Wünsch dich ins Wunder-Weihnachtsland Band 10

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Sein schönstes Weihnachtsgeschenk

Der stahlgraue Himmel drückte wie eine schwere Decke auf die Stadt. Er hörte die Glocken der St.-Annen-Kirche zum Gottesdienst läuten. Jeder Glockenschlag erinnerte ihn: Er würde zu spät kommen.

Katharina würde vor Wut schäumen. Ganz gleich, ob er das Geschenk, das sie sich sehnlichst wünschte, in der Tasche seines Mantels trug. Der Ring mit dem blauen Stein, einem richtigen Klunker, hatte ihn nicht nur ein kleines Vermögen gekostet. Aber Katharina war eine Frau, die Geschenke dieser Art erwartete. Schließlich feierten sie bereits das dritte Weihnachtsfest zusammen.

Aus einer Laune heraus – welcher Teufel ihn dabei geritten hatte, war ihm bis heute schleierhaft – hatte er ihr zusätzlich einen in allen Regenbogenfarben schillernden Kaschmirschal wenige Tage später gekauft. Er war ihm sofort ins Auge gefallen, als er Katharina auf einem ihrer zahlreichen Einkaufsbummel begleitet hatte, brachte er doch die Farbe und Heiterkeit in die trübe Jahreszeit, nach denen er selbst so lechzte. Er hatte sich vorgestellt, wie Katharina den Schal auf einem langen Winterspaziergang zu ihrem dunklen, eleganten Mantel trug. Erst zu Hause war ihm bewusst geworden, dass Katharina weder Spaziergänge noch Farbe liebte. Sehr wahrscheinlich traf der Schal nicht ihren Geschmack, dachte er freudlos. Katharina liebte es dezent, zurückhaltend, nicht auffällig. Eine Ausnahme machte sie lediglich beim Schmuck.

Hundert Meter bis zur Kirche – unter normalen Umständen keine Entfernung. Aber vor zwei Stunden hatte ein Eisregen die Stadt in eine einzige Schlitterbahn verwandelt, den Straßenverkehr lahmgelegt. Sein Vorschlag, direkt zur Weihnachtsfeier in das Haus ihrer Eltern zu kommen (dorthin konnte er relativ bequem mit der Bahn gelangen), war bei Katharina auf taube Ohren gestoßen. Er MÜSSE zur Kirche kommen, sie könne dorthin unmöglich ohne Begleitung gehen. All ihre Freunde, Bekannten seien dort. Ihre Familie. Was sollten sie denken? Außerdem hätte er es ihr VERSPROCHEN. Sie hatte getobt, als wäre es ein Kapitalverbrechen, Heiligabend nicht mit in die Kirche zu gehen.

Er war eine Person, auf die sich jedermann verließ. Katharina bildete darin keine Ausnahme.

Konzentriert, eine Schrittlänge abschätzend, warf er seinen Handschuh auf den gefrorenen Boden. Er trat auf das Stück Leder am Boden, um den nächsten Schritt zu gehen, rang um Gleichgewicht, fing sich. Und danach: Handschuh aufheben – werfen – Schritt. Immer wieder, unzählige Male das mühsame Prozedere von vorne. Zu quälender Langsamkeit verdammt, fühlte er sich wie in einem Albtraum gefangen, in dem er zu flüchten versuchte und nicht von der Stelle kam.

Warum hatte er sich bloß überreden lassen? Er bereute es längst. Schritt um Schritt, Meter um Meter kämpfte er sich vorwärts, während die Glocken weiterhin läuteten. Mit jedem Ton blieb ihm die Hoffnung erhalten, er könne es vielleicht noch schaffen. Läuteten Weihnachtsglocken nicht unendlich lang?

Nun die Straße: eine besondere Herausforderung. Das Kopfsteinpflaster war heimtückisch. Jeder der Steine war von einem buckligen Eispanzer überzogen. Für einen aberwitzigen Moment überlegte er, dass es das Beste wäre, auf allen vieren über die Straße zu kriechen – eine Methode, um sich dem Ziel schneller zu nähern. Er trug einen dunklen, teuren Anzug, darüber den schwarzen Wintermantel. Er verwarf den Gedanken so schnell, wie er gekommen war. Noch etwa zehnmal, rechnete er im Stillen, müsste er das Spiel mit dem Handschuh veranstalten, um die Straße zu überqueren. Zum Glück waren kaum Autos unterwegs.

„Könnten Sie ihn bitte schieben?“

Verwirrt blickte er auf, sah in die Richtung, aus der die Stimme kam. Dort stand mitten auf der Fahrbahn, nur wenige Meter von ihm entfernt, eine junge Frau, fast noch ein Mädchen. Neben ihr ein Esel. Tief versunken in Gedanken, seine Augen auf den Boden gerichtet, hatte er die beiden zuvor nicht bemerkt. Die Frau hatte sich auf einem verfilzten knallroten Wollschal auf das Eis der Straße gestellt und zerrte aus Leibeskräften an dem lumpigen Strick, der an das Halfter des Esels geknotet war. Allein das Tier wollte sich nicht von der Stelle rühren, war wie angewachsen auf dem Untergrund.

„Er keilt nicht aus.“ Ihr Gesicht, umrahmt von ungebändigten, dunklen Locken, war vor Anstrengung oder von der Kälte gerötet. Ihren Atem, der stoßweise ging, konnte er sehen: Vor ihrem Mund bildeten sich Wölkchen.

„Bildschön“, schoss es ihm durch den Kopf. „Wie ein wilder, schwarzhaariger Engel.“ Er starrte die junge Frau wie hypnotisiert an, als wäre sie eine überirdische Erscheinung.

„Bitte! Schieben Sie ihn über das Eis. Tun Sie mir den Gefallen. Er muss von der Straße.“

Jetzt sah er das dunkle, fast schwarze Braun ihrer Augen, in denen ein Bitten lag.

Mit Mühe löste er sich aus seiner Starre, vergaß prompt, seinen Handschuh zu werfen, machte zwei ungelenke Schritte auf die Straße. Es war rutschig wie auf einer Schlittschuhbahn oder schlimmer. Er erinnerte sich an seinen Handschuh, bemühte das Stück Leder abermals. Als er sicher stand, schob er das Tier am Hinterteil, während sie gleichzeitig zog. Der Esel selbst tat keinen einzigen Schritt, dennoch bewegte er sich vorwärts. Zentimeter für Zentimeter rutschte er über die Straße, im Zeitlupentempo gelangten sie mit dem Tier auf den Gehweg, lachten gemeinsam befreit auf.

Das Ungewöhnlichste, was ihm seit langer Zeit widerfahren war. Während sie den schmutzigen Schal in die ausgebeulte Tasche ihres viel zu großen Mantels stopfte, lächelte sie ihn voller Dankbarkeit an. Das Kleidungsstück sah furchtbar schäbig aus, bemerkte er jetzt erst, genauso wie ihre Schuhe und die zerschlissene Hose. Sein Blick wanderte zu ihrem Gesicht. Er sah eine verblichene Narbe an ihrem Kinn und fragte sich kurz, woher sie rühren mochte.

Sie blickte ihn mit diesen unglaublichen Augen direkt an, als wartete sie auf eine Reaktion von ihm, bis er schließlich den Blick von ihr abwenden musste. Am Himmel zeigte sich über ihnen ein kleines Stück Blau. Gleichzeitig fiel ihm die Stille auf, die sich über die Großstadt gelegt hatte. Eine friedvolle Stille – ungewohnt und feierlich zugleich. Erst dann bemerkte er, dass die Kirchturmglocken verstummt waren. Es bedeutete, er war zu spät.

Er hatte es vermasselt.

Seltsamerweise fühlte er keine Reue. Dass er in der Kirche nichts verpasste, dessen war er sich sicher. Hier hingegen – diesen Moment würde ihm niemand nehmen können. Er fühlte sich ungewöhnlich gut an.

„Ich danke Ihnen. Sie haben mir sehr geholfen.“ Die Frau schenkte ihm ein süßes Lächeln. Dabei offenbarte sie eine kleine Lücke in der oberen Zahnreihe, die ihr etwas erfrischend Jugendliches, etwas nicht Perfektes gab. „Sie sind bestimmt auf dem Weg zu einer Feier. Fröhliche Weihnachten!“

Plötzlich durchzuckte ihn der Gedanke wie ein Blitz. Eine hervorragende Idee. Mit dem Gefühl der tiefen Überzeugung zog er den in rotes Seidenpapier eingeschlagenen Schal aus der Tasche und reichte ihn ihr.

„Fröhliche Weihnachten!“ Er beobachtete sie genau: ihr erstauntes Gesicht, die unbekümmerte Neugier. Wie sich ihr Gesichtsausdruck in ehrliche Freude, wie er sie sonst nur von Kindern kannte, verwandelte, als sie das Päckchen ausgewickelt hatte. Kein bisschen gekünstelt oder berechnend.

Im Überschwang, nichts anderes konnte es sein, bedankte sie sich mit einer festen Umarmung. „Danke schön!“

Es war wie ein Sonnenstrahl an diesem kalten Wintertag, der sich den Weg direkt zu seinem Herzen bahnte.

Sein schönstes Weihnachtsgeschenk seit Jahren.

Bettina Schneider: 1968 in Berlin geboren, verheiratet, zwei Kinder und ein Hund, Studium der Betriebswirtschaftslehre, im Anschluss zehn abwechslungsreiche Jahre im Rechnungswesen in der Privatwirtschaft, heute Freiraum für kreative Tätigkeit. Sie schreibt Kurzgeschichten und Erzählungen, einige davon sind veröffentlicht. Hobbys: Lesen, Schreiben, Tagebuchschreiben, Spaziergänge und Joggen.

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Der Weihnachtskarpfen

Der Max verbringt fast jeden Sommer,

genau geplant auf Punkt und Komma,

beim Huberbauer auf der Alm,

tauscht gegen Bergesluft den Qualm

der Stadtluft, die ihn sonst umgibt.

Der Bauer seinerseits, der liebt

und schätzt den Max auch als Person

und bringt, Sie ahnen es wohl schon,

dem Max was mit, so Zeit er hat,

ist ab und zu er in der Stadt.

Und diesmal bringt in einem Zuber

dem Max zuliebe der Herr Huber

als Gabe einen frischen Fisch

zum Festschmaus für den Weihnachtstisch.

Damit er frisch bleibt bis zum Fest,

ist er lebendig noch. Der Rest –

das Köpfen, Schuppen, Filetieren –

das wäre dann noch auszuführen.

Herr Huber geht. Der Max bleibt stumm.

Den Karpfen siedelt er schnell um

ins Badezimmer zu der Tanne.

Bald schwimmt der Karpfen in der Wanne

ganz ohne Scheu und unverdrossen

und fächelt sachte mit den Flossen

und sieht den Max voll Neugier an.

Der tauft ihn Kuno ganz spontan.

Alsbald der Max zu Liese spricht:

„Was lieb mich anschaut, töt’ ich nicht!“

Worauf ihn Liese, die Max kennt,

Kuno, den Unkillbaren nennt.

Auch ihr gefällt der Fisch so gut,

dass sie ihm nichts zuleide tut.

Doch wollen sie’s nicht übertreiben,

er kann nicht in der Wanne bleiben,

 

wenn auch ein hübsches Exemplar,

so viel ist Max und Liese klar.

So kommt’s, dass in der Heil’gen Nacht

Max heimlich auf den Weg sich macht,

zum nahen Park mit Kuno schleicht,

bis er den Ententeich erreicht.

Dort lässt er Kuno schließlich frei.

Doch sind noch lange nicht vorbei

die Skrupel punkto Fleischkonsum.

Wie wär’s mit Vegetariertum?

Am Weihachtstag serviert die Liese

drum Röstkartoffeln mit Gemüse

und abends gibt es dann Fondue

aus Käsebrei. Was dachten Sie?

Aus dem Zyklus „Max Mustermann und Lieschen Müller“

Franziska Bauer lebt in Großhöflein in Österreich.

*

Der Igel und die kleine Tanne

Es war einmal vor langer, langer Zeit, als die Tiere noch nicht so lange auf der Erde waren. Manche hatten zwei Beine, manche vier. Manche konnten nur kriechen, hüpfen oder nur schwimmen. Aber die auf der Erde auf dem Boden herumliefen, sahen einander alle ziemlich ähnlich. Die meisten waren still und friedlich und fürchteten sich vor den großen Menschen.

Natürlich hatte jedes Tier seine Eigenart oder Vorliebe. Die einen lebten gern im Wald, pflückten oder pickten Beeren, die anderen in Feld und Flur fingen Insekten. Einige der Vierbeiner wiederum mochten besonders die Gärten der Menschen, denn hier wuchsen saftiges Obst und knackiges Gemüse und das war leicht zu ergattern.

Es gab dort auch Kinder, die sogar ein Schälchen mit klarem Wasser vor die Haustür stellten. Die Tiere waren bescheiden und freuten sich darüber.

Eines Tages jedoch dachten einige, dass es auch schön wäre, wenn sie sich unterscheiden würden. Sie hatten also den Wunsch, unterschiedlich auszusehen. Bald waren manche schön mit Fell und Federn geschmückt. Der kleine Igel jedoch saß ängstlich unter seinem großen Laubhaufen. Nur in der Abenddämmerung schlich er aus seinem schützenden Versteck hervor, um ein wenig Futter zu suchen. Er schämte sich, weil er noch ganz grau und nackt war.

Einige Tiere machten sich sogar schon über ihn lustig, wenn sie ihn sahen. Sie stupsten ihn mit ihren kalten Nasen an oder kitzelten ihn mit ihren buschigen Schwänzen. Darüber ärgerte sich der Kleine natürlich. Er hatte so gar keine Idee, wie er sich kleiden wollte. Sollte er sich einen Schwanz zulegen oder ein Federkleid? Er wurde sehr traurig, kroch unter seinen feuchtwarmen Laubhügel und weinte.

Schließlich war er so erschöpft, dass er fest einschlief.

Es wurde herbstlich, die Nächte wurden kühler und dann kam der Schnee, der in leisen Flocken auf die Erde fiel. Der kleine Igel wurde müde, kroch in sein Blätterlager und schlief den ganzen Winter.

Im neuen Jahr schaute zaghaft die Sonne durch die Wolken. Als sie eines Tages hell leuchtete, weckte die Wärme ihrer Strahlen den kleinen Igel. Es war Frühling. Er hatte doch tatsächlich die ganze Zeit geschlafen. Er blinzelte in das Licht.

„Wie schön“, dachte er. Gleich spürte er massiven Hunger in seinem kleinen Bäuchlein, weil er doch den Winter über nichts gegessen hatte. Er versuchte, ein paar Schritte zu gehen. Aber er stolperte, stolperte über einen dünnen Zweig, fiel dabei sogar hin und purzelte den Abhang hinter seinem Blätterhaufen hinunter. Dabei bekam er so viel Schwung, dass er rollte und rollte. Er landete in einer kleinen Tanne.

„Steh hier nicht so unnütz rum,“ brummte der Igel unfreundlich.

„Nein, nein, ich bin nicht untätig. Ich wachse. Ich soll im Advent ein Lichterbaum werden. Der Förster schaut jede Woche gewissenhaft nach mir, ob ich auch stolz und gerade bin“, sagte sie und wippte leicht mit ihren Zweigspitzen. „Er nimmt dazu sogar ein Metermaß.“

„So, so. Du pikst aber“, jammerte der kleine Igel, denn es waren lauter Stacheln an seinem Rücken hängen geblieben. Zum Glück hatten sie seine Nase nicht erwischt. Sofort wollte er die Piksdinger wieder herausziehen. Aber er konnte sie mit seinem kurzen Schnäuzchen nicht erreichen. Sollte er die anderen Tiere um Hilfe bitten?

Während er so nachdachte, bemerkte er eine kleine Pfütze auf dem Weg. Gleich ging er dorthin, um sein Spiegelbild zu betrachten. Er drehte seinen Kopf eitel hin und her. Die stacheligen Nadeln störten ihn schon nicht mehr, ja, gefielen ihm immer besser. „Sieht gar nicht so schlecht aus, sieht sogar interessant aus.“ Er beschloss, die Stacheln zu behalten. Und wie wichtig er sich auf einmal fühlte! Jetzt sollte nur einer kommen und ihn ärgern! Er würde sich einfach zu einer stacheligen Kugel drohend zusammenrollen. Er hatte nun gar keine Angst mehr.

Als der Igel nach Hause kam, wurde er von den anderen Tieren bestaunt. Er fand viele Freunde und musste von seinem Abenteuer erzählen.

Gemeinsam mit anderen Tieren erzählt er noch heute spannende Geschichten in seinem wärmenden Laubhaufen, wenn die Tage kürzer und dunkler werden und die Adventszeit naht.

Doris Giesler, geb. in Oberhausen/Rhld., arbeitete als Fremdsprachen-Korrespondentin bei verschiedenen internationalen Industriefirmen. Später in Süddeutschland moderierte sie ehrenamtlich im Klinik-Rundfunk, unterrichtete lernschwache Jugendliche und hielt Lesungen für Kinder. Teilnahme an Schreibwerkstatt. Veröffentlichungen in Anthologien sowie Gedichtbänden. Doris Giesler lebt in Baden-Württemberg.

*

Von Mäusen und Weihnachten

„Danke, Schwester Katharina, Sie können jetzt gehen.“ Elvira steckte Katharina mit ihrer zittrigen, runzeligen Hand fünfzig Euro extra in den Kittel.

„Aber, Frau Geiss, das kann ich unmöglich ...“ Sie kramte das Geld augenblicklich wieder heraus.

„Ist doch bald Weihnachten“, fiel ihr Elvira ins Wort, zwinkerte schelmisch und ging mit unsicheren Schritten voraus in den Flur.

Katharina folgte langsam. Sie nahm ihre Jacke vom Garderobenhaken. „Ja, aber Sie haben doch auch Kinder – und Enkel!“

„Die sind alle weit weg und haben mich wahrscheinlich sowieso schon abgeschrieben.“ Damit schob sie die immer noch protestierende Pflegekraft mit ihrem Rollator zur Tür hinaus. Nachdem diese hinter Katharina ins Schloss gefallen war, ging die alte Dame ins Bett, obwohl es noch nicht mal richtig dunkel war.

In einem Loch nahe der Schrankwand im Wohnzimmer saß die kleine Maus Luci und schniefte herzzerreißend in ein winziges Taschentuch. Daneben saß ihr Bruder Kral. Er legte ihr sein Pfötchen auf die Schulter. „Jetzt beruhige dich doch, dieses Jahr wird sich sicher jemand an unsere Mitbewohnerin Elvira erinnern.“

Luci schaute ihn an. „Und wenn nicht? Letztes Jahr hatten wir das einsamste und traurigste Weihnachten aller Zeiten. Ich möchte das nicht noch mal erleben.“

„Aber Elvira hat uns guten Käse serviert, der war bestimmt aus der Feinkosthandlung im Nachbarhaus.“ Kral grinste und tätschelte seinen Bauch.

Luci ärgerte sich über ihn. Immer dachte er nur an sich selbst. Plötzlich kam ihr eine Idee. „Ich hab’s!“ Ihre Augen begannen zu leuchten.

„Hm?“ Krals Blick wechselte von wonnig zu alarmiert.

„Na, ganz einfach, wir laden ihre Kinder selbst ein!“ Sobald Luci ihren Gedanken formuliert hatte, war sie schon aus dem Loch gesprungen und ...

„Sag mal, spinnst du?“ Mr Chow, ein eleganter Mäuserich mit Brille und Hut, war gerade von seiner Futtersuche aus der Küche zurückgekehrt und Luci rannte ihn vor Übereifer glatt um. Alle seine Besorgungen lagen nun am Boden verstreut herum.

„Mr Chow, es tut mir leid, aber ich muss dringend etwas erledigen!“ Schnell wie der Wind sprang Luci auf Elviras Sekretär.

Kral kam Mr Chow zu Hilfe, um die verstreuten Krümel wieder einzusammeln. Schwester Katharina würde die schönen Speisen sonst einfach mit dem Krachteil aufsaugen.

„Dieses unvorsichtige Ding, was hat sie jetzt schon wieder vor?“ Mr Chow verdrehte die Augen.

„Einladungskarten schreiben. Sehen Sie doch selbst.“ Kral wies auf den etwas entfernten Sekretär, wo sich ein Stift langsam in die Luft erhob, dann jedoch wieder herunterkrachte.

„Aua!“ Lucis Kopf erschien am Tischrand. „Könnte mir mal einer helfen?“ Kral und Mr Chow tauschten einen Blick.

„Ich komme schon.“

Zusammen schafften Kral und Luci es, den Stift in der Senkrechten zu halten und Buchstaben sowohl auf einen Briefumschlag als auch auf ein Blatt zu kritzeln. Zum Glück strahlte eine Straßenlampe zum Fenster herein.

„Etwas mehr links!“ Luci stemmte sich gegen den Kugelschreiber. „Nein, das war zu viel, weiter rechts!“

Kral standen bereits Schweißperlen auf der Stirn.

„Das Blatt ist zu Ende – zurück!“

Nach vielen Pausen hatten sie es endlich geschafft.

Zugegeben, es war keine Sonntagsschrift, die Buchstaben standen weit auseinander und verrutschten manchmal in der Zeile, aber Luci fand sie durchaus lesbar.

„Und wie willst du die Kunstwerke wegschicken? Wir können nicht einfach in die Post spazieren. Außerdem wüsste ich nicht, wo eine ist.“ Kral gähnte.

„Wir brauchen keine Filiale. Elvira hat ein Briefmarkendepot. Gleich in der Nähe irgendwo.“ Luci streckte sich und zog ein paar kleinere Schubladen auf. „Hier!“ Beide Mäuse mussten sich noch ein letztes Mal anstrengen, um die Briefmarken mit ihren kleinen Zungen an jeder Stelle feucht zu bekommen, sodass sie auch kleben blieben. Dann waren die zwei Umschläge endlich fertig. Luci strahlte und prüfte erneut die Adressen.

„Und wer bringt die Einladungen jetzt weg?“ Kral konnte kaum noch die Augen offen halten.

„Ich.“

Beide Mäuse drehten sich um und sahen Mr Chow.

„Sie?“ Luci war verwirrt.

„Habe noch etwas zu erledigen“, knurrte er.

Als einen Tag vor Weihnachten immer noch kein Anruf oder Brief von Elviras Kindern gekommen war, begann Luci, sich Sorgen zu machen. Die kleine Maus quälten bohrende Gedanken. Würden Elviras Kinder trotz Einladung nicht kommen? Hatte Mr Chow die Briefe in den falschen Kasten geworfen? Oder war das Porto etwa zu wenig gewesen? Ihr fiel auf einmal ein, dass die Post es letztens erst wieder erhöht hatte.

Selbst Mr Chow schien seit ein paar Tagen ungewöhnlich rastlos. Luci war sich sicher, dass er ihre Aktion gut fand, sonst hätte er keine Hilfe angeboten. Sie beobachtete wehmütig Kral, der sich einen Spaß daraus machte, zwischen Elviras Beinen hin und her zu sausen, natürlich so, dass er dachte, sie würde es nicht bemerken. Manchmal wünschte sich Luci seine Lebenssicht – er nahm alles, wie es kam, und hatte Spaß dabei.

Luci erwachte am Weihnachtstag durch einen köstlichen Geruch, der ihre Nase kitzelte. Schlaftrunken schielte sie aus dem Mäuseloch und war schlagartig hellwach. Erst traute sie ihren Augen kaum und musste zweimal blinzeln. Ungläubig huschte sie durch die Wohnung. Alles war festlich geschmückt. Auf dem Tisch stand ein kunstvoll gestalteter Kranz aus Tannenzapfen, Zweigen, Holzsternen und einer dicken roten Kerze. Und immer wieder dieser herrliche Geruch! In der Küche fand Luci einen Braten im Ofen. Lecker! Im Fenster entdeckte die kleine Maus jede Menge Leuchtsterne, und als sie zurück ins Wohnzimmer ging, sah sie sogar einen Weihnachtsbaum.

Kral schaukelte bereits an einer silbrig-blauen Kugel.

Luci hüpfte näher. „Was ist denn hier los?“

„Keine Ahnung, aber es macht Spaß.“ Typisch Kral.

Luci kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Plötzlich hörten die Mäuse die Wohnungstür aufspringen.

Und dann waren alle da. Elvira, ihre Kinder, deren Kinder und – auf dem Rollator saß Mr Chow!

„Oma Elvira, da sind ja noch mehr Mäuse!“ Ein Mädchen rannte in Richtung Baum und nahm den verdatterten Kral von seiner Kugel. „Sind die süß!“

Luci wollte sich gerade aus ihrer Schockstarre befreien und in ihr Loch retten, als sie von einem Jungen behutsam auf dessen Schulter gesetzt wurde.

„Seid nur vorsichtig, meine Kleinen. Das sind Omas Freunde. Sie passen immer dann auf mich auf, wenn ihr gerade nicht könnt. Später bekommen sie ihren Lieblingskäse, habe ihn vorhin extra besorgt.“ Da war es wieder, das verschmitzte Grinsen auf Elviras Gesicht.

Krals Augen leuchteten bei der Aussicht auf ein üppiges Weihnachtsmahl. Er rannte aufgeregt den Arm des kleinen Mädchens rauf und runter.

Elvira sprach derweil weiter. „Danke, ihr Lieben. Für den schönen Baum, den tollen Braten und ganz besonders für eure Anwesenheit. Das bedeutet mir wirklich viel.“ Sie tupfte ein bis zwei Tränchen aus ihren Augen. Ihre Kinder, Enkelkinder und auch die Mäuse lächelten verlegen.

 

Außer Mr Chow. „Ich finde, es ist an der Zeit für ein Weihnachtslied!“ Der Mäuserich sprang auf Elviras Klavier und stimmte ein Oh du fröhliche an. Seit Jahren ungestimmt, klangen die ersten Töne etwas schief. Unbeirrt hüpfte er flink von Taste zu Taste, hielt dabei nicht nur seinen Hut fest, nein, er versuchte sogar extra noch, den Takt zu halten. Die alte Dame sang glücklich die ersten Silben. Nach und nach stimmten alle anderen mit ein.

Am lautesten jedoch sang die kleine Maus Luci.

Anna Noah, Jahrgang 1979, ist studierte Linguistin und Sinologin. 2005 war sie Gastautorin in Charles Lee Taylors Buch Reflections: A Poetic Approach II. Kurztexte sind in verschiedenen Anthologien veröffentlicht.