Wundersames Leben eines Ohrenmenschen

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Wundersames Leben eines Ohrenmenschen
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Wundersames Leben eines Ohrenmenschen
erbaulich beschrieben zum Nutzen Aller von Martina Schäfer

Da Augenmenschen ein gewisses, einschränkendes Hintereinander benötigen, befleissigt sich der Autor, seine vita narrativa in eine anständige Auflistung der Inhalte und Kapitel zu transponieren, die Anstand, Ordnung und eine gewisse, innere Entwicklungslogik suggerieren sollen:

I.

Erstes Kapitel, in dem er sich und zwei verschiedene Methoden der Ohrenreinigung vorstellt.

II.

Zweites Kapitel, in dem man weitere Ohrreinigungsmethoden kennen lernt.

III.

Im folgenden Kapitel hört man Etwas darüber, was Ohrenmenschen nicht können und wie sie hereinfallen, wenn sie es doch versuchen.

IV.

Das vierte Kapitel erklärt, dass Ohrenmenschen auch Langsamkucker heissen könnten.

V.

Ein nächstes Kapitel behandelt das phänomenal akustische Gedächtnis der Ohrenmenschen im Allgemeinen und die Folgen für den Erzähler im Besonderen.

VI.

Im sechsten Kapitel erfährt man, warum Ohrenmenschen Steine singen hören, das aber tunlichst Niemandem erzählen.

VII.

Das siebte Kapitel erzählt, was Ohrenmenschen ausserdem noch alles können und warum sie deshalb so fürchterlich fromm sind.

I.
Erstes Kapitel, in dem er sich und zwei verschiedene Methoden der Ohrenreinigung vorstellt.

Schon immer hatte ich ein sehr feines Gehör.

Meine Ohren stehen weit ab vom Kopf, Segelohren, durch das Stimmengewirr der Mitmenschen zu segeln, Radar fürs dazwischen Klingende.

Auch die Nase ist sehr fein.

Weniger die Augen: Ich finde alle Menschen schön. Sogar Frauen. Das kann manchesmal recht hinderlich sein.

Landschaften mochte ich schon immer, da man die ja hören und, nachdem man so auch ihre Perspektive aufgebaut hat, in ihnen herum laufen kann wie Fledermäuse durch ihre eigentlich undurchschaubaren Nächte fliegen.

Man sagt zu uns auch gerne Hans-guck-in-die-Luft, doch das stimmt im tieferen Sinne nun wirklich nicht, denn wir schauen im Grunde genommen Nirgendwo hin, also weder in die Luft noch auf den Boden, weshalb Ohrenkinder chronisch aufgeschlagene Knie haben und Ohrenjugendliche ungewöhnlich viel Geschirr beim Abspülen zerschlagen.

Wenn überhaupt wohin, schauen wir in unsere eigenen Kopfgewölbe hinein, in denen sich im Laufe von Lebensmonaten und –jahren all jenes Sehgerümpel anlagert, das wir nicht vermeiden können, aller Lärm, der sich Spinnweben gleich in den Gehirnwindungen fest klebt, all das wüste Äussere, dass die diversen Kopfareale voll- und verstellt, alle Unvermeidlichkeiten, denen Ohrenmenschen erst so nach und nach und im Laufe ihres Lebens Herr werden können und wovon diese vita narrativa nun Kunde geben soll.

Kinderärzte meinten, solche Segelohren, solch abstehende, seien eine Folge des jactatio nocturnis, dem ich zwischen Geburt (meiner) und erstem Geschlechtsverkehr heftigst und nächtelang frönte. Begleitet von mehr oder minder melodischem Gesang fremder und eigener Melodien.

Das konnte wohl manchesmal recht nervend sein. Leiern nannten die Erwachsenen diese Angewohnheit.

Ich selbst fühle mich einsam, wenn Nichts klingt. Andere Leute fühlen sich so, wenn sie im Dustern stehen.

Ich sagte: Wenn Nichts k l i n g t!


Lärm gibt es überall und zur Genüge! Wie in einer Mitternachtsdisco. Die Hölle ist ein berieseltes Kaufhaus. Die Anderen haben Angst im Dunkeln. Angst habe ich keine! Ich fühle mich allein, wenn man nichts hört. Das ist ein grosser Unterschied. Ohrenmenschen sehen Nichts, wenn sie nichts hören.

So stellt doch die Baumaschinen ab, sonst stolpere ich über eure rot-weiss gebänderten Latten!

Also: Abfalten der Ohrmuscheln durch kontinuierliches Hin- und Herwenden des Kopfes bis in eine gewisse Nacht hinein, der berühmten und berüchtigten e r s t e n Nacht, primae noctis mit einer langen, schlanken, joggenden Kommilitonin.

Seit dem habe ich die sittliche Reife, in meinem eigenen Kopf spazieren zu gehen, wenn ich mich langweile oder alleine bin.

Was Ohrenmenschen schnell und sehr häufig passiert.

Wir langweilen uns selbst im Kino nach den ersten fünf Minuten. Doch wir sind daran gewohnt seit dem Kindergarten und können diese unendliche Langeweile in einer Welt aus Flecken, Formen und Fäkalien gut überspielen.

Dort, in der eigenen Hirnschale, ist es sichtlich leiser wie im Rest der Welt. Wer die Wirkung eines Stroboskops mal erfahren hat, weiss, was ich meine.

Ja, diese merkwürdige Welt mit ihren Menschen darin!

Die einzige Chance eines feinfühligen Kindes – Ohrenkinder und Ohrenmenschen sind heutzutage sehr in der Minderheit, gewissermassen herausgemendelt aus dem humanitären Genbestand seit der Aufklärung (Was für ein Wort! Als könne man bei Licht besser denken! Oder an einem knall-kalt-klaren Januarwintermorgen!) – besteht darin, selber möglichst viele Geräusche und Effekte von sich zu geben. Selber singend und sprechend hört man die Anderen zum Glück nicht so genau. Das ist angenehm und gut.

Auf diese Art überspielen wir auch die allgegenwärtige Langeweile in einer offensichtlichen Welt. Kein Mensch langweilt sich in der Gegenwart eines Ohrenmenschen, was zur Folge hat, dass auch Niemand auf die Idee kommt, w i r seien leidend an unendlicher Langeweile.

Manchesmal im Leben, als ich noch jünger und unausgeschlafener war, ertappte man mich beim Einschlafen in Sitzungen oder auf langwierigen Geburtstagsparties. Das war ein Erbe meiner Klavier- und Latein lehrenden Grossmutter. Dem lässt sich aber durch regelmässiges Ausschlafen am Morgen und gesunde Ernährung gut begegnen. Heute bin ich einflussreich genug, Sitzungen spätestens auf einen frühen Nachmittag zu verlegen und geburtstagsgeilen Freunden einen hübschen Brunch mal zur Abwechslung vorzuschlagen.

Ein weiteres Problem sind die beweglichen Antennen, die Verlängerungen unserer Gehörgänge. Man sieht sie kaum und das ist für unsereins recht unangenehm in dichteren Menschenmengen. Alle Welt latscht darauf herum, wenn die Fäden herabhängen oder zerknittert die feinen Tentakel, wenn sie durch die Luft wehen.

Wenn Ohrenmenschen nicht reden, singen oder sonst lauthals herumgestikulieren, entrollen sich ihre Sensoren automatisch aus den Tiefen des Innenohres heraus. Ohne unser Zutun schleichen sie sich zwischen alle Zeilen des Gesagten, lüften den Deckel der Meinereien, hören allerlei schräge Unter-, Ober- und Zwischentöne.

Ausgesprochenes schmettert als Solotrompete direkt in die Ohrgänge herein, dass es nur so fetzt. Das Ungesagte darunter brummelt als Trommelwirbel. Hintergedanken summen im Ostinato mit, Grundeinstellungen erscheinen im liegenden Bordun und plötzliche Meinungsänderungen als Flötendiskant. Gedankensprünge schmerzen das Ohr wie überblasene Blockflöten und Nichts ist so unangenehm wie eine schlecht gelogene Dissonanz, ein falsches Lächeln ähnelt dem Kratzen eines Violinbogens in der ersten Geigenstunde.

Schon in frühester Kindheit entdecken Ohrenbabies ganz eigenständig das homöopathische Prinzip, welches immer Gleiches mit Gleichem vergällt. Natürlich in stark verdünnten Zuständen. Tatsächlich, seien wir mal ehrlich, was ist das Singen eines Kindes in der Dunkelheit im Vergleich zum Röhren einer Boeing 747 quer übers Haus hinweg?

Ohrenkinder in statu hori (erster und oft einziger Tag im Kindergarten) sind also so weit, mittels eigenen Geschreis ihre empfindlichen Tentakel bei sich zu behalten. Später, in statu scolae, der ja nun eine unausweichliche staatliche Zwangsmassnahme für die nächsten 8 Jahre darstellt, meinen sie oft, Alles das wieder ausspucken zu müssen, was ihnen da so in die Ohren geträufelt wird. Das ist halt gut gegen Bauchweh und Schulversagen. Und bewahrt ihnen den Respekt vor ihren Lehrerinnen und Lehrern, die ja auch mal vollkommen sein können, so von Kindern und anderen Leuten genau hin gehört werden könnte.


Doch auf dieses Problem der externen Introspektion, also, der früh angeborenen Angewohnheit vom Aussen her das Innere anderer Menschen und Steine zu hören, man könnte auch sagen, den vollkommenen Traum vom Anderen, werde ich in einem späteren Kapitel zu sprechen kommen.

Wie auch immer, die meisten Ohrenkinder überleben dank der Technik des Zurücklärmens und werden trotzdem älter, weiser.

Sie überleben das Geschrei der Erwachsenen, entwickeln Vorsicht und werden auch abgebrühter, denn man will ja noch älter und noch reifer werden. Oder? Wozu sonst leben sie in dieser kakophonen Welt?

Sie schütteln allabendlich und allnächtlich den Stimmenstaub aus ihren Ohren: Jactatio nocturnis, das nächtliche Kopf Hin- und Her Werfen.

Angeblich ein Zeichen schwersten Hospitalismus, liegt es bei uns in der Familie. Alle haben es oder hatten es oder werden es haben, da Alle musikalisch sind, auch wenn sie das gar nicht sein wollten, wie ich.

 

Musikalisch sein in diesem Ausmass, wie wir Ohrenmenschen daran leiden, bedeutet nämlich, nicht einmal Musik, jedenfalls die meiste, aushalten zu können.

In jüngeren Jahren schlimmer wie in älteren.

Man kann einfach nicht brav in die Flötenstunde wackeln, wenn schon zwei Blockflöten miteinander – sorgfältig gestimmt und getrimmt von der wirklich liebenswürdigen und sanften Flötenlehrerin – durch die Gehörgänge schrillen wie Sandpapier. Was die begeisterte Flötendame aufjauchzen lässt, ob soviel musikalischer Sensibilität. Ein Juchzer, der wiederum am Ohr des Ohrenkindes ankommt wie eine Ohrfeige.

So verweigerte ich im zarten Alter das Musikmachen, was in einer solchen Familie dem Pinkeln auf einen Altar gleich kommt.

Heute, das sei zum Trost meiner Herkunftsfamilie gesagt, singe ich in einem Chor, denn solange ich dort in dem überheizten Probensaal, inmitten anderer Altistinnen sitze, schweigt stille der Lärm der Welt, der allemal unangenehmer zu ertragen ist, wie das achtzigjährige Vibrato einer ehemaligen Industriellengattin.

Ja – ganz richtig, das ist eine weitere Seltenheit, welche vielleicht sogar hin und wieder genetisch an die Ohrenfeinerei gebunden ist: Ich bin zu allem Überfluss auch noch ein Altist. Der Stimmbruch ging nicht ganz an mir vorüber aber terzenhaft gemässigt. Eben kein Bruch sondern eher eine feinfühlige Gradwanderung von hier nach da. Es gab keine Schwelle und kein Stolpern – auch keine rites de passage oder ähnliches (als solche diente eher besagte erste Nacht) sondern nur ein leichtes Absinken des Jungensoprans.

Kowalski sei Dank werden solch sängerische Grenzgänger heutzutage nicht mehr diskriminiert. Da geht’s uns ähnlich wie den lesbischen und schwulen Geschwistern sowie den Damen vom Tenor.

Darüber hinaus, trotz alledem und zusätzlich hatte ich als Einziger Erfahrungen mit Säuglingsheimen (als Säugling, nicht als Kinderarzt!), wodurch das familieninterne Wackeln doch auch rasant verstärkt wurde.

Bis ich dann gesellschaftlich anerkanntere Methoden der Ohrenreinigung entdeckte, worüber ich in den nächsten Kapiteln berichten werde, gelang es mir immerhin, meine Ohren auf diese eine oder diese andere Weise sauber zu halten, die Tentakel gepflegt und die Seele halbwegs im Gleichgewicht.

Denn das ist ja das Hauptproblem von uns Ohrenmenschen: Nicht die Feinhörigkeit an sich, sondern Dreck und Lärm und schmutzige Geräusche, unnötiger Stimmenballast im stroboskopischen Alltag. Die Welt, in welcher ich in meiner ersten radikalen Politphase kurz nach der Pubertät gerne Diktator geworden wäre, gleicht einem überbesetzten Symphonieorchester, drei Minuten vor dem gemeinsamen A und dem Auftritt des Publikums.

Als Diktator hätte ich alle schlechte Musik verboten.

Darunter verstand meine verehrungswürdige, Cello spielende Mutter (welch angenehm tiefes, ruhiges Instrument!) grundsätzlich alle Musik, die nach dem Spätherbst 1847 komponiert wurde sowie grundsätzlich alle Arten von Opern, Operetten und Musicals. Was dumm war, denn ich konnte natürlich die Songs der rotzfrechen Blumenverkäuferin alle locker daher trällern, da ich für die Schauspielerin schwärmte und wäre gerne der junge Mann am Gartentor von Professor Higgins gewesen. Über Schlager und dieses schmuddelige Ding, genannt U-Musik, wurde in meinem Mutterhaus kein Wort verloren. Man redet ja auch nicht über Scheisse und in diesen prärevolutionären Zeiten nicht über Sex und Religion.

Ich ging da entschieden weiter wie sie und hätte Alles, da Alles zu laut, verboten: Schlicht ein Jahrtausend Musikgeschichte gestrichen.

Dass Polyphonie eine Kulturkrankheit ist, welche ab dem Hochmittelalter wie rasend um sich griff werde ich erst in dreissig Jahren, in einem der letzten Kapitel, lernen.

Als Diktator würde ich heute in einem gewissen Ausmass das Singen gregorianischer Choräle durch kleine Frauengruppen in leeren, gut abgeschlossenen Kathedralen, mit weitem Wiesenareal drum herum gestatten aber keine vaterlosen Familien.


Natürlich lernte ich, bis zu dieser weisen Erkenntnis, neben Wackeln und homöopathischem Widerstand noch einige andere Methoden der Ohrenreinigung, dem Abwaschen der Staubfängersegel allen Gewäschs und tausender Tiraden.

Zumal ja eben, jus primae noctis mit der munteren Joggerin (sie studierte Biologie, ich zu dem Zeitpunkt nicht mehr), das Wackeln sich verflüchtigte.

Doch ich möchte den folgenden Kapiteln nicht vorgreifen, sind der Narreteien doch auch so genug. Ich würde sie gerne fein säuberlich und nacheinander an einer Schnur auffädeln, denn Augenmenschen sind leicht zu verwirren durch das tatsächliche Nebeneinander des Geschehenen. Für die muss man eine ordentliche Kordel durchs Leben ziehen, deren Knoten die Illusion des Nacheinander aufrechterhalten.

Man kann zwar Stereo hören, schliesslich hat jeder Mensch mindestens zwei Ohren, meistens jedenfalls, aber nicht Stereo sehen wie die Insekten, was manche Zeitgenossen wohl gerne wären: Gepanzert bis dorthinaus und Innen weich wie Butterrahm, denn die Augachsen kreuzen sich im anvisierten Punkt, während sich Hörachsen – und derer gibt es viele -, nun mal schlichtweg im Unendlichen kreuzen, wenn überhaupt, da sie sich kreisförmig ausbreiten.

Augenmenschen brauchen diesen Faden, möglichst rot, damit er sich auch gut abhebt von den vernähten Geschehnissen.

Pantomimen fädeln sich manchesmal einen unsichtbaren Faden durch beide Ohren, ziehen ihn hin und her, beide Gehörgänge putzend und das limbische System dazwischen gleich mit, wie Raucher ihre Pfeifen mittels Pfeifenputzer putzen.

Das mag als Visualisierung zu Beginn der vita narrativa und zum Ende der Einleitung dienen, denn Augenmenschen müssen immer Alles ein wenig oder sogar sehr fest visualisiert haben, gewissermassen vor die Augen und Füsse geschmissen:

Man stelle sich das Leben eines Ohrenmenschen vor wie diesen Pantomimen, doch mit zwei Unterschieden:

Erstens: Der unsichtbare weiche Kaschmirfaden des Mimen ist im wirklich real harten Leben ein Laubsägeblatt mit beidseitigen Zacken.

Zweitens: Statt des rein geistig vorgeführten beidhändigen Ziehens Hin und Her, das Keinem weh tut, nicht einmal dem Mimen, sägt in der beinharten Realität rechts der Lärm der Welt und links das Quasseln des Homo Sapiens am strapazierten Innenohr und dem limbischen Born der Reflexe.

Menschen können wegschauen, sich die Nase zu halten, Finger vom heissen Herd lassen, den Mund geschlossen und nur Wasser trinken tagelang. Aber Weg-Hören, das kann kein Mensch.

Nicht einmal die Augenmenschen.

Selbst der tumbeste Alltagsmensch hört durch seine Ohropax das Schnarchen des Lebenspartners, wenn auch Beziehungsstress-vermeidend gedämpft. Finger-in-den-Ohren schützen kaum vorm Morgenstreich und Ohrenschützer lassen noch allerlei Gesumse und Gebrumse der Welt durch.

Ohrenmenschen können jedoch gleich und von vorneherein auf solche technischen Spielereien verzichten. Gnadenlos dringt die Welt mit ihren Menschen ins Innerste ein. Das lässt sich gar nicht verhindern, nur leicht vermeiden durch die beiden oben beschriebenen Ohrreinigunsmethoden, welche die Gehörtentakel etwas zauseln und im Zaume halten.

Möglicherweise liegt das daran, dass sich freiere Membranzellen des Innenohrs irgendwie als genetische Marmelade auf unserer Haut verteilt haben. Es gibt eine sehr schmerzhafte Frauenkrankheit, in welcher sich die Zellen der Gebärmutter die Freiheit genommen haben, überall im Körper der gepeinigten Frau allmonatlich ihre blutigen Umtriebe zu halten.

Ohrenmänner hören täglich Alles, ohne die Ohrmuscheln vorklappen zu können.

II.
Zweites Kapitel, in dem man weitere Ohrreinigungsmethoden kennen lernt.

Da man Gesehenes nicht so leicht ausschütteln und -singen und -brüllen kann wie Gehörtes, leiden Ohrenmenschen im Laufe ihres Lebens rasch an visueller Überfütterung und Kopfverstopfung. Sie kucken von daher generell ungern aus ihrer Wäsche und ziehen ruhigere Berufe im Dunkeln, wie Archäologie oder Schriftstellerei, den lärmigen im Licht wie Busfahrer und Informatikprofessor vor.

Ohrenmenschen sind oft schlechte Schüler oder Schülerinnen, aber da die Letzteren damals angepasster und wohlerzogener waren, fiel das bei den Mädchen weiter nicht so auf. Wir sassen in den späten Fünfzigern in den hinteren Bänken, als in den späten Sechzigern die Zeiten pädagogischer wurden, in der ersten Bank und mit viel Glück in den späten Siebzigern auf den Universitäten, die damals wesentlich genauer mit ihrem Vorlesungsbetrieb auf unsere Bedürfnisse abgestellt waren wie heute mit ihren tausend Over- und Unterheadprojektoren, Laptopanimationen und Diaorgien.

Sind die Ohreneltern gutwillig oder selber betroffen (auf dieses Problem komme ich gleich zu sprechen), zerren sie das unaufmerksame Kind rasch zum Augenarzt, der normalerweise Nichts findet. Manchesmal landete also das Ohrenkind sogar schon in den Fünfziger Jahren auf diese Art und Weise in der ersten Bank, was einer Foltertortur des dritten Grades gleich kam, denn von Hinten brauste das unterschwellige Gesums der Klasse und von vorne kreischte oder donnerte die Lehrperson, die das sicherlich nicht so meinte, wie es in den zarten Segelohren ankam.

Ihrer selbst bewusste, betroffene Eltern waren damals ein Sonderfall. Ich weiss nicht, wie das heute ist, Ohrenkinder und Ohreneltern outen sich wohl immer noch selten, aber damals – so sie sich überhaupt erkannten – gaben Ohreneltern kaum zu, Ohrenmenschen zu sein.

Natürlich merkten sie, dass irgendetwas an ihnen nicht stimmte und – horribile dictu! – an ihrem geliebten Kind! Aber was wohl? Und wenn sie es bemerkten – ich hege bis heute den tiefen Verdacht, dass meine so überempfindliche, musikalische, schnell schreiende Mama im tiefsten Inneren eine Ohrenfrau war – versuchten sie es im gleichen Augenblick zu verdrängen. Keimte gar in ihnen der entsetzliche Verdacht, ihre Kinder könnten eventuell auch ... dann gab es gleich ein paar an die Ohren, um jegliches Ohrenhören im Keim zu ersticken.

Meine Frau Mutter war damit rasch bei der Hand. Sie hatte vermutlich nie genauer darüber nachgedacht, warum sie ausgerechnet zum Cello gegriffen hatte, als man ihr die Wahl liess. Einem Instrument, das in den dreissiger bis weit in die sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts hinein fast ausschliesslich von den Hosen tragenden Männern gespielt wurde. War ja auch ein Problem: Frauen mit ihren Röcken k ö n n e n doch gar nicht Cello spielen, oder?

Das änderte sich erst, als sie nicht mehr lebte.

Mittlerweile sind auch am Cello die Frauen, meist in langen dunklen Hosen oder geheimnisvoll weiten Boden schleifenden Röcken, in der Übermacht, wie weiland bei den kleinen Streichinstrumenten, die Brust verdeckend, mit anständig verklemmten Knien von der Schulter aus gespielt werden. Was würde sie wohl zu den stehenden, punkhaarigen Bassistinnen bei uns auf der Empore sagen? Oder zu der kleinen, zierlichen Bassistin mit wundervollem, zum Barockoratorium passenden De­kolle­té, die ich neulich in der hiesigen Tonhalle sah und hörte?

Die These der verdrängten Ohrenmama steht bis heute, denn die meisten Ohrfeigen erhielt ich beim gemeinsamen Musizieren. Kein Wunder – ich würde auch so reagieren, wenn neben mir in Ohrhöhe ein durchaus unwilliges Kind die Blockflöte malträtiert.

Doch den Grund für Unwillen und Ohrfeigen konnte, durfte, wollte sie sich nicht zugestehen. Wie auch, zehn Jahre vor der Pille, der berühmten Tomate und anderen Ereignissen und Errungenschaften, welche das Leben der Frauen freier machen sollten.

Die wirkliche Qual zeigte sich auch nicht beim Schreiben- oder Rechnen Lernen. Oder gar beim Lesen.

Ohrenkinder kommen auf die Welt und können scheinbar lesen, was aber gar nicht stimmt. Sie merken sich einfach die Laute. Das geht fix. Hat Irgendwer den Fibeltext vorgelesen, können sie ihn auswendig. Insbesondere, wenn das so stotternd langsam geht, wie bei den lieb äugelnden KlassenkameradInnen.

Zum Phänomen der Schnellhörigkeit folgt in einem späteren Kapitel noch eine wichtige Begebenheit, die ohne diese, für Augenmenschen phänomenale Fähigkeit, gar nicht statt gefunden hätte.

Ja, und was wäre dann vielleicht aus mir und meinem chronischen Wackelhospitalismus geworden? Eine verzerrte Wahrnehmung all dessen, was sich gar nicht lohnt, wahr genommen zu werden?

 

Und die Ordnungen darinnen? Das Schreiben? Nulla nox sine linea!

Ja, wie sie die Stirne runzelten, mit den Fingern versuchten, die Zeilen zu haschen, meine Klassenkameradinnen und Klassenkameraden.


Ohrenkinder begreifen schnell, dass sie diese Gesten nachahmen müssen, damit ihnen Niemand auf die Schliche kommt. Beim ersten Mal schaute ich in die Luft und „las“ munter vor: Mama in der Küche. Papa im Garten. Hans fährt mit dem Roller. Lisa hat einen Puppenwagen. Dabei überlegte ich, denn wir arbeiten meistens simultan, warum immer die Mädchen einen Puppenwagen haben (Nicht dass ich neidisch gewesen wäre!) und die Jungen auf dem harten Asphalt und in all dieser lärmenden Kälte Roller fahren müssen? Auch der Papa irritierte mich in jeder Familie der Fibel wieder aufs Neue. Wir hatten weder einen Papa noch einen Garten und ich kann bis heute den unbestimmten Verdacht nicht los werden, dass Papas in Gärten wachsen wie die Kohlköpfe, obwohl ich natürlich selber mittlerweile im zeugungsfähigen Alter bin und weiss, dass das papaliche Werden ein möglicher Konjunktiv des Lebens ist, so mann das unbedingt will (Nur Geduld, wir verlieren die schlanke Joggerin nicht aus den Augen!).

Natürlich fiel der Lehrerin auf, wie ich in die Luft kuckte beim Rezitieren. Erst danach wurde mir so richtig klar, dass die Klänge der Worte in diesen kleinen Kringelzeichen festgelegt sind, die wir lernen sollten. Ich glaube bis zu diesem Aufschrei (aus meiner Hör!) fühlte und roch ich das Gesagte eher so in der Luft herumschwirren. Irgendwer spuckte Irgendetwas aus und das flog dann herum, bis es die Ohreingänge fand zum Hineinkriechen, ein Gehirnlabyrinth, um die Kurve zu kriegen und einen Mund, wieder heraus zu schlüpfen. Welcher dann zum Beispiel meiner war.

Danach kam es mir seltsam vor, dass man das so eindimensional fixieren musste. Wie sollte man die kleinen Zeichen hören? Und wozu? Damit man weiss, was man geschrieben hat. Erklärte mir die alte Dame, also unsere Lehrerin, liebevoll.

Damals gab es viele alte Damen in den Schulen, denn die Männer hatten sich fatal auf den Schlachtfeldern in Ost und West verspätet oder kamen gar nicht erst zum Unterrichten wieder.

Über diesen Satz denke ich bis heute nach. Seine philosophische Tiefe auszuloten reicht kein Leben, nichtmal ein modernes, über hundertjähriges.

Man schreibt, damit man weiss, was man geschrieben hat. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen!

Eine analoge Weisheit begegnete mir Jahrzehnte später in Niederbayern. Die intellektuelle, schriftstellernde, promovierte Anglistin fragte eines Tages ihre kleinbäuerliche, alte Schwiegermutter, warum sie denn Dieses oder Jenes auf dem alten Hof noch mache: Holzhacken trotz Ölheizung, unsichtbares Unkraut jäten, saubere Eimer schrubben, etc. Damit`s do isch! Lautete die Antwort. Damit es getan ist!

Auch die feingliedrige Anglistin denkt seither – und auch das sind mittlerweile mehr als zwei Jahrzehnte – über diesen Satz nach. So heftig wohl, dass ihre ferner lebenden Freunde und Freundinnen, wozu der Erzähler letztlich auch zu zählen ist, seit beinahe einem Jahrzehnt ihre Gegenwart, ihre Telefonate oder Briefe gar, vermissen. Selbst weitere Veröffentlichungen scheinen im Schatten dieser ontologischen Frage auszuruhen. Möglicherweise sollte man ihn der alten Bäuerin auf den Grabstein meisseln.

Zehn Jahre nach diesen ersten kratzenden Kringeln auf der Schiefertafel, post pubertatis, traf mich die Erkenntnis wie ein Schlag: Man schreibt, damit es aufgeschrieben ist. Damit endlich Ruhe ist – Stille. Man schreibt mit weit offenem Mund, man schreibt wie man schreit. Man schreibt, um das Hörorgan zu reinigen, das ohrige Dasein wieder aufzurichten. Man schreibt, um das Gleichgewicht wieder herzustellen, das durch das ständige unvermeidlich lärmende Aussen ins Schwanken geraten ist. Man schreibt, um leise sein zu können. Man schreibt, um bei sich zu sein. Man schreibt, der Worte und Bilder Herr zu werden, die durch das Gehirnlabyrinth irren und mal keinen Ausweg durch den Mund nach Aussen fanden.

Man schreibt damit es vollbracht ist.

Und so sass ich eines siebzehnjährigen Sonntags im Wohnzimmersessel, die Biografie eines anderen, berühmten Ohrenjugendlichen auf den Knien: Ich will ein Schreiber werden, wie mei Voter aner gween i. [1] Wobei Europas Kind, enigma sui temporis, ein Reiter werden wollte und Kaspars Ahnung eines Vaters vermutlich wesentlich konkreter war, wie meine Gewissheit seiner Garten bauenden Abwesenheit.

Gut, dass meine Mama das nie erfahren hat!

Die Qual lag also nicht im Schreiben – sie lag in anderen Dingen. In den Dingen, in diesen sichtbarlichen Manifestationen, den Stoffen und Hölzern, den Pappen und Klebtuben, den Wasserfarbkästen und Wachsmalblöcken.

Und dann kam irgendein progressiver Beamter oder spät berufener Pädagogikstudent auch noch auf die unsinnige Idee, Handarbeitsunterricht für die Jungen einzuführen und gerechterweise das Repertoire der Mädchen ums Werken zu erweitern. Das Ganze auf Kosten unseres (der Jungen!) Turnunterrichtes.

Die Hölle ist ein Handarbeitssaal voller Elfjähriger Buben und Mädchen. Teufel verkleiden sich mit Vorliebe in Handarbeitslehrerinnen. Handarbeitslehrer gab es natürlich keine, was man uns Jungen schnell zum Vorwurf machte, stellten sich doch einige sichtlich dem Fortschritt entgegen.


Alle Welt glaubt den Medien, die da suggerieren, der westeuropäische Feminismus sei auf den grossen Abtreibungsdemonstrationen geboren, ans Licht der Welt gehoben von einer deutschsprachigen Journalistin damals in Paris, Etwas als kleinen Unterschied apostrophierend, was doch marginal ist im Vergleich zum Unterschied zwischen hörenden und sehenden Menschen.

Oh nein! Der Kampf begann mehr wie zehn Jahre früher, auf geplagten Kinderschultern, in Schulaufsichtsbehörden und Klassenzimmern. Die durchaus akzeptable Gleichschaltung der Geschlechter begann im Handarbeitssaal und der eigentliche Beginn des Geschlechterkampfes war nicht so sehr die berühmte Tomate sondern die Einführung des Handarbeitsunterrichtes an den Grundschulen für unschuldige Jungen. Damit ging es los und dass die Waldorfschulen, bis heute nicht all zu heftiger Emanzipation verdächtig, das seit bereits zwei Generationen vorexerziert hatten, machte die Qual auch nicht besser.

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