Buch lesen: «Geschichte einer Tänzerin»

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Table of Contents

Widmung

Erklärung

PROLOG

DIE GRÜNE GRENZE

EIN TRAUM

DIE BAUERNFAMILIE

PRAG, 1938 bis 1941 - RÜCKBLICK

WIEN

HRADSCHIN, 1941 bis 1945 - RÜCKBLICK

… WIEN

PRAG AM KRIEGSENDE UND WARUM IRENE ZU FUSS NACH WIEN GING - RÜCKBLICK

MUTTER, ACH MAMA

MARY WIGMAN, MARIANNE VOGELSANG, DER TANZ UND IRENE

„WO BLEIBT DER TÄNZERISCHE AUSDRUCK DES WERKTÄTIGEN LEBENS?“

Reichenberg 1900 bis 1925. Familienchronik von Adolf Müller

Reichenberg 1925 bis 1938. Familienchronik von Marta Kohn

NEUBEGINN UND ABSCHIED

UND AM ENDE …

LITERATUR UND QUELLEN

Die Autorin

Hinweis

Impressum

Alle Ähnlichkeiten mit Personen und Ereignissen, die nicht zeitdokumentarischen Charakter haben, sind entweder beabsichtigt oder rein zufällig.

Wirklich tot sind nur jene,

an die sich niemand mehr erinnert.

Jüdische Lebensweisheit

Dem Leben gewidmet

PROLOG

Dezember 1918, ein Hospiz (eine kleine Raststätte am Wege, in der auch Kranke aufgenommen werden) in der Nähe von Reichenberg, Böhmen.

Karl lag im Graben. Die Wände um ihn Schlamm. War neben ihm jemand? Manchmal öffnete er den Mund, um Regenwasser zu trinken, wenn das Wasser vom Himmel stürzte. Karl wartete. Worauf? Seit Tagen. Manchmal von Weitem Geschützdonner. Einzelne Einschläge. Dann wieder Stille. Mit Stummheit geschlagen. Er wusste nicht, wie lange.

Geschrei um ihn. Plötzlich überall Geschrei.

Beißend drang ihm etwas in die Augen. Er sah nichts mehr. Wo befand er sich? In der Hölle?

Er zitterte am ganzen Leib. Seine Haut bildete mit dem Stoff seiner Kleidung eine Einheit. Alles klebte an ihm; es waren nur Fetzen. Er fühlte nichts mehr außer Taubheit und einer alles durchdringenden Kälte. Konnte ein Mensch so etwas aushalten? Er hätte es nicht geglaubt bis zu diesem Moment.

Dann erwacht er. Er braucht lange, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen und er etwas sieht. Bis er langsam begreift, dass er geträumt hat. Er erinnert sich an das Reizgas; er sei unversehrt, hatte der Arzt gesagt. Das sei ein Wunder. Er liegt im Bett. Die Laken kalt und weiß.

Karl steht auf.

Er holt die Waffe.

Er schießt.

Endlich.

DIE GRÜNE GRENZE

Ende 1945 brach Irene, in einem der kältesten Winter der Wettergeschichte, von Prag aus Richtung Wien auf. Sie wollte mit der Straßenbahn weit hinter die Grenzen der Stadt fahren.

Es war noch früh am Morgen. Irene hatte einen Tag abgewartet, an dem es nicht schneite – zumindest noch nicht. Der Schnee bedeckte zentimeterdick Straßen und Häuser. Ja, es wirkte so, als bedecke er auch die Menschen, die gesichtslos an ihr vorbeihuschten. Eiszapfen hingen in bizarren Formen von Gebäuden und Laternen herab.

Irene hatte eine kleine Tasche mit den nötigsten Dingen gepackt, die sie brauchen würde und über die sie – auf den Straßen Prags herrschte der Notstand – noch verfügen konnte: eine Thermoskanne mit heißem Tee, ein kleines Messer, etwas Brot, Wurst und einen Apfel. Die Lebensmittel hatte Irene von einem tschechischen Freund erhalten, den sie vom Tanzen kannte. Der tschechische Freund bekam sie von den Russen, die die Sachen bei Plünderungsaktionen erbeutet hatten, während sie Prag einnahmen.

Außerdem packte sie ein kleines Verbandspäckchen ein, etwas Nähzeug, Streichhölzer, Wäsche zum Wechseln und – obwohl sie nicht wusste, wie sie ihn bedienen sollte – einen alten Kompass. Das verbeulte Ding lag kühl und schwer in ihrer Hand. Die Kompassnadel schwang aufgeregt herum und wusste die Richtung nicht. Der Kompass hatte ihrem Vater gehört. Sie sah ihren Vater vor sich, etwas beleibt und mit einem gütigen Schmunzeln im Gesicht. Sie sah ihren Vater, wie er die Straße entlanglief, mit der Mutter am Arm. Wie er freundlich nickend die Leute über den Gartenzaun grüßte.

Irenes Vater, ein Handelsvertreter für den feinen Rasierbedarf namens Hermann Kohn, war ein verlässlicher Charakter gewesen, ehrlich und integer. Als er in den Wirren des Ersten Weltkriegs in der preußischen Armee gegen seine eigenen polnischen Landsleute kämpfen musste, die sich auf der anderen Seite in den zaristischen Truppen befanden – er war ein polnischer Jude –, hatte er diesen Kompass bei sich, den Irene jetzt in der Hand hielt. Nur damals hatte der Kompass wohl noch funktioniert.

Irene zog alle Kleidungsstücke übereinander an, die sie besaß, rollte eine Decke zusammen, verschnürte sie mit einem Gürtel und band sie an der Tasche fest, die sie mitnehmen wollte.

Dann verließ sie die Wohnung. Sie nahm bewusst eine aufrechte Haltung ein, wie es ihr durch das Tanzen zur zweiten Natur geworden war, und zwang sich, in Richtung Tür zu gehen. Es würde in Prag keine Perspektive mehr für sie geben. Ihre tschechischen Freunde konnten ihr nicht helfen, sie nicht bei sich aufnehmen, wenn sie sich nicht selbst in Gefahr bringen wollten.

Sie hatte vor, nach Österreich zu gehen, um dort Arbeit zu suchen und um zu überleben. Eine Wienerin mit dem Namen Agnes Lehner hatte Irene eine Adresse gegeben und sie in ihre Heimatstadt eingeladen.

Irene fuhr mit der Straßenbahn an die äußerste Grenze Prags. Dann nahm sie die Eisenbahn in Richtung des Ortes Znojmo (Znain), in dessen Nähe sich die Grenze und der kürzeste Übergang nach Österreich befanden.

„Gott sei es gelobt“, dachte sie. „Ich habe noch Schuhe, was in diesen Tagen nicht jeder von sich behaupten kann.“

Trotz ihrer flachen Absätze rutschte sie auf den vereisten Wegen aus, obwohl sie es gewohnt war, bei jedem Wetter in Schuhen mit hohen Absätzen zu laufen. Neben dem Eis auf den Straßen trug auch Irenes Angst dazu bei, dass sie sich wackelig auf den Beinen fühlte.

Auf den Straßen Prags sammelten Russen und Tschechen Deutsche ein, brachten sie über die Grenze und vertrieben sie aus dem Land. Die Tschechen schlossen sich den Russen an; sie erstrebten jetzt ein kommunistisches System, um den Faschismus endgültig aus ihren Reihen zu vertreiben.

Der strenge Winter trug nicht zur Sanftmut der Menschen bei. Irenes Mutter, die von der Miliz abgeholt worden war, war da draußen in den Weiten des Winters verschollen.

Da Irene gut Tschechisch sprach, konnte sie der Gefahr ausweichen, als Deutsche erkannt zu werden. Dennoch war sie sehr vorsichtig, es hätte sie ja jemand wiedererkennen können oder ihren Ausweis verlangen. Und was ihr bei den Nazis noch geholfen hatte, dass sie nach deutschnationalem Gesetz als sogenannte Halbjüdin gegolten hatte – Irenes Mutter war eine Deutsche aus Böhmen –, hätte ihr jetzt den Tod bringen können, denn so absurd es klang: Dass sie überlebt hatte, war in diesen Tagen keine gute Visitenkarte.

Allerdings befürchtete sie, eher zu verhungern, als abtransportiert zu werden. Irene tauchte im Menschengetümmel unter und suchte sich einen Platz in einem Eisenbahnwaggon, wo, wie überall, sich schon andere drängelten. An einer Bahnstation stiegen Militärs ein. Die Soldaten schoben eine Gruppe traurig aussehender Gefangener vor sich her und trieben sie in einen Wagen, der eigentlich für den Transport von Lasten gedacht war. Irene bemerkte zu ihrem Entsetzen, dass es sich bei den Gefangenen um Deutsche handelte, und sie dachte an ihre Mutter, daran, wie sie still, ohne ein Wort – um Irene, die sich im hinteren Teil der Wohnung versteckt hielt, nicht zu verraten – mit den tschechischen Milizionären gegangen war.

Kurz vor dem tschechischen Städtchen Znojmo stieg Irene aus und machte sich auf in Richtung Wald, durch den sie musste, wenn sie die Grenze ungesehen passieren wollte. Vorn leuchtete er ihr dunkelgrün und schneehell entgegen und sie würde gleich in seinem Schutz verschwinden.

Sie tauchte ein in das tief verschneite Gewölbe aus Tannenzweigen, das sich unter seiner Schneelast beugte. Es hingen Eiszapfen an den Ästen wie Stalaktiten in einer Tropfsteinhöhle. Zuerst fühlte Irene sich in der Stille des weiß eingepackten Waldes aufgenommen und geborgen. Aber dann merkte sie, wie ihr die Kälte schneidend den Nacken und die Arme hinaufkroch. Die eiskalte Luft schmerzte bei jedem Atemzug in ihren Lungen. Sie bewegte sich schneller, und ihr Körper begann sich an die Umstände zu gewöhnen.

„Ich werde lange gehen müssen. Im Augenblick weiß ich noch, in welche Richtung … und das ist gut so“, dachte sie.

Plötzlich hörte sie Stimmen. Sie flüchtete, wich vom Weg ab und preschte durch den knietiefen Schnee, der ihr ins Gesicht stob. Knackend brachen Äste. Sie blieb stehen und hielt den Atem an, der sie in dampfenden Wölkchen vor ihrem Gesicht verriet. Sie lauschte. Die Stimmen waren noch ein Stück hinter ihr. Vorsichtig lief sie weiter – sie sank bei jedem Schritt ein – zu einem Gebüsch, in dessen Unterholz sie kroch. Keine Minute zu früh, denn jetzt kamen Soldaten durch den Wald. Ihre Uniformen hoben sich vom Weiß der Umgebung deutlich ab. Sie sprachen laut und fröhlich miteinander. Dann verschwanden sie auf dem Weg zwischen den Bäumen. Es herrschte wieder tiefe Stille. Ein paar Schneeflocken fielen von den Zweigen. An Irenes Fußspuren, die als dunkle Löcher im Schnee von ihrer Flucht zeugten, waren die Soldaten, in ihr Gespräch vertieft, vorbeigelaufen, ohne einen Blick zur Seite zu werfen.

Irene lief über verschlungene Pfade durch den Winterwald. Sie wusste nur ungefähr, in welche Richtung sie gehen musste. Die rotgoldenen Strahlen der Sonne leuchteten von Westen her durch die Baumwipfel.

Die Sonne würde gleich untergehen und sie hielt sich Richtung Südosten, wo sich die grüne Grenze bei Znojmo befand. Sie lief und lief und wunderte sich über die Kraft, die ihr bei jedem Schritt neu verliehen wurde. Das Vorhaben erschien ihr eigentlich unmöglich. Aber sie fragte nicht danach, wie sie es schaffen sollte, sondern ging Schritt für Schritt voran. Der Schnee lag an manchen Stellen hoch, weil er hier noch unberührt war; sie musste ihre Beine heben, die sie kaum noch spürte. Dann wieder hatte sie Glück und auf dem Pfad war der Schnee zu einer festen Decke niedergetreten. Manchmal waren hier auch Fahrzeuge entlanggekommen und hatten die Schneedecke geebnet.

Der Mond schien auf den Weg, Wolken und Sterne spielten abwechselnd Wetterleuchten und sie fühlte sich seltsam leicht. Sie wusste noch, dass sie irgendwo die zugefrorene Thaya passiert haben musste … und dann sank sie nieder. Sie fiel leicht wie eine frisch gefallene Schneeflocke.

EIN TRAUM

Da ist er ja, der Kasper. Er hängt zwischen den anderen Puppen und bewegt sich nicht. Sein Gesicht mit den roten Wangen und der langen gebogenen Nase schaut sie seltsam gläsern an. „Kasper!“, ruft sie. „Kasper, hast du meine Mutter gesehen?“

Der Kasper mit seiner langen roten Mütze mit den Schellen ist nicht allein. Neben ihm befindet sich eine Prinzessin mit strohgelbem Haar, blauen Augen und noch röteren Wangen, als der Kasper sie hat. Vielleicht ist die Prinzessin errötet wegen des Kaspers Ignoranz?

„Kasper, Kasper! Warum sagst du denn nichts?“, ruft Irene.

Aber er will ihr einfach nicht zuhören, ihr nicht helfen – sonst hat er sich doch immer um alles gekümmert! Das Krokodil und der Wachtmeister sind auch da. Aber allesamt leblos in ihrem Gestell.

Jetzt wird es ihr zu blöd. „Mutter!“, schreit sie. „Mutter!“ Und rennt los. An einer Ecke dudelt ein riesiger Leierkasten. Ein großer Mann dreht die Kurbel und sieht unheimlich aus mit seinem langen Schnauzbart. Auch er sieht sie – wie der Kasper – aus gläsernen Augen an und droht ihr mit dem Zeigefinger seiner freien Hand, mit der anderen betätigt er die Kurbel.

Und dann bleibt Irene stehen: Wie gebannt schaut sie auf die weißen Pferde. Weiße, hölzerne Pferde, jedes mit einem Federbusch auf dem hoch erhobenen Kopf. Sie drehen sich mit Musik in einem bunten Karussell. Sie fliegen und fliegen und sie will mit. Alles ist vergessen, ihre Mutter, der Kasper und auch der alte Leierkastenmann. Sie will tanzen. Tanzen mit den Pferden, entschwinden mit der Musik.

Da ist sie ja! Auf der anderen Seite, zwischen den Pferdchen kann Irene die Mutter sehen. „Mutter! Mutter!“, ruft sie. Und jetzt entdeckt diese auch sie: „Da bist du ja endlich!“

Weiter geht’s zum Kettenkarussell. Das ist noch besser als die lahmen Pferde. Hier kann man wirklich fliegen! Und es glitzert über und über in allen Farben. Die Leute kreischen, quietschen und lachen hoch da oben. Kaum verschwinden sie, sind sie auch schon wieder zu sehen. Irenes Blick klebt an ihren Gesichtern, ihren wehenden Haaren. Ihre Mutter zieht sie fort. Weg von den fliegenden Pferden, ach, von den fliegenden, sich drehenden Menschen.

Es gibt noch einen süßen, roten Apfel, mit Zucker überzogen. Zu Hause beim Abendessen nimmt der Vater Irene auf den Schoß und sie erzählt ihm von diesem herrlichen Tag auf dem Reichenberger Jahrmarkt. Nur von dem unheimlichen Mann mit dem Leierkasten und von dem stummen Kasper und seinen Kumpanen, die sie allesamt im Stich gelassen haben, erzählt sie ihm nichts!

Mutter und Irene kommen am Reichenberger Theater vorüber. Wie gebannt bleibt Irene stehen. Die Mutter will sie mit sich ziehen, sie kennt schon, was sich nun abspielen wird. Aus dem Untergeschoss des schönen alten Baus dringt Musik. Irene will und muss hinsehen. Durch die Fenster kann sie sehen, wie in einem Saal junge Mädchen umherschweben. Dann wieder üben sie an einer Stange Ballettstellungen. Die strenge Stimme der Lehrerin ist zu hören: „Alle jetzt bitte Passé … Plié … jetzt bitte Tendu!“

„Mutter, dort will ich auch hin, sieh doch mal!“, bettelt sie. Mutter schaut sie an und sagt nichts.

Vater bringt sie zum Kindergarten. Das tut er immer.

„Vater, ich möchte zum Ballettunterricht“, sagt sie.

„Bist du dir sicher?“, fragt er.

Im Garten ihres Hauses in Reichenberg. Über ihr der unendliche Himmel. Sie streckt sich. Ihre bloßen Zehen berühren das grüne Gras. Es kitzelt. Während sie Kopf und Rücken gerade hält, ganz gerade, geht sie langsam in die Grätsche – langsam, ganz langsam überwindet sie den Schmerz. Als sie unten ankommt, riskiert sie einen Blick in den Himmel. Sie hat es geschafft. Sie hat den Spagat geschafft! Sie spürt den Bodenkontakt körperlich auf völlig neue Weise, so ganz auf der Erde angekommen.

Das Blau des Himmels über ihr, das Grün des Grases unter ihr – und sie mittendrin beherrscht ihren Körper. Graziös bewegt sie ihre Arme auf und ab. In ihr eine Freude, ein Lachen. Der Schmerz lässt langsam nach. Und jetzt darf sie zum Ballett gehen. Sie bekommt ihr erstes Paar Ballettschuhe und tanzt Spitze, an der Stange mit den anderen und auf dem Parkett.

„Wollen wir im Haus spielen?“, fragt Irene ihre Freundin. Am Himmel steht eine dunkle Wolke. Sie laufen über das kurz gemähte Gras, vorbei an den bunten Blumenbeeten, in das kühle, große Haus. Das Wohnzimmer befindet sich im Erdgeschoss und schließt an eine kleine Vorhalle an, die sie passieren. Der Wohnraum ist groß, freundlich und der Fußboden mit Parkett ausgelegt, die Möblierung alt und edel. Es gibt Teewagen, gepolsterte Stühle, mehrere Tischchen. In einer Ecke steht ein Grammophon. Irene läuft darauf zu und hebt den Arm des Apparates an, um ihn auf die Schellackplatte zu setzen. Es ertönt der „Zigeunerbaron“.

Sie schweben durch den Raum. Die Freundin immer Irene hinterher. Irene hat im Ballettunterricht Pirouetten und Tanzfiguren gelernt, die sie ihr vortanzt.

Irene schaut vom Bett aus in den nächtlichen Himmel, vor dem die Zweige einer mächtigen Tanne leicht im Wind schaukeln. Der Mond hängt sachte irgendwo dazwischen und verströmt sein beruhigendes Gelb. Sie wundert sich: Wo sind Mama und Papa? Sie steht auf, läuft zur Zimmertür, stößt sie auf und tappt auf den dunklen, kühlen Gang hinaus. Sie ist barfuß. Der Steinboden ist kalt, ihre Fußsohlen erreichen den weichen Läufer, der sich am Tage wieder als prächtiger Orientteppich zu erkennen geben wird. Sie kommt im Badezimmer an. Verwirrt steht sie da. Ein Bächlein rinnt ihr linkes Bein entlang und bildet, unten angekommen, einen kleinen Teich. Sie rennt zurück in ihr Zimmer, kriecht schnell in ihr Bett und zieht sich die Decke über den Kopf.

In dem großen Haus ist es still und friedlich. Irene liegt in ihrem Bett in ihrem Zimmer im Erdgeschoss und starrt an die Decke. Wenn sie zur Seite aus dem Fenster schaut, schaukeln die Zweige der alten Tanne knarzend im Wind.

Irene dreht sich, im Auto auf der Rückbank sitzend, um. Das Haus wird kleiner und kleiner, als sie die lange gerade Straße hinunterfahren. Die große alte Tanne ist aus dem Blickfeld verschwunden. Sie werden nicht mehr hierher zurückkehren.

DIE BAUERNFAMILIE

„Schau mal, Schau!“, schrie der kleine Junge. Seine roten strubbeligen Haare hatten frostige Spitzen. „Da liegt jemand im Schnee!“

„Oh, ja …“, flüsterte der Mann neben ihm auf dem Kutschbock des Schlittens heiser. Auch an seinem Bart hatten sich Eiskristalle gebildet und er sprach nur mit Mühe, denn bei diesem Wetter drang bei jedem Wort die eiskalte Luft in das Körperinnere ein.

„Hoh!“, schrie der Mann und ließ seine Peitsche durch die kristallene Luft knallen.

„Hoh habe ich gesagt! Bleibt stehen!“, rief er noch einmal. In der Kälte dauerte alles etwas länger, so auch, bis die beiden vor den Schlitten gespannten Kaltblüter verstanden, was er wollte. Gerade hatten sie sich gemeinsam einen Weg zu bahnen versucht, um eine Schneise zu schaffen. Vater und Sohn, in dicke Pelze eingehüllt, stiegen von ihrem Gefährt. Der Mann mit dem dunklen Bart hob den Jungen vom Schlitten, denn dessen Beine reichten noch nicht bis zum Boden. Für einen kurzen Moment drohte der Mann das Gleichgewicht zu verlieren und wegzuschlittern, fing sich aber schnell wieder und setzte das Kind sicher auf dem gefrorenen Boden ab.

Die beiden Männer, der kleine und der große, stapften durch die weiße Wüste auf die leblose, eisverkrustete Gestalt zu, die da lag, am Wegesrand vor den krummen Fichten der Schonung.

„Oh Gott!“, sagte der Mann. „Jesus, Maria … hilf mir mal!“ Zu zweit hievten sie den halb erfrorenen Menschen durch den Schnee zurück bis zu ihrem Schlitten und hinauf. Der kleine Junge brach fast zusammen unter dem Gewicht des starren Körpers.

„Mein Gott, das ist ja eine Frau“, sagte nun sein Vater, als er sie näher betrachtete. „Sie muss ein Flüchtling sein! Was macht sie denn bei diesem Wetter hier? Ist die denn von allen guten Geistern verlassen?“

Sie fuhren zurück und brachten die Frau ins Haus.

Irene wusste nicht, wie sie es geschafft hatte. Wusste nicht, ob sie ein Feuer angezündet hatte oder nicht. Ob sie irgendwann geschlafen hatte oder nur gelaufen war – in der Dunkelheit des Waldes. Sie wusste nur, dass sie es über die Thaya geschafft hatte. Aber wie hatte sie den Weg gefunden?

Dass sie in Österreich sei, erzählten ihr auch Sepp, der Bauer, Egon, das kleine Kupferdach’l (= rothaarige Person) und Sepps Frau Maria. Sie waren alle sehr lieb zu ihr. Irene taute auf aus ihrer Eisesstarre und kam fast um vor Schmerzen, die ihr tausend kleine Nadelstiche versetzten, als sich die Blutgefäße erweiterten und ihr Blut wieder zu fließen begann. Sie fragte die Familie, nachdem sie mit heißem Tee und Glühwein hochgepäppelt worden war, ob sie wohl übernachten dürfe, diese eine Nacht. Für die Bauernfamilie war das selbstverständlich, und Irene durfte im Heuschober schlafen, denn es gab nicht sehr viel Platz.

Maria, die rundliche, braunhaarige Bäuerin mit ihren freundlichen, haselnussbraunen Augen gab Irene zu essen. Sie wusste nicht, ob sie schon einmal in ihrem Leben so etwas Herrliches gegessen hatte: dicke Scheiben saftiges, frischgebackenes Graubrot, dazu würzigen Schinken mit Speckrand und selbst geschlagene, rahmige Butter. In diesem Moment schien ihr das köstliche Essen der Lohn für ihren Mut, sich zu Fuß allein im Winter durch Schnee und Eis durch den Wald gewagt zu haben, den sie gar nicht kannte, ja, überhaupt nichts kannte.

„Wer bist du denn?“, fragte der kleine, rothaarige Egon sie. „Und wo sind deine Mutter, dein Vater?“

Bei dieser Frage stiegen ihr die Tränen in die Augen.

„So etwas fragt man nicht! Wo sollen sie denn schon sein?“, sagte Sepp und schlug seinem Sohn leicht gegen dessen strubbeligen, kupferroten Hinterkopf.

Die drei fragten sie nichts mehr. Sie saßen am Abend zusammen. Sepp, der Bauer, rauchte Pfeife; der Tabak verströmte sein Kräuteraroma.

Es war warm im Zimmer. Ein Holzofen brannte und Irene schaute in das Feuer, das knackend und knisternd Scheit um Scheit verzehrte. Es war über die Maßen beruhigend, Körper und Seele erwärmend, so ein Feuer, und vor allem die Gastfreundschaft, die die drei ihr gewährten. Zischend glomm ein dunkles Holzscheit auf und versprühte dabei orangerote Glut.

Maria saß dicht neben ihr. Sie schaute von ihrer Näharbeit auf und legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter. Egon schlief, den Daumen im Mund, mit einer wollenen Decke zugedeckt, auf einer Bank in der Nähe des Kamins.

Es gab nur einen Raum, den sich die Familie teilte, er diente zugleich als Wohnzimmer und als Schlafraum. Hinter einem Vorhang befand sich das Familienbett.

In der Nacht schlief Irene im warmen Heu auf dem Heuboden im Stall. Unter sich hörte sie die Kühe leise wiederkäuen. Von ihren massigen Körpern dampfte die Wärme. Sie schlüpfte tief in ihr trockenes Bett aus Halmen und schaufelte so viel Heu über sich, wie es ging, ohne daran zu ersticken. Es roch würzig und ihr war warm, so wunderbar warm.

Am Tag darauf nahm sie den Bus. Es gab ihn, gleich hier, beim Haus des Bauern. Der Bus fuhr in Richtung Wien und sie hatte Geld, das in Tschechien und auch in Österreich noch Gültigkeit besaß: Reichsmark. Sie nahm es und fuhr nach Wien. Die Sonne ging auf. Dieses Mal sah sie aus dem Fenster, wie die Sonne den Schnee in eine zauberhafte Landschaft verwandelte.

Sie dachte zurück an ihre Flucht aus Reichenberg, mit der ihre Kindheit geendet hatte, und an Prag, wo sie und ihre Eltern Zuflucht vor den Nationalsozialisten gesucht hatten. Während sie noch aus dem Fenster des Busses schaute, verschwamm die Umgebung vor ihren Augen, und die Bilder der Vergangenheit zogen immer schneller an ihr vorüber …

Der kostenlose Auszug ist beendet.

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