Das fünfte Dorf

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Das fünfte Dorf
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Mathilde Schrumpf

Das fünfte Dorf

Copyright: © 2014 Mathilde Schrumpf

Verlag: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-8830-8

1

Es war still geworden im Haus von Fran und Len. Die Touristenherberge, die sie betrieben, ließ ihnen Zeit, sich Gedanken darüber zu machen, wie um alles in der Welt man das anstellen sollte: gemeinsam alt zu werden. Beide waren verheiratet, seit mehr als 25 Jahren. Fran war 50, doch fühlte sie sich alt. Wie die meisten Frauen war sie weder darauf vorbereitet, noch dazu bereit. Die zwei erwachsenen Söhne ließen sich im elterlichen Haus hoch oben in den katalanischen Pyrenäen höchstens ein, zwei Mal im Jahr blicken.

Mit den Jahren hatte sich eine gute Arbeitsteilung eingespielt zwischen Len und Fran: Ihr Mann organisierte das Geschäftliche des Hotels, sie kümmerte sich um die Küche und die Zimmer der Gäste. Meist kamen Westeuropäer oder Nordamerikaner, die sich für Künstler hielten und, einer langen Tradition folgend, in der Abgelegenheit jene Einsamkeit und Natürlichkeit suchten, von der es hieß, sie befördere Selbstfindung und Inspiration. Ihre Herberge war ein gut organisiertes Kleinunternehmen: Man verließ sich darauf, dass das Haus wie ein Geheimtipp unter Insidern von Gast zu Gast weiterempfohlen wurde. Beiden Gastgebern machte es Vergnügen, ihren Interessenten eine „Bewerbung“ abzufordern, die ihre künstlerische Befähigung belegte und Vorhaben schilderte, die sie für einen Aufenthalt in Frans und Lens Bergdörfchen empfahlen.

Fran hatte, seit sie sieben Jahre alt war, gekocht: Sie beherrschte alles, was mit der Zubereitung von Nahrung und leiblichem Genuss im Zusammenhang stand: das Aufspüren der besten Märkte, die Auswahl geeigneter Zutaten. Auch beim Feilschen um den Preis ließ sich die kleine, resolute Katalanin nicht die Butter vom Brot nehmen. Für die Einrichtung der Gästezimmer hatte sie ein gutes Händchen: Noch jedes Eckchen, jede Nische wusste sie mit einem Sträußchen, einem Geschirr, einer Schale voller Gewürze zu verzieren. Dennoch: Malen oder schreiben oder komponieren, tanzen, singen, wie es viele ihrer Besucher konnten – das konnte sie nicht.

Dann und wann quälte sie Len mit der immer gleichen Frage: Ob er ebenso wie sie darunter litte, dass jeder Fremde, der aus seinem Heimatland zu ihnen hinaus in die Berge, die Einöde gefunden hatte, ein Talent mitbrachte – nur sie beide seien eben komplett unbegabt? Len war klug genug, die Trauer, die in der Frage seiner Frau mitschwang, zu respektieren. Da er auf seine Weise Fran von ganzem Herzen liebte, unternahm er mit ihr Reisen in die europäischen Metropolen, Venedig, Paris, London, Berlin, wo sie wissensdurstig wie Kinder alles in sich aufsaugten, was es an Kunst, Architektur, Malerei zu besichtigen gab.

Auf einer dieser Reisen hatten sie beide Hilde kennen gelernt, an kalten deutschen Januarabenden vor zweieinhalb Jahren. Sie hatten sich mit Freunden bei einer Ausstellungseröffnung und einer Theaterpremiere getroffen, und Hilde fuhr mit einem alten verrosteten Fahrrad herum, was Fran zu spöttisch-ironischer Aufmunterung reizte. Hilde wiederum war erfreut, dass sie Lens und Frans Englisch, mochte es auch noch so kurios klingen, ganz ausgezeichnet verstand. Mit den beiden konnte sie sich sofort über die Inszenierung einer Jugendtheatergruppe und die Bilder eines jungen nervösen Malers unterhalten. Dann hatte Len sie in das pyrenäische Bergdorf eingeladen, und Hilde hatte diese Höflichkeitsgeste (denn nicht anders war sie gemeint) sofort wieder vergessen.

Dies alles war nun Jahre her. Vor einigen Wochen aber hatte Hilde beschlossen, dass sie ihre Dissertation schreiben würde, und da fiel es ihr ein, auf Lens Einladung zurückzukommen. Rasch gingen E-Mails hin und her, und schließlich machte sich Hilde auf den Weg zu den beiden in das Dörfchen hoch oben an der Grenze zu Andorra. Hilde hatte in der größten Buchhandlung ihrer Heimatstadt Autokarten studiert, um den Ort überhaupt zu finden, und siehe da, es gab ihn tatsächlich: Conocer.

Fran und Hilde waren von ihrer Wesensart her so verschieden, wie sie unterschiedlicher nicht hätten sein können. Ihre Treffen blieben zunächst auf die geselligen Zusammenkünfte aller Gäste am Abend beschränkt. Fran ging in diesen Stunden in ihrer Rolle als Gastgeberin und Haushaltsvorstand auf, und so schien sie die vorsichtigen Blicke Hildes in ihre Richtung nicht zu bemerken. Die ältere Katalanin mit den flinken geschickten Händen übte eine merkwürdige Anziehung auf die blonde Deutsche aus. Die eine bemühte sich um angeregte, witzige Konversation unter ihren Abendgästen. Die andere hatte sich tagsüber in sich selbst und ihre Phantasien zurückgezogen, um auf ihren langen Wanderungen durch die Berge nicht gänzlich allein zu sein. Heimlich aber bewunderte Hilde Fran in ihrem Element als plaudernde Salondame und Küchenvorstand.

Am Tag, als die Putzfrau kam, stellte Hilde fest: Was sie sofort Fran zugeschrieben hatte, war gar nicht deren Werk: Die Sauberkeit der Zimmer, die Arrangements all der schmückenden Kleinigkeiten, ja, nicht einmal der saubere Duft der Handtücher war auf sie zurückzuführen. Hilde war überrascht und erleichtert zugleich: Die angenehme Atmosphäre des ganzen Anwesens war keinen geheimnisvollen, besonders fürsorglichen Qualitäten der kleinen Katalanin zu verdanken, sondern dem Tätigsein einer älteren Frau aus dem Dorf, die so wenig Englisch sprach wie Hilde Spanisch oder Katalanisch! So konnte es ihr vielleicht noch gelingen, sich Frans Zauber, ihrer Bannkraft zu entziehen, die sie auch als bedrängend und einengend empfand.

Konnte sie denn wissen, wie Len oder Fran „wirklich“ waren? Hilde nahm sich vor, Len unvoreingenommen gegenüberzutreten. Sie musste versuchen, eifersüchtige und neidische Gedanken – er besaß Fran – beiseite zu lassen, dann konnte sie zugeben, dass er ein ganz passabler Gastgeber war: korrekt in den Anmeldungsformalitäten und Abrechnungen, freundlich und klar den Gästen gegenüber, loyal zu seinen Mitarbeitern.

Am Anfang ihres Aufenthalts hatte Hilde noch missbilligend vermerkt, dass Len ihr die Landkarten der Region, die im Touristenzentrum angeblich vorhanden waren, weder aushändigen noch erklären wollte. Später aber legte ihr Len anlässlich einer ganz anderen Nachfrage alle Karten, deren sorgsam gefaltetes Überformat vorsichtig aufblätternd, eine nach der anderen vor und kommentierte sie eingehend. Dicht neben ihm sitzend, streifte sie sein Atem, etwas verbraucht zur vorgerückten Stunde des Vormittags, aber keineswegs abstoßend.

Doch betrachtete sie Frans Mann argwöhnisch: Wie Fran hatte er die 50 gerade überschritten, sah aber mit seinen muskulösen gebräunten Beinen in den knapp knielangen Shorts und eleganten ledernen Sandalen interessant aus. Ja, er hätte ihr sogar gefallen können, mit seinem grau-schwarz melierten kurz geschnittenen Haar und der modischen Brille, mit seinen Scherzen, begleitet von lebhaften Gesten der Hände. Len war mittelgroß und bewegte sich leichtfüßig. Einziges Merkmal, das nicht zu seiner gepflegten Erscheinung zu passen schien, war eine erschreckend große Zahnlücke in der rechten oberen Zahnreihe.

Dieses deutliche Zeichen des Alterns, der Verlust eines Frontzahns, hatte nicht verhindert werden können. Woran mochte das wohl gelegen haben? Später begriff Hilde: In Frans Augen tat das Lens Attraktivität keinen Abbruch. Fran integrierte das störende Detail bruchlos in das Gesamtbild des „bad boys“, das sie sich von ihrem Mann gemacht hatte. Und wie Fran zu ihm stand, tat sie ebenfalls offenherzig kund: „I like the bad boys.“

Schließlich gab Hilde es auf, Len allzu eingehend zu mustern, denn der Anblick seiner gebräunten Hände mit den sauberen kurz geschnittenen Fingernägeln beschwor in ihrer Phantasie sofort Szenen einer Ehe herauf. Hilde schüttelte diese Vorstellung ab. „Mach dir eins klar“, sagte sie zu sich selbst, „Vieles von dem, was du an deinen Gastgebern wahrnimmst und was du von ihnen erhoffst, entspringt eigener Bedürftigkeit.“ Hildes Phantasie war es, die sie unwillkürlich in die Rolle des trotzigen Kindes fallen ließ: Versuchte sie hier, um jeden Preis zu erfahren, wie eng oder weit die Grenzen von Fran und Len gesteckt sein mochten?

Sie beschränkte sich fortan darauf, den beiden neidisch bei ihren gemeinsamen Tätigkeiten in der Öffentlichkeit zuzusehen, und wer das Paar in der Küche dabei beobachtete, wie es mit eingespielten Handgriffen das dreigängige Abendmenü für die unersättlichen Herbergsgäste zubereitete, musste einräumen: Hier hatte sich ein Zweierteam gesucht und gefunden, das sich perfekt zu ergänzen schien.

2

Len indessen kannte die erotisch motivierten Eskapaden Frans und hatte mit dieser Eigenart seiner Frau Frieden geschlossen. Mitunter versuchte er, Schlimmeres zu verhindern, doch hatten ihre zahllosen Affären ihn gelehrt, dass ihr Feuer hell aufloderte, bis es sich aus eigener Kraft verzehrte und rasch niederbrannte. Lens Erfahrung mit den Ausbruchsversuchen Frans aus dem Gewohnten meldete ihm sofort, wann sich eine neue Liaison anbahnte, und da Len begriffen hatte, wie er in diesen Angelegenheiten am besten verfuhr, ließ er den Dingen ihren Lauf.

Bei der Geschichte mit Hilde aber war er von Anfang an auf der Hut. Er vermutete, die nach Sinnlichkeit und Abwechslung dürstende Neugier Frans würde sie auch vor einer Liebesaffäre mit einer Frau nicht haltmachen lassen. Dieses Mal hatte er nicht davon ablassen können, durch eigenes Zutun – oder vielmehr Fortlassen – dem Schicksal ein wenig ins Handwerk zu pfuschen.

 

Hilde hatte, um sich für den Aufenthalt in der pyrenäischen Einsamkeit vorzustellen, ihrem Bewerbungsschreiben ein Foto beigelegt. Es zeigte ihr verrostetes Fahrrad, das sie im deutschen Alltag benutzte, an einer Backsteinmauer lehnend. Damit hatte sie unwillkürlich eine Vorliebe Frans getroffen: Fran behauptete nämlich, die ganz einfachen Dinge zu mögen, ohne Luxus, ohne Ornament. Das war, wie Len ebenfalls wusste, einer der Widersprüche, in die sich Fran manchmal verwickelte: Was sie zu mögen vorgab, war noch lange nicht das, was sie tatsächlich mochte und wertschätzte.

Ganz am Anfang ihrer Ehe hatte ihm dieser Widerspruch oft Kopfzerbrechen bereitet, fühlte er sich doch als Geizhals blamiert, wenn er Fran ein kleines Präsent mit brachte – ein Geschirr, ein Blumentöpfchen, ein Holzlöffelchen, wie es schlichter und praktischer nicht sein konnte. Es brauchte nur ein, zwei spitze Bemerkungen Frans, und Len hatte nach Erlebnissen dieser Art begriffen, dass zur Befriedigung des kräftigen Repräsentations- und Schmuckbedürfnisses seiner Frau andere Geschenke erforderlich waren.

Nachdem die Bewerberin aus dem fernen Deutschland also, ohne es zu wissen, eine bekundete Vorliebe Frans getroffen hatte mit ihrer simplen Fahrradfotografie, spürte Len den Impuls einzugreifen. „Dear Fran and Len“, hatte Hilde geschrieben, vermutend, dass sich die Frau mehr um ein persönliches Verhältnis zu den Gästen bemühen würde als der Mann. Da die Post in seinem Büro einging und von ihm geöffnet wurde, tat er das Naheliegendste: Er ließ Hildes gelben Briefumschlag mit seinem suspekten Inhalt zuunterst im Regal der Bewerberpost verschwinden und verabredete Details von Hildes Aufenthalt mit ihr per Mail.

Diese Ausflucht musste ihre Wirkung verfehlen, als beide Frauen sich trafen: Hilde erwähnte das Übersandte, und es stellte sich heraus, dass Fran keine Ahnung hatte, wovon die andere sprach. An Lens freundlich-harmlosem Gesicht war keine Regung abzulesen, als Fran ihn fragte, ob er nicht ein „little secret“ für sich behalten habe, Hildes Sendung, an sie beide, Fran und Len, adressiert. Hilde fragte sich, ob Lens Nachlässigkeit zwischen den Eheleuten später ernstere Auseinandersetzungen nach sich zog. Fran brachte die Angelegenheit jedenfalls in Hildes Beisein ihrem Mann gegenüber zur Sprache – ließ sich daraus schließen, dass sie es als verzeihliches Vergehen einstufte?

Mutmaßungen dieser Art spielten im Liebesleben der Eheleute keine Rolle. Was Fran und ihren Gatten in Anspruch nahm, war Sorge, wie Frans Suche nach Abwechslung in den Routinen ihres kleinen Wirkungskreises befriedigt werden konnte. Fran war mit den Jahren rastloser geworden. Sie spürte ihre Ruhelosigkeit und geriet von Zeit zu Zeit in depressive Verstimmung. Dabei wusste sie, dass sie Len Unrecht tat, wenn sie ihm die Schuld an der Sprunghaftigkeit ihrer Launen gab.

Furcht vor eigener Ratlosigkeit, vor dem unguten Gefühl, überflüssig zu sein für den Lauf der Welt, ließ Fran allergisch und abwehrend auf Hildes kleine Mutlosigkeiten reagieren, obwohl diese sich nur selten zeigten. Mit der Empfindlichkeit eines ängstlichen Kindes bemerkte Hilde eine Verstimmung bei Fran, lange bevor diese selbst ihrer gewahr wurde. Fran mochte es nicht, wenn die Jüngere sich ihr schwach oder verwirrt zeigte. Sie fauchte dann ungehalten „Come on, Hilde!“ in ihrem abgerissenen katalanischen Englisch, und Hilde musste sich nur ein-, zweimal Frans unwilliger Zurechtweisung ausgesetzt sehen, um zu beschließen, dass Fran sie nicht wieder schwach erleben sollte, wenn sie es verhindern konnte.

Gab sich Hilde jedoch unnahbar, gelassen und kühl – was sie oft nicht war – so veranlasste das Fran zu bissigen Bemerkungen über die Deutschen, die immer rational-kalkulierend wirkten im Vergleich zum lebhaften, redseligen Temperament der Katalanen. Es schien fast, als sei Hilde von Fran in ihrer Wesensart festgelegt, ohne zu deren Herzen vordringen zu können – einfach weil sie eine Deutsche war? Dies zu vermuten, verstärkte Hildes Befürchtung, es habe wenig Sinn, sich Mitmenschen allzu sehr zu öffnen, wenn diese nicht daran interessiert waren, ihre vorgefasste Meinung zu ändern. Ein alltäglicher, ungezwungener Umgang miteinander hätte diesem Umstand vielleicht abhelfen können. Doch dafür sahen sich Fran und Hilde im Verlauf der langen sonnigen Tage in Conocer einfach zu selten.

Fran war es nicht gewohnt, sich unbeachtet oder unbedeutend zu fühlen. Sie war die Lieblingstochter eines lebenslustigen, wenngleich strengen Vaters, der es sich nicht nehmen ließ, seine Jüngste zu verwöhnen, mit Aufmerksamkeit, Komplimenten und kleinen Liebesgaben. Fran war nie auf den Gedanken gekommen, die Welt könne ohne ihre Existenz ebenso gut ihrem Gang gehen.

Die Arbeitsteilung im kleinen Dorf brachte es mit sich, dass Fran ihrem Mann die Tätigkeiten überließ, die ihr selbst unangenehm waren. Und das war gut so, denn wenn Fran nur das tat, was sie tun mochte, stellte sich heraus: Die Geschäfte lagen bei Len und seinen mit Bedacht ausgewählten Mitarbeitern in guten Händen. Nichts geriet wirklich aus dem Gleis, wenn Fran sich den einen oder anderen Tag der Muße gönnte. Dass sie sich aus den täglichen Verrichtungen des Gasthauses dann und wann zurückzog, war allen bekannt. Doch niemand sprach es aus, als bestehe eine Weisung des Chefs, dass über diese Tatsache niemand reden durfte. Fran, die „Seele des Ganzen“, wie ein Gast einmal ein altertümliches Kompliment für die kleine Katalanin gedrechselt hatte – und überflüssig für den reibungslosen Betrieb des kleinen Unternehmens? Dies auszusprechen war Tabu. Die Liebe zu seiner Frau ließ Len an einer Version festhalten, die für das Selbstwertgefühl Frans lebensnotwendig war: Ohne ihr lebendiges Wesen, ihren Witz, ihren Charme, ihre in Provokationen und doppeldeutigen Bemerkungen sich selbst erneuernde Energie war die Herberge einfach ganz und gar undenkbar.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?