweng Beach angekommen. Darüber waren wir sehr froh. Endlich ausspannen, keine überfüllten Busse mehr, keine billigen Hotels mit übergelaufenen Klos, kein frühes Aufstehen mehr, um irgendeinen Bus nach irgendwohin zu erwischen.
Anna und ich freuten uns auf ruhige Tage mit Sonne, Strand und Meer.
Aber es war wirklich so, dass ich mir viele Fragen über den Sinn und Zweck unserer Reisen stellte. Und diese Fragen weiteten sich auf alles Mögliche aus, bis ich schlussendlich zu der Frage kam: Was ist eigentlich der Sinn dieses Lebens, um was geht es hier wirklich?
Wir hatten auf unserer Reise auch viel Leid und Elend gesehen: kleine Kinder, die verwahrlost bettelten, alte und kranke Menschen, die auf der Straße lebten, gestresste, überarbeitete Rikscha-Fahrer, aggressive Jugendliche, die sich mit Messern bedrohten, und vieles mehr.
Anna schien an diesen Fragen kein gesteigertes Interesse zu haben, sondern genoss in ihrer Leichtigkeit unsere gemeinsame Reise.
Ernüchterung
Am Abend desselben Tages saß ich am Strand im warmen Sand, die Sonne war am Untergehen, der blaue Himmel von leichten Wolken betupft, ein wundervolles Farbenspiel, ganz leichte Wellen bewegten sich auf dem großen, weiten Meer und ich ließ meinen Blick am Horizont ruhen.
Ich fühlte eine Sattheit in mir, keine Sehnsucht nach neuen Ländern, keine Sehnsucht nach noch mehr Erfahrungen und Erlebnissen. Ich war irgendwie müde von dem ganzen Umherreisen der letzten Wochen, doch es war keine körperliche Müdigkeit.
Ja, ich weiß, unsere Freunde in Berlin beneideten uns dafür, dass wir die Zeit hatten, zu reisen und tolle Erlebnisse zu haben, ja, das mag alles sein. Aber da waren nur diese ständigen Erfahrungen, und ich hatte nichts gefunden, was mich wirklich begeistert oder gar erfüllt hätte.
Menschen sind überall ziemlich gleich, dachte ich mir, nur die Kulturen sind anders. Alle suchen sie ihr Glück auf den verschiedensten Wegen, alle wollen Unwohlsein vermeiden und ihr Wohlsein mehren – um es mal auf diese einfache Formel zu bringen.
Hatte nicht Laotse einmal gesagt: Der Weise verlässt nie sein Haus und kennt trotzdem die ganze Welt?!
Irgendwie beschlich mich schon länger dieses eigenartige Gefühl, dass es nirgends etwas zu finden gebe, was mir als ewiger Wert erhalten bleibt. Falls es so etwas tatsächlich gibt, dann hatte ich es noch nicht gefunden oder irgendwie übersehen. Auch die großen Wellen des Meeres kommen und bleiben nicht, und die kleinen schon gar nicht. Ja, irgendwie kommt und geht alles wieder. Und jetzt geht Anna auch noch nach Japan.
Ich erschrak bei dem Gedanken, oder besser bei dem Gefühl, dass ich da sogar eine seltsame Erleichterung spürte und ich mich auf eine Zeit mit mir alleine freute. Was war das denn? Sollte ich nicht traurig sein? Abschiedsschmerz fühlen? Nein, nichts davon war spürbar.
Ich mochte Anna sehr. Ob ich sie liebte? Was heißt das schon?
Das Wort Liebe habe ich noch nie gerne benutzt. Auch das Wort Glück hatte ich nicht in meinem Wortschatz. Diese beiden Worte hatten für mich immer etwas Verdächtiges. Vielleicht, weil ich hinter deren Bedeutung eine Art ewiges Verweilen erhoffte, was ich allerdings noch nicht erlebt hatte.
Ich glaube, ich habe noch nie gesagt: „Ich bin glücklich.“ Zu diesem Wort hatte ich schon immer ein gespaltenes Verhältnis; denn Glück ist für mich ein Gefühl, das sich nie ändern sollte, ein letztendlicher Zustand. Und ich hatte bislang noch keine letztendlichen Zustände erlebt. Das Gleiche empfand ich auch bei dem Wort Liebe.
Ich dachte an Berlin und fühlte keine Freude in mir aufsteigen, wieder dorthin zurückzugehen. Ja, die Freunde, mein Geschäft, mein Bruder Reinhold, der mittlerweile bei mir wohnte. Die Stammkneipen, diese ewig langen Nächte, das Saufen und Kiffen, das Spielen, das oft unsinnige Gerede und die ganzen Pläne und Vorhaben, die immer wieder zum Besten gegeben wurden. Ich fühlte dieses ewige Einerlei, war freudlos, desinteressiert, gelangweilt und widerwillig bei dem Gedanken, mein Leben in Berlin wieder aufzunehmen. Ich war wirklich satt. Mein Freund Burkhard sagte manchmal: „Es steht mir bis zur Oberkante Unterlippe“, und das traf es irgendwie.
Eines hatte ich jedoch auf diesen Reisen erkannt und schätzen gelernt: Wie wenig man zum Leben wirklich brauchte. Da war mein Rucksack, gefüllt nur mit den notwendigen Dingen des Alltags. Und es reichte vollkommen aus. Mehr brauchte es nicht.
Ein leichtes Lächeln fühlte ich auf meinem Gesicht und meine Lippen sprachen das Wort Freiheit. Ja, das war es, was ich wollte – Freiheit.
Ich wusste zwar nicht genau, was das war, aber es hörte sich gut an.
Dann rief Anna meinen Namen und ich schlenderte langsam zum Restaurant, das nur wenige Meter vom Strand entfernt stand. Wir wollten zusammen zu Abend essen und trafen Andy und Art wieder, mit denen wir uns schon Wochen vorher angefreundet hatten.
Eine Reise beginnt immer mit dem ersten Schritt …
Und während wir uns das Essen schmecken ließen, erzählte Andy, dass er in ein paar Tagen in ein Kloster gehen wolle, er sei schon mal dort gewesen und man könne meditieren lernen. Am Ersten jeden Monats beginne dort ein sogenannter Retreat, zehn Tage dauere er und koste sehr wenig.
In mir stockte plötzlich alles, auch mein Mund kaute das Essen nicht mehr weiter und eine sichere Stimme in mir sagte: Da musst du hin!!!
Aber ich hatte doch nur noch wenige Tage mit Anna, egal, ich musste da hin. Da ich irgendwie nicht an Zufälle glaubte, dachte ich, dass diese Nachricht die direkte Antwort auf meine Lebensfragen war, die ich seit neuestem immer wieder in meinen Gedanken entdeckte.
Andy wollte schon ein paar Tage vorher dort sein und reiste am nächsten Tag ab. Er hinterließ mir aber noch die genaue Wegbeschreibung, um in das buddhistische Kloster Wat Suan Mokkh zu gelangen. Ich erzählte das Garun, einem Thailänder, der meinte nur, ja, ein guter Ort, er kenne ihn und auch der Name des Klosters sei sehr bedeutungsvoll und heiße Garten der Befreiung.
Ja, das war es doch, das Wort Freiheit klang immer noch in mir und steckte in diesem Namen, und eine leise Freude machte sich in mir breit und bestätigte mir so die Richtigkeit dieser Entscheidung. Für Anna war es scheinbar okay.
Ich versicherte ihr, dass ich sie dann noch zum Flughafen nach Bangkok begleiten würde; denn wenn ich zurückkäme, hätten wir ja immer noch ein paar Tage zusammen.
In drei Tagen wollte ich los, denn der Kurs beginnt immer am Ersten jeden Monats.
An diesem letzten Abend saßen Anna und ich zusammen am Meer und unterhielten uns über dies und das, über die letzten Wochen, Japan und was alles vielleicht noch kommen würde.
Wir waren gut drauf, wie so oft in leichter Oberflächlichkeit, wo Gesagtes schnell wieder verklungen war, niemand mehr darüber nachdachte und sich neue Worte zu Sätzen formulierten, die auch gleich wieder, kaum ausgesprochen, in der Unendlichkeit verklangen, ohne irgendwelche Abdrücke zu hinterlassen.
Ich freute mich auf morgen und fühlte eine leise Erregung in mir aufsteigen. Meinen Rucksack packte ich schon am gleichen Abend, denn ich musste sehr früh los, um die erste Fähre nehmen zu können.
In dieser Nacht hatte ich einen sehr intensiven Traum: Ich liege auf einem Bett, und eine Hand kommt von irgendwo her, sticht durch meine Brust, greift in mein Herz und reißt einen Teil des Herzens heraus. Es fühlt sich überhaupt nicht schmerzhaft an, sondern ich spüre plötzlich eine große Befreiung und Leichtigkeit, denn es wurde etwas Schweres, Dunkles, Belastendes von meinem Herzen genommen und im Hintergrund sagt eine Stimme klar, deutlich, laut und eindringlich zu mir: „Erneuere dich!“
Der Wecker riss mich aus diesem Traum. Ich zog mich an, verabschiedete mich schnell, aber liebevoll von Anna, nahm meinen Rucksack, erreichte die Fähre pünktlich, der Bus nach Chaiya wartete schon auf dem Festland, und irgendwann sagte der Busfahrer: Wat Suan Mokkh.
Wat Suan Mokkh – Garten der Befreiung
Eine neue Welt eröffnet sich …
In dem Bus waren noch andere Farangs, wie die Westler in Thailand genannt werden, die ebenfalls an dem Retreat teilnehmen wollten.
Als ich das Kloster betrat, bemerkte ich die großen Bäume und wilden Pflanzen, einige einfache Holzhütten, gefegte Wege, weiter oben standen einige Steinbänke vor einem schlichten Steinhaus. Hier wurden wir von Mönchen weitergeleitet in Richtung Küche, wo man sich für den Retreat registrieren lassen konnte.
Als wir ankamen, saßen dort schon einige Teilnehmer mit Tassen in der Hand im Freien auf Holzstühlen und unterhielten sich leise. Dann sah ich das erste Mal einen Westler in einer buddhistischen Robe. Es war Santikaro, ein Amerikaner, der schon zwei Jahre in Suan Mokkh lebte und als Übersetzer für Ajahn1 Buddhadasa, den Abt des Klosters, tätig war. Er leitete auch die Retreats.
Santikaro war sachlich-freundlich, lächelte kaum und wenn doch, dann nur sehr flüchtig.
Er gab uns weitere Infos über die Registrierung, wo wir wohnen und wann es heute Abend losgehen würde.
Wir wurden, nach Geschlechtern getrennt, in kleinen Holzhütten untergebracht, die als Schlafsäle dienten, mit jeweils sechs einfachen Betten und darüber zusammengeknoteten Moskitonetzen. Die Halle, die uns als Ort der Unterweisung dienen sollte, wurde früher von Pfadfindern genutzt. Sie stand mitten auf einer großen Wiese, umrandet von Wald mit großen Bäumen, zirka fünf Minuten Fußweg von unserer Unterkunft entfernt.
Kurz vor 20 Uhr ertönte eine laute, tiefe Glocke, die anzeigte, dass es an der Zeit war, uns in die Halle zu begeben.
Zwei thailändische Mönche wiesen uns unsere Plätze zu. Jeder bekam eine Matte und ein Sitzkissen. Die Männer saßen auf der rechten Seite und die Frauen auf der linken. Vor uns war eine erhöhte Bühne, worauf eine zirka ein Meter hohe Buddha-Figur stand und vor der sich Santikaro im Schneidersitz niedersetzte. Der Raum wurde von Petroleumlampen erhellt und vor dem Buddha brannten noch ein paar Kerzen.
Wir waren ungefähr dreißig Teilnehmer, alle waren still, nur die Geräusche des Dschungels waren zu hören, es fühlte sich sehr ruhig und friedlich an.
Dann ertönte ein kleiner Gong und Santikaro erzählte, wie die nächsten Tage ablaufen würden: Retreat bedeute Rückzug vom Alltäglichen. Es gehe darum, sich selbst zu erforschen, die Kräfte in sich kennenzulernen, es gehe darum, den Geist durch Meditation in einen ruhigen Zustand zu bringen, die Gedanken zu beobachten und auch die Gefühle. Und das alles natürlich im Schweigen.
Schweigen? Also nicht reden? Auch nicht beim Essen oder bei einem Spaziergang?
Nein, Schweigen heißt Schweigen! Er erklärte, dass es den Geist dabei unterstütze, zur Ruhe zu kommen, die Gedanken zu beruhigen, denn Reden sei ja, genau genommen, verbalisiertes Denken.
Zum Abschluss leitete er eine Meditation an, in der wir einfach nur hier sein, uns mit dem Atem verbinden und bemerken sollten, wie er einströmt und wieder ausströmt.
Das war der Anfang, und als der Gong ertönte, gingen wir schweigend zu unseren Hütten und legten uns in die Betten. Ich war sehr müde, ließ mein Moskitonetz herunter und schlief sofort ein.
Der nächste Tag begann um vier Uhr morgens, eingeläutet von der gleichen lauten, dunkel klingenden Glocke, die uns schon am Abend zuvor zur Meditation gerufen hatte.
Um halb fünf waren alle in der Halle versammelt, und wir wurden wieder in der Meditation angeleitet. Nach vierzig Minuten ging wieder der Gong.
Santikaro erklärte noch ein paar organisatorische Abläufe und dann hatten wir Zeit, die Waschräume und Toiletten aufzusuchen, im Wald herumzulaufen, den Ort langsam kennenzulernen, denn Frühstück gab es erst um sieben Uhr. Das bestand aus Reis, verschiedenen thailändischen Gemüsesorten und Früchten, kein Fleisch. Das Essen war vegetarisch und zu trinken gab es Sojamilch in allen Variationen.
Wir nahmen unser Essen, serviert auf Blech- oder Plastiktellern, auf kleinen Holzstühlen sitzend im Freien ein. Es schmeckte richtig gut.
Es war sehr seltsam, mit dreißig Menschen zusammenzusitzen und nicht zu reden. Nicht nur ungewohnt, fast schon peinlich fühlte es sich zuweilen an.
Dann wieder die laute, dunkle Glocke, und um neun Uhr waren wieder alle in der Halle versammelt. Ich riskierte einen Blick auf die andere Seite der Halle, wo die Frauen saßen, und entdeckte sogleich einige, die recht attraktiv aussahen.
Andy saß auch in der Halle, etwas weiter vorne.
Santikaro nahm wieder vor dem Buddha Platz und hieß uns nochmals offiziell willkommen.
Er wünschte uns eine fruchtvolle und erkenntnisreiche Zeit und meinte, wir sollten das Beste aus dieser Zeit herausholen, denn es gehe auch darum, neu auf das Leben zu schauen und es dadurch vielleicht auch neu zu bewerten.
Was er da sagte, kam mir sehr entgegen. Sprach er nicht genau das an, was ich am Strand sitzend gefühlt hatte? Diese Sattheit und Unerfülltheit und auch die Ratlosigkeit, in welche Richtung ich gehen sollte?
Ich fühlte mich sehr wohl mit dem, was ich da hörte, und es gab keinen besseren Platz auf der ganzen Welt, wo ich in diesem Moment lieber gewesen wäre.
Dann leitete er wieder eine Meditation an und erklärte anschließend die Gehmeditation.
Das heiße, einfach nur zu gehen und sich sehr bewusst darüber zu sein, wie sich der Fuß hebt, nach vorne bewegt und wieder senkt. Und wir müssten nirgendwo ankommen, außer immer nur in diesem Moment. Alles klar, kein Problem, mach ich!
Dann lief ich hin und her, wie alle anderen auch, und dachte über alles Mögliche nach.
Was macht Anna eigentlich gerade? Meine Freunde in Berlin, ja und Reinhold, mein jüngerer Bruder, Mama und Papa in Fulda, gut, dass ich immer mal eine Postkarte schrieb. Michael, mein älterer Bruder, und seine Frau Uschi. Hoffentlich kommen genug Aufträge im Frühjahr rein … upps … Also, habe ich gerade den rechten oder linken Fuß oben? Der Fuß geht hoch, bewegt sich durch den Raum und setzt vorne wieder auf. Das war Gehmeditation. Gehen, ohne anzukommen, und zu wissen, dass man das tut, das sei Achtsamkeit, erläuterte Santikaro später.
Und die Aufmerksamkeit immer, so gut es halt geht, im Moment zu halten bei allem, was man gerade tut, sei ein Aspekt der Meditation.
Vom Gehen habe ich kaum etwas mitbekommen. Ich bemerkte im Nachhinein nur, wie viele Gedanken ständig in meinem Geist kreisten, dass ich ständig an etwas dachte und das Gehen gar nicht mitkriegte.
Dann wieder zurück in die Halle, schweigend, leise, achtsam sein, sich wieder in die Meditationshaltung begeben und ab jetzt die Aufmerksamkeit auf den Atem lenken, einatmen, ausatmen und spüren, wo ich den Atem gerade fühle.
Und so wurden wir in das Meditationssystem von Anapanasati eingeführt, was heißt, die Ein- und Ausatmung achtsam wahrzunehmen.
Mit diesen wechselnden Übungen verbrachten wir den ersten Tag, dazwischen eine Mittagspause, dann wurden Texte rezitiert, wieder meditiert, Abendessen, und am Abend gab es einen Vortrag.
Santikaro war, wie ich anfangs schon erwähnte, ein Schüler von Ajahn Buddhadasa, dem achtzigjährigen Abt des Klosters.
Er gründete dieses Kloster schon vor vielen Jahrzehnten, und später erfuhr ich, dass ich bei einem der bekanntesten und wohl auch einflussreichsten Meditationslehrer gelandet war, die es in Thailand gab. Er hatte den Buddhismus lange studiert und schließlich erkannt, dass der gelebte Buddhismus in Thailand stark vom Ursprünglichen abwich, und er wurde zu einer Art Reformator.
Ajahn Buddhadasa meinte, dass nichts geglaubt werden solle, sondern man müsse etwas selbst erforschen und erleben, um dessen praktischen Nutzen zu erfahren.
Er versuchte den Aberglauben abzuschaffen. Zum Beispiel opfern die Thais verschiedenen Hausgeistern kleine Speisen und glauben an alle möglichen Arten von Geistern, die überall seien und mit Opfergaben befriedet werden müssten. Sie sind davon überzeugt, dass Amulette eine beschützende und Glück bringende Kraft haben, und treffen keine wichtige Entscheidung, ohne zuvor irgendwelche Geister um Beistand gebeten zu haben.
Ajahn Buddhadasa lehnte das alles ab, denn das habe mit Buddhismus nichts zu tun. Er brachte den ursprünglichen Buddhismus wieder zurück in sein Land. Mir war das sehr sympathisch und machte mich noch neugieriger und interessierter. Nicht glauben müssen – ja, das war es, was ich brauchte. Ich hatte genug davon, etwas glauben zu müssen, denn ich bin ja katholisch erzogen worden und hatte von der Aufforderung: „Du musst glauben und gehorchen!“ wirklich die Nase voll.
Ajahn Buddhadasa hatten wir bis jetzt noch nicht zu Gesicht bekommen. Es war der amerikanische Mönch Santikaro, der Vorträge hielt, die Meditation leitete und uns praktische Hinweise gab.
Ja, das Schweigen hatte es in sich. Da saßen wir Teilnehmer nun schweigend zusammen in der Meditationshalle, liefen schweigend zu den Mahlzeiten nebeneinander her und schwiegen uns beim Essen an – und ich fühlte mich irgendwie alleine. Allein mit meinen Gedanken, meinen Gefühlen, meinen Meinungen, und es schien, als würde es in mir immer lauter werden.
Der Abendmeditation folgte dann ein Vortrag einer Thailänderin, die Ajahn Ranschuan hieß.
Sie war zirka sechzig Jahre alt und sprach sehr gutes Englisch. Sie lebte in Suan Mokkh, war Professorin in Bangkok gewesen, was erklärte, warum sie so gut Englisch sprach, und sie hatte eine sehr gesammelte, ruhige und klare Ausstrahlung.
Sie begann ihren Vortrag mit den Worten: „Meine lieben Freunde im Dhamma2.“
Und dann erlebte ich etwas, was ich sehr selten zuvor erlebte hatte. Ich bildete mir ein, dass sie über mich sprach, mich beschrieb, und mich beschlich das Gefühl, sie könne in mich hineinschauen.
„Mit unseren Gedanken sind wir immer woanders und denken meist an Vergangenes oder Zukünftiges. Unser Geist wird ständig von verschiedenen Kräften bewegt, die uns dazu bringen, Dinge zu tun oder nicht zu tun, die uns in die verschiedenen mentalen und emotionalen Zustände verleiten, so dass wir manchmal nicht wissen, was mit uns geschieht.“
Dann sprach sie über Gier, Hass und Verblendung und meinte, dass diese Kräfte ständig in uns aktiv seien und wenn wir das nicht erkennen würden, es uns schlecht gehe.
Ja, das konnte ich so unterschreiben.
Dann meinte sie noch, dass wir diese Kräfte kennenlernen müssten, damit sie nicht die Macht über uns haben, und dass hier die Meditation ins Spiel komme, denn Meditation heiße ja auch, seinen Geist mit etwas zu verbinden, was jetzt stattfinde, wie der Atem.
Als Nächstes sprach sie über Achtsamkeit. Es bedeute, sich, so gut es geht, darüber bewusst zu sein, was gerade geschieht. Also sich immer auf den gegenwärtigen Moment zu beziehen, um die Wirklichkeit so zu erfahren, wie sie tatsächlich ist, egal, was man gerade erlebte.
Und so wurden wir immer wieder angehalten, bei der Sitzmeditation den Atem zu spüren, den Körper zu fühlen, beim Essen wirklich das Essen zu sehen und zu schmecken und beim Gehen uns der sich bewegenden Füße bewusst zu sein.
Die Theorie dahinter war, dass Gedanken einen immer weniger in ihre Geschichte verstricken könnten, wenn man seine Aufmerksamkeit immer auf das lenkt, was gerade passiert und was man gerade tut, und so würde man auch seine Gedanken und Gefühle besser kennenlernen.
In einem Nebensatz sagte sie dann noch: „Achtsamkeit ist der Schlüssel zur Weisheit.“
Sie erläuterte das nicht weiter, aber in mir wurde auf einmal etwas tief berührt.
Ich fühlte mich angesprochen, war beeindruckt von dieser Frau und fühlte mich noch mehr an dem Platz auf der Welt, an dem ich sein sollte – und ich war hier!
Und ich fühlte eine Freude in mir aufsteigen, wie ich sie sehr selten gespürt hatte, wenn überhaupt schon mal. Ich fühlte mich, ja, so könnte man es sagen, irgendwie zuhause angekommen.
Es war ein langer Tag, und als ich dann im Bett lag und das Moskitonetz heruntergelassen hatte, schlief ich sofort ein.
Am nächsten Tag hatte ich Schmerzen in den Knien, hatte Schmerzen im Rücken, denn das lange Sitzen auf dem Boden war für die meisten von uns Westlern sehr ungewohnt. Aber es war noch einigermaßen erträglich, und die freundlichen und mitfühlenden Worte und Anleitungen, entweder von Santikaro oder Ajahn Ranschuan, halfen, einen anderen Blick auf diese Schmerzen zu werfen.
„Meine lieben Freunde im Dhamma, auch das geht vorbei. Lasst euren Geist dadurch nicht aus der Ruhe bringen …“ Ja zum ersten Teil und nein zum zweiten.
Ich ärgerte mich über den Schmerz, ärgerte mich über die langen Sitzzeiten, ärgerte mich über das Rascheln und Husten eines Nachbarn, ärgerte mich über … eigentlich alles an diesem Tag.
Ja, ich kannte diesen Ärger, er brannte, und ich merkte, wie der Ärger mir seine Gedanken aufzwang. Wie ich versucht war, meinen hüstelnden Nachbarn zurechtzuweisen, wie ich die Meditationshalle verlassen wollte, weil der Gong zu spät ging, ärgerte mich über das frühe Aufstehen, über das Essen, das Wetter – über alles.
Ich erschrak und fühlte mich hilflos, ich hätte laut aufschreien können, und es wurde immer stärker. Ich fing an, gedanklich die Mönche zu kritisieren, wie sie aussahen, was sie sagten, kritisierte andere Teilnehmer aufgrund meiner Ansichten, die ich über sie hatte – einfach alles.
Aber ich blieb sitzen und spürte einfach nur den Ärger, denn so lautete der Rat von Santikaro: „Egal, was im Geist geschieht, beobachte das einfach nur.“ Und ich beobachtete – immer mehr.
Ich dachte eigentlich bislang, ich sei ein freundlicher junger Mann – und jetzt das. Das sollte niemand mitbekommen, und ich hätte es am liebsten auch nicht mitbekommen. Aber es gab kein Entrinnen, keine Ablenkungen, kein TV, keinen Kühlschrank und nicht einmal ein zerstreuendes Schwätzchen, denn wir sollten ja schweigen. Niemand reagierte auf mich und ich reagierte nicht auf andere, nur gedanklich. Ich bekam keinerlei Rückmeldung über mich. Es fühlte sich plötzlich sehr einsam an und ich war, im wahrsten Sinne des Wortes, auf mich selbst zurückgeworfen.