Der goldene Kürbis

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Der goldene Kürbis
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Inhaltsverzeichnis

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

Danksagung

Vollständige e-Book Ausgabe

© 2020 ISEGRIM VERLAG

in der Spielberg Verlag GmbH, Neumarkt

Covergestaltung: Ria Raven www.riaraven.de

Coverillustrationen: © shutterstock.com

Alle Rechte vorbehalten.

Vervielfältigung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

ISBN: 978-3-95452-831-8

www.isegrim-buecher.de

Für meine Schwester.

Danke, dass du immer an mich glaubst.

Dorothea Masal wurde 1991 in Osthessen geboren und ist gelernte Mediengestalterin Bild und Ton. Zurzeit absolviert sie ein Studium im Medienbereich. Sie hat schon als Kind gerne Geschichten geschrieben und liebt es, Welten zu erschaffen, in denen man alles um sich herum vergessen kann. Inspirationen dafür findet sie überall – ob in der Natur, beim Sport oder beim Zähneputzen.


KAPITEL 1

Es war dunkel. Der Himmel hatte sich zugezogen und nur einzelne Wolkenlücken gaben den Blick auf den Vollmond frei. Doch das Licht des Mondes reichte nicht aus, um die Straßen ausreichend zu beleuchten. Die Umgebung war in ein tiefes Schwarz gehüllt und schien alles zu verschlingen.

Automatisch griff Katie nach dem Reisverschluss ihrer Jacke und schloss ihn bis zum Hals. Ein Schauer lief ihr über den Rücken und sie fröstelte. Dabei hatte es in den letzten Stunden kaum abgekühlt und die Wärme des Tages lag immer noch spürbar in der Luft. Und doch schien es hier draußen auf einmal unnatürlich kalt zu sein.

Katie griff in ihre Jackentasche und zog eine kleine Taschenlampe hervor. Der helle Lichtkegel gab die Sicht auf die umliegenden Blumenbeete und Büsche frei und ihre Anspannung fiel etwas ab. Sie liebte die Dunkelheit, Vollmondnächte und auch Halloween. Aber alles zusammen ließ auch sie erschaudern. Schließlich war Halloween die Nacht, in der alles möglich war.

Einmal tief durchatmend ließ Katie das vertraute Haus ihrer Eltern hinter sich und ging mit eiligen Schritten die Straße entlang. Die Taschenlampe behielt sie fest in der Hand. Als sie sich den benachbarten Grundstücken näherte, verschwand die Dunkelheit etwas. Ausgehöhlte Kürbisse, Plastikskelette und Grabsteine ragten aus den Gärten und illuminierten die Straße in einem schaurigen Licht. Vereinzelt zogen Eltern mit ihren kostümierten Kindern durch die Straßen und warteten geduldig auf den Bürgersteigen, während ihre Sprösslinge mit dem traditionellen »Süßes oder Saures« - Spruch Naschereien bei den Anwohnern der Kleinstadt einforderten.

Der größte Ansturm war jedoch bereits vorbei. Katie bedauerte das. Sie hätte gerne mehr Zeugen bei ihrem Vorhaben gehabt. Aber das konnte sie jetzt nicht mehr ändern. Mit immer schnelleren Schritten lief sie weiter die Straße entlang und erreichte schließlich eine breite Kreuzung. Noch zwei Häuserblocks und sie würde die schützende Kleinstadt hinter sich lassen. Ihre Armbanduhr verriet, dass es schon fast halb acht war. Sie musste sich beeilen.

Ein letzter Blick zurück und Katie betrat eine dunkle Seitenstraße, die Richtung »Gruselvilla« führte. Anfangs hatte sie noch über diesen Namen gelacht. Aber als sie die verlassene und heruntergekommene Villa vor wenigen Tagen das erste Mal gesehen hatte, war sie fasziniert und erschrocken zugleich gewesen. Das Gebäude musste zu seinen Prachtzeiten bezaubernd ausgesehen haben. Schmale Säulen und ein langer Treppenaufstieg wurden von einem großen Garten und mehreren marmornen Statuen umzäunt. Es wirkte eher wie ein kleines Schloss als eine Villa, mit den Rundbogenfenstern, den hohen Mauern und dem großen Giebel auf der Nordseite. Sogar ein Turm ragte auf der vorderen Seite gen Himmel.

Doch die Glanzzeiten waren längst vorbei. Mittlerweile war die Villa stark heruntergekommen, Türen und Fenster vernagelt und das Dach mit klaffenden, dunklen Löchern versehen. Niemand wollte sich der Villa annehmen. Gerüchten zufolge hatte es mehrere Käufer gegeben, die die Villa gerne ihr Eigen genannt hätten. Doch keiner, der einmal einen Fuß hineingesetzt hatte, wollte sie noch ein zweites Mal betreten. Man sagte, es spuke in dem Haus.

Einige Bewohner schworen, Musik und Stimmengewirr von dort gehört zu haben. Von außen glich die Villa jedenfalls einer Geisterbahn vom Jahrmarkt. Nur, dass dort die Gespenster aus Pappmaché und das Gebäude TÜV geprüft waren.

Katie überkam ein erneuter Schauer. Bisher hatte sie die Gruselvilla nur bei Tageslicht gesehen. Der Gedanke, ihr bei Nacht zu begegnen, war alles andere als einladend. Sofort ermahnte sie sich. Wie sollte sie die bevorstehende Prüfung schaffen, wenn sie sich bereits auf dem Weg dorthin völlig verrückt machte?

»Nur weiter so, Katie. Jetzt redest du schon mit dir selbst!«

Was hatte sie sich da nur eingebrockt? Eigentlich sollte sie jetzt entspannt auf dem Weg zum Halloween-Ball ihrer neuen Schule sein. Eigentlich!

Vor zwei Wochen war sie mit ihren Eltern in diese kleine, verschlafene Stadt gezogen. Jeglicher Versuch den Umzug zu verhindern, hatte bei ihren Eltern keine Wirkung gezeigt. Der Möbellaster war gekommen und Katie hatte sich eingestehen müssen, dass sie den Kampf und ihr bisheriges Leben verloren hatte.

Den Umzug hatte sie mittlerweile weitestgehend akzeptiert, zumal die Leute hier sehr nett und hilfsbereit waren. Aber sie vermisste ihre alten Freunde und ihre ehemalige Schule. Es war schließlich nicht gerade vorteilhaft, mitten im laufenden Halbjahr die Schule zu wechseln und damit die einzig neue Mitschülerin zu sein. Da war lästiges Tuscheln und Gaffen der anderen vorprogrammiert. Der Halloween-Ball der Schule bot daher die perfekte Gelegenheit, schnellstmöglich neue Leute kennenzulernen und Anschluss zu finden. Doch genau zu diesem würde sie nun zu spät kommen.

Nervös lief Katie weiter den schmalen Weg zwischen den Häusern entlang. Umdrehen kam nicht in Frage. Genau das hofften die anderen und dann würde sie die restliche Schulzeit damit aufgezogen werden.

»Kneifen ist nicht.«

Sie bog um eine weitere Straßenecke und befand sich direkt am Waldrand hinter der Kleinstadt. Die hohen, dunklen Bäume wiegten sich leicht im Abendwind und warfen dabei unheimlich tanzende Schatten auf den Boden. Perfekt für eine kinoreife Mordszene, schoss es Katie durch den Kopf. Eine plötzliche Wolkenlücke ließ das helle Mondlicht an etlichen Stellen durch das dichte Blätterdach fallen und tauchte die Szenerie in ein mystisches Lichtspiel. Was zuvor noch ansatzweise friedlich gewirkt hatte, verwandelte sich nun in einen verfluchten Geisterwald. Katie stöhnte auf. Na klasse! Eine solche Atmosphäre hatte ihr gerade noch gefehlt. Sofort ergriff ihre Fantasie die Oberhand und sie glaubte hinter jedem Baum ein Schattenwesen zu erkennen. Ihr Atem beschleunigte sich und Katie konnte nicht anders, als reglos wie ein verängstigtes Reh dazustehen und die Umgebung zu beobachten. Mit aller Kraft versuchte sie ihre Fantasie zu unterdrücken und einen möglichst ruhigen Kopf zu bewahren.

Rechts neben ihr knackte es. Nur der Wind, beruhigte sie sich. Dann huschte ein Schatten durch ihren Lichtkegel. Nur ein aufgeschrecktes Tier.

Hätte sie gestern Abend bloß nicht diesen Horrorfilm geschaut, bei dem eine Gruppe ahnungsloser Teenager einen Nachtspaziergang im Wald unternahm. Die meisten Szenen waren völlig übertrieben gewesen und für ihren Geschmack absolut unrealistisch dargestellt worden. Man hätte den Film lieber unter dem Genre »Komödie« laufen lassen sollen. Doch jetzt, hier so allein im Dunklen, wirkte die Story auf einmal sehr realistisch.

 

Aus der Ferne ertönte ein dumpfes Geräusch. Katie zuckte zusammen. Es war so leise, dass sie zuerst glaubte, es sich nur eingebildet zu haben. Sie horchte genauer. Da, ein erneuter Laut.

Eindeutig ein klägliches Jaulen. Und viel näher als noch vor wenigen Sekunden.

Wölfe!

Katie gefror das Blut in den Adern. Ihr Herz raste in Highspeed-Geschwindigkeit. Sie warf einen panischen Blick über die Schulter und lauschte angestrengt in die Nacht hinein. Das Jaulen war so schnell verschwunden, wie es gekommen war. Aber das hieß nicht, dass sich nicht irgendetwas unmittelbar in ihrer Nähe befand.

Flach atmend verweilte Katie in ihrer Position. Es rührte sich nichts.

Typisch!

Es spielte mit seiner Beute – ihr.

Aber auch nach zwei weiteren Minuten ertönte das Geräusch nicht noch einmal. Katie war das nur recht. Sie glaubte zwar nicht an Märchen und Fabelwesen, hatte aber auch keine Lust, heute vom Gegenteil überzeugt zu werden.

Schnell rief sie sich den eigentlichen Grund für ihren nächtlichen Ausflug wieder in den Kopf. Es konnte nicht mehr weit bis zur Gruselvilla sein.

Mit zügigen Schritten lief sie weiter. Nicht aber ohne sich immer wieder unbehaglich umzuschauen. Je näher sie ihrem Ziel kam, desto mehr fremdartige Geräusche schien sie in der verlassenen Umgebung zu hören. Da waren der unnatürlich laute Ruf eines Uhus, unheimlich raschelnde Blätter und … eine Art Schleifen.

Das war eben aber noch nicht da gewesen!

Ihre Nackenhaare sträubten sich. Gerne hätte sich Katie umgedreht und nachgesehen, was hinter ihr lauerte. Doch dazu kam sie nicht.

Ein riesiger Schatten tauchte vor ihr auf. Lautes Rascheln und Scharren ertönte und Katie machte einen erschrockenen Satz nach hinten. Das war jedoch ein großer Fehler.

Etwas Kaltes, Knöchernes umklammerte ihren Fuß. Sie schrie auf und versuchte ihren Knöchel zu befreien. Dieser löste sich aber nicht mehr aus dem eisernen Griff. Unerbittlich schnitt die kalte Hand in ihr Fleisch und verursachte einen brennenden Schmerz in ihrem Bein.

Panisch trat Katie mit dem freien Fuß nach dem Angreifer und verlor dabei ihre Taschenlampe. Mist! Warum hatte sie nicht besser aufgepasst? Mit der Lampe hätte sie sich wenigstens verteidigen können. Nun war sie unbewaffnet.

Lichter in grellen Farben flammten auf und ein Heulen ertönte, das ihr durch Mark und Bein ging.

Werwölfe!

Geblendet riss sie die Arme nach oben. Mit letzter Kraft zerrte sie an ihrem Fuß. Jeden Moment würde sich das Monster auf sie stürzen und zubeißen.

Aber nichts geschah. Warum greift es nicht an? Erneut ruckte sie an ihrem Bein. Vergebens. Warum fluoresziert sein Fell so komisch? Davon habe ich noch nie etwas in Fantasyromanen gelesen.

Ein hämisches Lachen mischte sich unter das Scharren. Sofort wusste Katie, dass vor ihr weder ein Werwolf noch sonst irgendein Angreifer oder Fabelwesen stand. Leider, wie sie sich bedauernd eingestehen musste. Denn das wäre ihr jetzt gerade deutlich lieber gewesen.

Sie stoppte ihre Befreiungsversuche und öffnete genervt die Augen. Vor ihr standen ihre drei neusten Erzfeindinnen. Zu allem Überfluss erkannte Katie nun auch, dass ihr Fuß nicht wie vermutet von einer eiskalten Knochenhand festgehalten wurde, sondern sich lediglich in einem großen Ast verkeilt hatte. Problemlos löste sie sich daraus und griff nach ihrer Taschenlampe, die direkt neben ihr auf dem Boden gelandet war. Na prima. Wieso hatte sie sich so schnell ins Bockshorn jagen lassen?! Dummer Film! Sie ärgerte sich über ihren Anflug von Angst, wollte sich aber definitiv keine Blöße geben und wandte sich so gelassen wie möglich den anderen zu.

Am Waldrand standen ihr drei kichernde, kostümierte Gestalten gegenüber, die mit großen Taschenlampen und Leuchtbändern ausgestattet waren.

»Du bist ja ganz schön schreckhaft, Williams!«, rief eines der drei Mädchen schnippisch, als Katie in den Schein ihrer Lampen trat. Es war Gina. »Hast du nicht neulich noch behauptet, du hättest vor nichts und niemandem Angst?«

»Das hast DU behauptet.«

Das hochgeschossene, blonde Mädchen schaute herablassend und musterte sie abwertend von oben bis unten. Sie war einen halben Kopf größer als Katie, was unter anderem daran lag, dass sie stets ihr Kinn hochnäsig nach oben reckte und mindestens 10-cm-Absätze trug. Katie wurde wieder einmal bewusst, wie unterschiedlich sie beide doch waren. Ihr eigenes schulterlanges, braunes Haar schien im Gegensatz zu Ginas gewelltem, blondem Schopf eher wild und struppig. Doch obwohl sie beide erst sechzehn Jahre alt waren, wirkte Gina durch ihre Outfits eher wie eine Studentin als eine Schülerin.

Verwirrt schaute sie auf Katies Kleidung. »Wir wollen gleich zum Halloween-Ball und nicht die neue ›Altkleider-Kollektion‹ für den Secondhandshop vorführen. Was bitte willst du darstellen?«

Katie biss vor Empörung die Zähne aufeinander. Bloß nicht reizen lassen. Genau das wollte Gina erreichen.

»Ich bin eine Schattenjägerin«, entgegnete sie daher so neutral wie möglich.

Ginas gezupfte Augenbraue fuhr fragend nach oben. Ihre zwei Freundinnen hatten mittlerweile aufgehört zu lachen und schauten nun ebenfalls neugierig auf ihr Halloweenkostüm.

»Schon mal was von Monstern und Dämonen gehört?!«

Katie konnte sich kaum vorstellen, dass jemand nicht von dem aktuellen Hype über Schattenund Dämonenjäger gehört hatte. Es war DAS verkaufsschlagende Thema zurzeit, das sich durch diverse Bücher, Filme, Serien oder Computerspiele zog. Jeder wollte ein Teil der auserwählten Gemeinschaft von jungen Soldaten sein, die mit besonderen Fähigkeiten oder Waffen ausgestattet waren und zur Lebensaufgabe hatten, Monster, Dämonen und bösartige Kreaturen zu bekämpfen, um den Frieden der Menschheit zu verteidigen. Solche Welten, Geschichten und Ableger waren unter den Jugendlichen in ihrer Schule gerade sehr beliebt.

Selbst Gina, die sonst eher nichts mit tagesaktuellen Geschehnissen außerhalb der Modewelt zu tun haben wollte, warf jetzt einen genaueren Blick auf das Outfit. Automatisch strafften sich Katies Schultern und der sanfte Druck ihrer großen Schwerter, die sie an ihrem Rücken befestigt hatte, verstärkte sich. Zwar waren die Waffen nur aus Plastik, aber was war an Monstern und Gestalten zu Halloween schon echt? Die schwarze Lederjacke, das dunkle Top, die Jeans und ihre schwarzen Lederstiefel, die im schimmernden Mondlicht glänzten, rundeten das Outfit ab. Am Gürtel prangte eine große, silberne Schnalle. Eine perfekte Kampfmontur gegen alle bösartigen Kreaturen. Katies größter Stolz war der echte Dolch in ihrem rechten Stiefelschacht. Den hatte sie sich nach viel Überzeugungsarbeit von ihrem Vater ausleihen dürfen.

»Naja, vielleicht erkennt man es beim zweiten Hinsehen. Außerdem ist das doch voll der Fantasy-Mist!«, entgegnete Gina überheblich.

Erst jetzt warf Katie einen Blick auf die Kostüme der anderen. Gina hatte sich als Märchenprinzessin verkleidet, so wie sie es schon die ganze letzte Woche in der Schule herumposaunt hatte. Allerdings trug sie für Katies Geschmack an einigen Stellen etwas zu wenig Stoff, um eine »brave« Märchenprinzessin zu verkörpern. Conny und Trish, ihre zwei Busenfreundinnen, waren als Zofen verkleidet. Wie passend!

»Wir sind nicht zum Reden hier«, bemerkte Katie kühl.

»Du kannst es wohl kaum erwarten, ein … wie sagt man das, wo du herkommst … Abenteuer zu erleben?«

»Bei uns würde man das Erpressung nennen.«

»Ach? Schiss? Wenn du kneifen willst, sag‘s gleich, dann können wir uns deine Heulanfälle sparen und direkt zur Party gehen. Dass du kneifst, wäre der ideale Gesprächsstoff für so eine Feier.«

Katie spürte, wie ihr Gesicht vor Wut zu glühen anfing. Zum Glück war es so dunkel, dass Gina und die anderen das nicht bemerkten. Langsam löste sie ihre zusammengeballten Fäuste, setzte ein entschlossenes Gesicht auf und nahm ihre Taschenlampe wieder in die rechte Hand.

»Na dann. Nicht, dass ihr noch zu spät zur Party kommt. Und übrigens: Sucht euch besser schon einmal neuen Gesprächsstoff.« Mit diesen Worten marschierte Katie an den drei Mädchen vorbei. Sie spürte die überraschten Blicke in ihrem Rücken und genoss es – zumindest für einen kurzen Moment.

Schon nach wenigen Schritten gelangte sie an ein großes, verrostetes, windschiefes Gartentor. Die dahinterliegende Villa war im Dunkeln nur zu erahnen. Katie hoffte innständig, das Tor wäre abgeschlossen oder über die Jahre so sehr verrostet, dass es sich nicht ohne größeren Aufwand öffnen ließ. Darüber zu klettern war eine aussichtslose Option. Der Zaun war gute zwei Meter hoch und besaß in regelmäßigen Abständen pfeilartige Spitzen, die wenig einladend wirkten.

Doch als Katie vorsichtig ihre Hand auf das Metallschloss legte und leicht ihr Gewicht dagegen drückte, ließ sich das Gartentor problemlos öffnen. Nicht einmal ein Quietschen war zu hören. Es schien fast so, als wollte die Villa, dass sich jemand ihr näherte.

»Das ist ja mal wieder super, wie viel Glück ich doch habe«, murmelte Katie mit zusammengebissenen Zähnen. Nur widerwillig betrat sie den fast völlig zugewucherten Pfad, der zur Villa führte. Tagsüber hatte sie versucht sich den Weg von außen so gut es ging einzuprägen, damit sie das Gebäude möglichst schnell erreichte. Sie wollte keine Sekunde länger hier bleiben als nötig. Das war allerdings einfacher gesagt als getan. Außer schemenhaften Umrissen in unmittelbarer Nähe war von dem weitläufigen Grundstück kaum etwas zu erkennen. Einzig die kleinen Leuchtaccessoires von Gina und ihrer Clique gaben einen klaren Orientierungspunkt und wirkten auf einmal unglaublich einladend. Katie wischte diesen Gedanken beiseite. Sie hatte ja schließlich noch ihre eigene Taschenlampe. Eilig schaltete sie diese ein. Sofort erhellte sich ein Teil des zugewucherten Weges und beruhigte ihre angespannten Nerven ein wenig. So vorsichtig wie möglich setzte sie nun einen Fuß vor den anderen. Der Lichtkegel der Taschenlampe zeigte zwar das Gras und Gestrüpp, auf das ihre Stiefel traten, aber ließ nur erahnen, was sich darunter befand.

Ein heißerer Schrei ertönte. Katie zuckte zusammen. Sie richtete die Taschenlampe nach oben. Schemenhaft tauchten die umliegenden Bäume auf und bewegten sich im Schein unruhig hin und her. Hatte sich da nicht gerade etwas gerührt? Katie hatte das merkwürdige Gefühl, beobachtet zu werden. Die Taschenlampe zitterte unkontrolliert in ihrer Hand, was die Bäume im zuckenden Lichtkegel noch gespenstischer erscheinen ließ. Selbst wenn etwas Gefährliches dort lauerte, sie hätte es nicht erkannt.

Wie sollte sie es bis zur Villa schaffen, wenn sie sich jetzt schon völlig verrückt machte? Genau für diesen Fall hatte Katie ihren MP3-Player eingesteckt. Er sollte sie in unheimlichen Situationen mit ihrer Lieblingsmusik beruhigen und vor allem ablenken. Nur leider dachte Katie genau jetzt am allerwenigsten daran, Musik zu hören. Ihre Nackenhaare sträubten sich und sie spürte, wie ihre Muskeln sich schmerzhaft verkrampften. Ganz ruhig. Automatisch ging sie tiefer in die Knie. Das war, so hoffte sie, die perfekte Ausgangsposition für den Fall, dass ein Angreifer sie überraschte und sie sich verteidigen oder fliehen musste.

Noch langsamer als zuvor ging sie weiter, immer die Schatten im Auge behaltend. Alles blieb ruhig. Zu ruhig.

Nach einer gefühlten Ewigkeit tauchte endlich die Fassade der Villa auf. Jetzt nur noch irgendwie in das Gebäude kommen.

Gina hatte darauf bestanden, dass Katie in die Villa einstieg und durch eines der Fenster mit ihrer Taschenlampe ein Lichtsignal gab. Das war der Beweis dafür, dass sie die Mutprobe bestanden hatte.

Katie war bei dem Gedanken, IN die Villa zu müssen, überhaupt nicht wohl. Sie überlegte kurz, einfach von außerhalb des Gebäudes das Lichtsignal zu senden. Aber wie sie ihr Glück kannte, würde das nach hinten losgehen. Sobald sie mit der Taschenlampe wedelte und das vereinbarte Zeichen sendete, würde die Wolkendecke aufreißen und der Vollmond ihren wahren Standort preisgeben. Der Versuch zu schummeln war zu riskant. Sie wollte nicht gleich nach ihrer zweiten Schulwoche als Feigling abgestempelt werden. Also blieb nur die Flucht nach vorne.

Zögerlich setzte Katie einen Fuß auf die verwitterten Steinstufen der Eingangstreppe. Von Nahem sah das Gebäude noch unheimlicher aus. Türen und Fenster bildeten klaffende, dunkle Löcher, die gierig auf sie hinabsahen und nur darauf warteten, abenteuerlustige Dummköpfe in ihr Verderben zu stürzen. Allein die zersprungenen Steinplatten hinauf zur Veranda wirkten alles andere als vertrauenserweckend. Nur weil die erste Stufe ihrem Gewicht standhielt, hieß das nicht, dass das auch die zweite tat.

 

Katies Blick wanderte zu einem alten, morschen Schild, das scheinbar vor Langem am Geländer angebracht worden war. »Betreten verboten, Lebensgefahr!«. Es wird ja immer besser!

So leichtfüßig wie möglich erklomm sie die restliche Treppe, griff mit ihrer freien Hand nach dem verrosteten Türknauf an der großen Holztür und drehte ihn. Nichts. Sie rüttelte fester, aber auch das erzielte keine Wirkung.

»Wirklich?! Das Gartentor ist offen, aber du nicht?!«

Was jetzt? Sie war zu weit gekommen, um einfach wieder umzudrehen und zurück zur Clique zu gehen. Zumal die Aussage, dass die Tür verschlossen und kein Reinkommen in die Villa möglich war, mit Sicherheit auf wenig Verständnis stoßen würde. Es musste einen anderen Weg geben. Einbrecher gaben schließlich auch nicht vor verschlossenen Türen auf. Da gab es doch noch die Alternative mit dem Fenster …

Langsam ließ Katie ihre Taschenlampe an der Hausfassade entlangwandern. Efeu hatte sich über die Jahre am Mauerwerk breit gemacht und umgab nun einen Großteil des Gemäuers. Einige Meter entfernt hatte sie Glück. An der rechten Hausseite befand sich ein mit Brettern vernageltes Fenster, dessen Scheibe eingeschlagen war. Eilig sprang Katie die steinerne Treppe hinunter und riss mit voller Kraft am untersten Holz. Es knarzte, die Verkleidung gab nach, die Bretter brachen auseinander und eine dunkle Öffnung tat sich auf.

Plötzlich schoss ihr etwas Weißes entgegen. Mit voller Wucht schlug es Katie ins Gesicht. Schützend riss sie die Arme nach oben und versuchte sich zu befreien. Ihre Finger bekamen etwas Stoffartiges zu fassen. Sofort kam ihr das weiße Kleid eines Gespenstes in den Sinn. Instinktiv trat sie einen Schritt zurück. Etwas Hartes stach in ihr Bein. Wild mit den Armen rudernd versuchte Katie ihr Gleichgewicht zu halten und einen schmerzhaften Fall zu verhindern. Erst in letzter Sekunde konnte sie sich aus den Fängen des Unwesens befreien, sich an den Zweigen eines Busches festhalten und damit ihren Sturz stoppen. Sogleich griff der Stoff ein zweites Mal an. Erst jetzt erkannte Katie den Angreifer. Ein mottenzerfressener Vorhang wurde von einer Windböe durch das Fenster hinausgeweht. Mit zitternden Händen griff sie danach. Definitiv keine Horrorfilme mehr!

Verärgert hängte sie den Stoff seitlich an einen verbogenen Nagel am Fenstersims. Unfassbar, dass sie sich schon zum zweiten Mal in etwas hineingesteigert hatte, das in Wirklichkeit völlig harmlos war. Diese Wette setzte ihr scheinbar mehr zu, als sie erwartet hatte.

Ihr gesamter Körper sträubte sich, als sie sich erneut der Öffnung näherte. Dieses Mal jedoch blieb eine unerwünschte Überraschung aus. Zum Glück!

Viel konnte man allerdings im Inneren nicht ausmachen. Das fluoreszierende Display ihrer Armbanduhr leuchtete grün auf.

19:56 Uhr.

Wenn sie noch ansatzweise pünktlich zum Halloween-Ball kommen wollten, musste sie endlich durch das Fenster steigen.

Ein Knacken dicht hinter Katie nahm ihr die Entscheidung ab. Eilig drückte Katie die Gardine komplett zur Seite, griff nach der Fensterbank und zog sich daran hinauf. Mit Schwung setzten ihre Beine über den Sims und landeten in einem stockdunklen Raum. Sofort ließ Katie die Taschenlampe hektisch umherwandern. Ein Ende des weiten Raums war nicht auszumachen. Es musste sich um einen riesigen Saal handeln. Ein alter Kronleuchter, der an der Decke hing, begann im Schein des Lampenlichts wie eine Diskokugel zu reflektieren. Jetzt erkannte Katie mehr Einzelheiten. An den langen Wänden standen in weiße Tücher gehüllte Tische und Stühle, so als ob der Besitzer der Villa jeden Moment zurückkehrte, um hier einen Ball zu veranstalten. Doch die dicke Staubschicht und die zahllosen Spinnweben überall ließen Katie daran zweifeln. Sachte wurden die hellen Laken von einem Luftzug erfasst und bewegten sich geisterhaft. Einfach schnell das Licht durch das nächstbeste Fenster leuchten und nichts wie weg.

Dazu musste Katie allerdings erst einmal ein ganzes Stück im Raum weitergehen. Weil sie durch das zerbrochene Fenster eingestiegen war, hatte sie sich zu weit vom Blickfeld des Gartenzauns entfernt. So würden Gina und ihre Clique das Licht niemals von außen sehen. Also blieb Katie nichts anderes übrig, als den Raum zu durchqueren.

Leise und stets darauf bedacht, so wenig Geräusche wie möglich zu machen, schlich sie dicht an der Wand entlang zu den nächstgelegenen Fenstern. Ihr Atem ging nur noch flach, um jedes mögliche Geräusch in der Umgebung besser wahrnehmen zu können. Auch wenn sich wahrscheinlich keine weiteren Menschen in diesem Raum befanden, so konnten doch Tiere hier Unterschlupf gefunden haben und sich durch ihre plötzliche Anwesenheit bedroht fühlen. Außerdem hatte sie keine Lust Geister aufzuwecken. Man wusste ja nie.

Nur noch wenige Schritte trennten Katie vom nächsten Fenster. In der Ferne ertönten leise Glockenschläge des alten Kirchturms der Kleinstadt.

20:00 Uhr.

Die Halloween-Party in der Schule begann.

Katie blickte erleichtert auf die milchige Scheibe vor sich, die nicht mal mehr einen Meter von ihr entfernt war. Gleich hatte sie es geschafft.

Plötzlich nahm sie ein Geräusch wahr: ein leises Summen direkt hinter ihr. Schlagartig erstarrte Katie. Zuerst war es so leise gewesen, dass sie dachte, das rauschende Blut in ihren Ohren spiele ihr einen Streich. Doch allmählich wurde das Summen lauter und der Raum begann in einem schwachen, bläulichen Licht zu leuchten. Katies Gesicht war starr auf das rettende Fenster gerichtet, das unmittelbar vor ihr lag. Sie wollte losrennen und fliehen, Hilfe rufen oder sich zumindest verteidigen. Doch ihre Beine versagten den Dienst. Sie schaffte es nicht einmal mehr, sich umzudrehen. Aber das war auch nicht nötig. Durch die Spiegelung in der Glasscheibe vor sich hatte sie einen perfekten Blick auf das Rauminnere und was sie sah, war alles andere als beruhigend.

Ein immer heller werdender Lichtball begann in der Mitte des Raums zu glühen. Bedrohlich pulsierten seine Lichtkreise und das Summen begann in Katies Ohren zu schmerzen. Wie in Trance konnte sie von Weitem die letzten Schläge der Kirchturmuhr hören. Angestrengt zählte sie jeden einzelnen Schlag mit und versuchte ihr rasendes Herz dadurch zumindest etwas unter Kontrolle zu bekommen. Das Brummen wurde immer lauter und brachte ihren Kopf zum Schmerzen. Ein Gefühl der Benommenheit machte sich in ihr breit.

Vier, Fünf, … Was um alles in der Welt passiert hier?

Sechs, Sieben, … Renn!

Mit dem achten Schlag explodierte der Raum. Katie wurde zu Boden geworfen. Schützend warf sie die Arme über den Kopf. Eine Druckwelle durchstob den Saal, traf ihren Körper und presste ihr erbarmungslos die Luft aus der Lunge. Verzweifelt rang sie nach Atem, aber ihr Gehirn schien keinen Sauerstoff mehr aufzunehmen. Ihre Wahrnehmung begann zu schwinden. Dann hörte und sah sie nichts mehr.