Das Buch der Tiere

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KASSIOPEIA

AUTOR: Michael Ende

TITEL: Momo

ORIGINALFASSUNG: 1973



Plötzlich fühlte sie, wie etwas sie leise an ihrem nackten Fuß berührte. sie beugte sich hinunter, denn es war ja sehr dunkel, und erkannte eine große schildkröte, die ihr mit erhobenem Kopf und seltsam lächelndem Mund mitten ins Gesicht blickte. ihre schwarzen klugen Augen glänzten so freundlich, als ob sie gleich zu sprechen anfangen wollte.

Freundlich sind Schildkröten ja meistens – wie das auch all jenen zu raten ist, die nicht schnell laufen können. Kassiopeia aber ist freundlich, obwohl sie allen anderen etwas Wichtiges voraushat: Wie Kassandra aus der griechischen Mythologie sieht sie, was künftig geschehen wird! Der Haken, und da wären wir wieder beim Rat, nur schön freundlich zu bleiben: Sie sieht gerade mal eine halbe Stunde in die Zukunft und hat nur begrenzte Panzerfläche, auf der sie sich schriftlich – in Versalien – ausdrücken kann.

»KOMM MIT!«, sind also ihre ersten Worte an (die obendrein ob ihrer Kindheit und nicht vorhandenen Schulbildung eher leseschwache) Momo, um diese zu ihrem Herrchen Meister Hora zu entführen, der mit ihrer Hilfe plant, die Zeit – und in weiterer Folge die Welt – zu retten.

Die lebende Laufschrift wäre, hätten die grauen Herren die Herrschaft an sich gerissen, wahrscheinlich als Maskottchen für irgendwelche peinlichen Werbungen missbraucht worden. Um das zu verhindern, hat sich Meister Hora einen Wettlauf gegen die Zeit – für die Zeit einfallen lassen. Er begibt sich in eine Art Winterschlaf, friert die Zeit also ein und schickt Momo und Kassiopeia mit einer Stundenblume auf den Weg. Sie haben also eine Stunde, um die grauen Herren zu stoppen.

Dass es ausgerechnet eine sich ungern beim Frühstücken stören lassende und auch sonst recht gemächliche Schildkröte ist, die in dieser Challenge obsiegt, ist natürlich eine visionäre Botschaft des Autors gegen »Hudeln« und Burn-out, gegen Stress und digitalen Overkill, für die Ruhe, fürs Slow Food sozusagen (bloß keine Schildkrötensuppe!).

Wo Kassiopeia ihren Namen herhat, ist auch nicht ganz klar (und sie würde wahrscheinlich Tage brauchen, es zu erklären). Die Gattung Cassiopeia bezeichnet eigentlich Schirmquallen, und in der griechischen Mythologie ist Kassiopeia eine schöne Frau, die ihre eigene Schönheit zu wichtig nahm und der Poseidon daher ein Meeresungeheuer an den Hals schickte. Nach ihr ist auch das Sternbild benannt.

Ihre halbstündig begrenzte Weitsicht erlaubt ihr immerhin, mehr oder weniger blind die Straßen in Momos nicht näher benannter, aber wahrscheinlich irgendwo in Italien liegender Großstadt zu überqueren, obwohl die Autos dort keinerlei Ampelschaltung gehorchen: Sie weiß einfach immer, wann kein Auto kommt. »KEINE ANGST!«, meldet sie Momo. »Hab ich auch nicht«, antwortet diese, »nachdem sie es entziffert hatte«. Kurz darauf: »Ein Glück, dass ich schon so gut lesen kann, findest du nicht?« – »STILL!«

Speedy Gonzalez wären in dieser Konstellation wahrscheinlich die Synapsen eingeschlafen.

GATTUNG: Emys orbicularis

LEBENSRAUM: urbane Gefilde

ERNÄHRUNG: Kräuter

FUNKTION: Pager

AUGEN: schwarz, klug

MERKMAL: viel Zeit

BESTER-FREUND-DES-MENSCHEN-FAKTOR:

ANOBIUM DOMESTICUM

AUTOR: Julian Barnes

TITEL: Eine Geschichte der Welt in 10 1/2 Kapiteln (Aus dem Englischen von Gertraude Krueger)

ORIGINALFASSUNG: 1989



Unsere Art gelangte, wie ich mit Stolz berichten kann, ohne Bestechung oder Gewaltanwendung an Bord; andererseits sind wir nicht so leicht zu entdecken wie ein junger elch.

Endlich packt einmal jemand aus und schildert, wie es wirklich zuging auf der Arche Noah.

Dass es natürlich mehr als eine Arche gab, sonst hätten all die Tiere nie draufgepasst.

Dass Klatsch und Tratsch blühten, etwa darüber, ob Noahs Schwiegertochter wohl etwas mit einer (seither) ausgestorbenen Affenrasse angefangen hat?

Dass der Archpatriarch selbst ein Schluckspecht war und sich durch nichts weder für den Job des Weltretters noch für jenen des Kapitäns qualifizierte, dass er also nur aufgrund seiner peinlichen Gottesfürchtigkeit ausgewählt worden war.

Ganz nebenbei erwähnt der – von der menschlichen Leserschaft (letztlich lauter Abkömmlinge Noahs) deutlich desillusionierte – Erzähler, dass er der Gattung Anobium domesticum angehört. Diese wurde 1785 von einem gewissen Geoffrey beschrieben. Wer das nachgoogelt, hat die Pointe aber sowieso schon verstanden. Gut möglich, dass die meisten anderen bis zum letzten Satz der Geschichte Der blinde Passagier (Kapitel 1 von zehneinhalb in Julian Barnes’ Zusammenfassung der Weltgeschichte) warten müssen, bis das Aha-Erlebnis eintritt: »Aber letztendlich, was können wir dafür, wir sind halt Holzwürmer.«

Auf der Arche Noah erwünscht waren die Holzwürmer weder zu zweit (wie die unreinen Tiere) noch zu siebt (wie die reinen Tiere, was aber nur bedeutete, dass die Menschen sie essen konnten, was sie auch taten). Da Arche wie Nebenarchen allesamt aus Holz gebaut waren, hatten die blinden Passagiere vor allen anderen geboardet.

Interessant an der Berichterstattung des Holzwurms ist unter anderem seine Mischung aus Solidarität und journalistischer Distanz. Einerseits reiht sich der Erzähler durchaus unter die anderen Tiere ein, wenn es darum geht, den Irrsinn an Bord zu schildern (»Ja, sicher, wir haben uns gegenseitig aufgefressen und so.«). Andererseits erklärt er sich zum objektiven Beobachter: »Ich stehe etwas außerhalb der übrigen Tiergesellschaft, die noch immer ihre nostalgischen Zusammenkünfte hat.« Weshalb: »Meiner Darstellung könnt ihr vertrauen.«

Diese seine Darstellung ist jedenfalls sehr humorvoll, auch wenn man bald ahnt, worauf sie hinausläuft. Denn warum war wohl am Ende nur noch die Hälfte der Flotte übrig? Wovon werden sich die sieben Holzwürmer, denen peinlich war, zufällig genau in der für den Menschen heiligen Anzahl angetanzt zu sein, ernährt haben? Genau. »Gopher«, das Holz, aus dem sie die Arche(n) gebaut hatten.

Bibelforscher (aber auch Holzforscher) vermuten, es handle sich dabei um Zypressenholz. Wahrscheinlicher ist, dass dieses Holz ebenso ausgestorben ist wie viele der Tiere, die einst gutgläubig bei der Sintflutkreuzfahrt eincheckten. Und ausgestorben heißt: aufgefressen. Was für eine Welt!

LEBENSRAUM: Arche Noah

ERNÄHRUNG: Arche Noah

ARTENSCHUTZ: nicht empfohlen

BESTER-FREUND-DES-MENSCHEN-FAKTOR:

ERSTES GEBOT: kein Sex an Bord (zu gefahrlich)

NATÜRLICHE FEINDE: Noahs

DER BANDWURM

AUTOR: Irvine Welsh

TITEL: Drecksau

(aus dem Englischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann)

ORIGINALFASSUNG: 1998



00000000000000000000000000 nein nein nein 000000 oh nein du Drecksack 00000000000000000 0000000000000000000000000000000000000000000000 0000000000000 000000000000000000000000000

Auf die Frage, was seiner Meinung nach das Coolste an der von ihm in der Verfilmung aus dem Jahr 2013 verkörperten Figur des schottischen Polizisten DS Bruce Robertson sei, antwortete Schauspieler James McAvoy: »Dass er gleichzeitig masturbieren und weinen kann.« In der Tat ist der greifbare Widerling hier Bruce Robertson selbst, der Kollegen und »Klienten« misshandelt, verarscht, beschimpft und gelegentlich ermordet, noch dazu aus unverzeihlichen Motiven wie Rassenhass heraus. Aber Bruce ist, wie von McAvoy andeutet, neben einer Dreckauch einfach eine arme Sau. Daran schuld sind: die miserable Kindheit mit einem Vater, der ihn zwang, Kohle zu fressen, die Trennung von der Ex – und der Bandwurm, der das alles wieder aufwurmt, äh, aufwärmt.

 

So ein Bandwurm ist ohnedies eine der ekelhaftesten Krankheiten, die man sich vorstellen kann: ein Parasit von länglicher Ausdehnung, der sich mithilfe von Saugnäpfen oder Hakenkränzen an der Darmwand seines Wirts festklammert und Nährstoffe, kaum hat dieser sie zu sich genommen, gleich einmal selbst vertilgt.

Bruces Exemplar präsentiert sich als ganz besondere Nervensäge. Zunächst ist er unersättlich, fordert Bruce permanent von innen heraus zur Nahrungsaufnahme auf: »0000iß000iß0000iß«. Obendrein entwickelt er im Zuge des Buches aber auch noch ein Selbstbewusstsein und kommuniziert mit irgendwelchen anderen Würmern ebenso wie mit dem Wirt, nach dem Motto »Darm ohne jeglichen Charme«: »Du bist ein schrecklicher Mensch!«, wirft er Bruce an den Kopf (oder besser: an die Darminnenwand) und psychoanalysiert sich zusammen, was den Wirt so wurmt: »Du bist zurückgewiesen worden und bist stolz.«

Dieser Bandwurm ist ein typografisches und narratives Kunstwerk: Er enthüllt und verbirgt zugleich. Autor Irvine Welsh stellt ihn nämlich durch fett und kursiv gedruckte Einschübe in bandförmigen Sprechblasen dar, die die eigenen inneren Monologe des Polizisten parasitär überlagern, sodass nur noch die Absatzränder zu lesen sind. Was steht unter dem Wurmfortsatz? Wenn wir es wüssten, kämen wir dann schon früher dahinter, dass dieser fluchende Ich-Erzähler sich nicht nur manchmal schizophren als die eigene Exfrau verkleidet, sondern auch den Kriminalfall, in dem er ermittelt, selbst verursacht hat?

Mit der großen (Selbst-)Erkenntnis am Ende hat der Bandwurm – pardon! – ausgeschissen. In exkrementeller Konsequenz fallen ihm die letzten Worte dieser nihilistischen schottischen Saga zu: »00000000000000000000000000000 00000000000000000000000000000000 00000000000000000000000000000000 00000000000000000000000000000000 00000000000000000000000000.«

GATTUNG: Cestoda

LEBENSRAUM: DS Bruce Robertson

ERNÄHRUNG: DS Bruce Robertson

NATÜRLICHER FEIND: DS Bruce Robertson

BEUTESCHEMA: DS Bruce Robertson

KNUDDELFAKTOR: 000000000000000000

BESTER-FREUND-DES-MENSCHEN-FAKTOR: 0000000000000000000000000000000

LANMO

AUTORIN: A.L. Kennedy

TITEL: Leises Schlängeln

(aus dem Englischen von Ingo Herzke)

ORIGINALFASSUNG: 2016



Warum liegt eine goldene Schlange quer auf Ihrer Pultkante und tut so, als sei sie ein Lineal?

Wenn Menschen berühmt werden, setzen sie ihre Popularität oft für einen guten Zweck ein, treten öffentlich für Feminismus oder gegen Walfang auf. Die schottische Autorin A.L. Kennedy, die 2000 mit ihrem Erzählband Gleißendes Glück berühmt wurde, nimmt sich einer überraschenden Randgruppe an: fiktiver Schlangen. »Schlangen brauchen eine Lobby!«, heißt es hinten auf dem wertvoll produzierten, in Prinzessinnenrosa gehaltenen Einband von Leises Schlängeln.

Die benötigte Lobby wird im Buchinneren dann einem besonders giftigen Exemplar der Gattung zuteil, das professionell um die Welt kriecht, um Menschen zu töten. Der Schlangerich heißt Lanmo und unterhält sich vor der jeweiligen Tat noch mit seinen Opfern. Indem seine Zunge die Luft in ihrem Umfeld abfühlt, »schmeckt« Lanmo, ob es eine arme, gute Oma oder einen reichen, grausamen Tyrannen erwischt (dazwischen gibt es nichts).

Als Lanmo das bitterarme Mädchen Mary kennenlernt, verspürt er plötzlich Liebe. Er hilft Mary gegen seilspringende Tussen in der Schule, verkuppelt sie mit dem klugen Paul und zeigt beiden den Weg zu einem besseren Leben.

Sie wiederum erzählt ihm alles, macht aus ihrem Herzen keine Schlangengrube und vermisst ihn, wenn er dienstlich unterwegs ist. Alles recht rührselig, aber hilft es dem Ruf der Schlangen? Werden Schlangen nun die neuen Ponys?

Vielleicht helfen ja die folgenden Fun Facts aus dem Märchen: Lanmo macht zischelnde Geräusche beim Schlafen, es ist seine Art zu schnarchen. Süß, oder? Wenn er aufwacht, vollführt er eine komplexe Choreografie des Ver- und Entknotens, rollt den Leib schließlich zu einer schönen Schleife und hebt den Kopf. Seine Augen sind rubinrot, und überhaupt ist er wunderschön. Warum? Weil er das sagt. »Ich bin ungemein hübsch«, stellt er sich eingangs Mary vor. »Hallo, Herr Hübsch. Ich heiße Mary.«

Und jetzt kommt das Beste: Er darf Trauungen durchführen. Argument: Wenn die saublöden Schiffskapitäne das können, kann eine Schlange das auch – nur besser, weil man aus den wertvollen Schuppen an ihrem Körper edle Ringe machen kann. So werden Mary und Paul in ihrem besseren Leben nach der Flucht Ringschmiede.

All das verdanken sie Lanmo, der natürlich auch Mary am Ende ihres Lebens unweigerlich besucht, um den letzten Biss zu praktizieren. Das ist sehr herzzerreißend. Aber na ja: Das Leben ist kein Ponyhof. Sondern, wie es aussieht, doch eine Schlangengrube.

GATTUNG: Serpentes

HERKUNFT: Hölle

GESCHLECHT: männlich (obwohl: »die« Schlange)

FARBE: golden (Augen: rubinrot)

SCHÖNHEIT: ungemein

BERUF: Richter und Henker

NEBENBERUF: Juwelier

NATÜRLICHE FEINDE: reiche Menschen

Die Flatternden und Schnatternden, die Zwitschernden und Krächzenden


SIMORGH

AUTOR: Farid ud-Din Attar

TITEL: Die Konferenz der Vögel

(aus dem Persischen von Katja Föllmer)

ORIGINALFASSUNG: 12. Jh.



Da sahen sie das Abbild Simorghs auf der Erde. Als die dreißig Vögel genauer hinschauten, sahen sie, dass sie selbst Simorgh, Dreißigvögel, waren. Aus Erstaunen waren sie ganz verwirrt. Sie hatten es nicht gewusst, bis sie es geworden waren.

Wer bin ich und wenn ja, wie viele? Oder: Dreißig Vögel suchen einen König. Oder: Tausend ist das neue Dreißig. Oder: Dreißig Spatzen am Ziel sind besser als tausend ahnungslose Tauben auf dem Dach.

In Farid ud-Din Attars mystischem Versepos Die Konferenz der Vögel (alternativ: Vogelgespräche) machen sich Tausende Vögel aus allen Teilen der Welt auf die Suche nach dem idealen König. Dieser ist ebenfalls ein Vogel, ein schräger Vogel geradezu, und in der Mythologie beladen mit Geschichten und Gerüchten: Simorgh (oder Simurgh) heißt er,

»Si morgh«, das bedeutet getrennt geschrieben eben »dreißig Vögel«, aber diese dreißig übrig gebliebenen Vögel konnten wahrscheinlich kein Persisch, deshalb nahmen sie diese lange, beschwerliche, verlustreiche Suche auf sich, um sich letztlich selbst zu finden: Weg = Ziel, Siddhartha lässt grüßen.

Der »Löwe der Lüfte«, wie er (oder wahlweise sie) auch genannt wird, ist ein großer Vogel, die genaue Art ist nicht bekannt. Passend zu der situationselastischen Verdreißigfachung ist auch der Umstand, dass Simorghs Antagonist Angha manchmal mit ihm oder ihr gleichgesetzt wird.

Zu Beginn der Vogelkonferenz heißt es: Alle Vögel sind schon da. Die Teilnehmer vom Wiedehopf bis zu Fink und Nachtigall, von Pfau bis Geieradler, Papagei, Geier und Reiher halten flatterhafte Reden und Ausreden, die einen gemeinsamen Ausflug auf der Suche nach dem Göttlichen zur Folge haben. Unter anderem wird dabei folgende Geschichte von Simorgh erzählt: »Er zog glänzend um Mitternacht über China. Inmitten Chinas verlor er eine Feder. Jeder Einwohner war sehr erregt. Jeder machte ein Abbild von dieser Feder.« Klingt nach einer visionären Vorschau auf die SelfieKultur.

Simorgh, heißt es, sei »uns nah, aber wir sind so fern von ihm. Seine Ruhe liegt im Heiligtum der Großmut, sein Name ist auf keiner Zunge.« Vor seiner Tür sollen mehr als hunderttausend Vorhänge aus Licht und Dunkelheit hängen, in anderen Worten, er ist so schön, dass man ihn nicht sehen kann, so klug, dass niemand seine wissende Vollkommenheit begreift. Simorgh ist das ornithologisierte Escher-Bild, und hätte die perfekte Musik aus Robert Schneiders Schlafes Bruder eine Gestalt, es wäre die seine. Oder ihre.

Am Ende der verschnäbelten Schnitzeljagd hat der weise Dichter ihnen so viele Weisheiten mit auf den Weg gegeben, dass die skurrile Auflösung sie vollends verwirrt. »Wie du siehst, war alles, was du wusstest, nicht Er, und auch nicht das, was du sagtest und hörtest, war Er«, erklärt ihnen Gott. Und dann heißt es kurzerhand: »Der Weg ist zu Ende.«

GATTUNG: Aves maximus

LEBENSRAUM: die Welt

BEINAME: Löwe der Lüfte

BEUTESCHEMA: jeder mit jedem

FABELTAUGLICHKEIT:

MERKMAL: #Feder

NATÜRLICHER FEIND: Angha

FEDERIGOS FALKE

AUTOR: Giovanni Boccaccio

TITEL: Das Dekameron

(aus dem Italienischen von Karl Witte)

ORIGINALFASSUNG: 1313



Mutter, könnt Ihr machen, daß ich Federigos Falken erhalte, so glaube ich in kurzem wieder gesund zu werden.«

Hundert Geschichten enthält Das Dekameron, aber keine ist so bitter wie die neunte Geschichte am fünften Tage, die Fiammetta ihren neun vor der Pest geflohenen Freunden erzählt. Sie hat selbst nicht einmal zehn Seiten und umfasst doch eine wahre Tragödie klassischen Ausmaßes. Die Moral: Man kann das Glück nicht erzwingen, es ist ein Vogerl:

Was für ein Vogerl? Jedenfalls kein Falke, zumindest nicht der des Federigo di Messer Filippo Alberighi, denn der ist ein veritabler Unglücksrabe.

Der junge Florentiner Edelmann verliebt sich in eine Dame namens Monna Giovanna, für die er sich vollends verausgabt: Er schmeißt Feste und nimmt an Ritterturnieren teil. Am Ende hat er nicht nur die Frau nicht erobert (schließlich war sie verheiratet), sondern obendrein alles verloren. In seiner Armut bleibt ihm nur ein Falke, »wie es kaum einen edleren auf der Welt geben mochte«. Mit dem zieht er sich aufs Land zurück und verdingt sich als Vogelfänger.

Nach dem Tod des Gatten der Angebeteten kümmert diese sich um dessen kranken Sohn. Der meint, nur der Besitz des federigoschen Falken könne ihn wieder gesund machen. Die Stiefmutter macht sich also auf den Weg zu Federigo und becirct ihn mit der Ankündigung eines Dates in Form eines Mittagessens bei ihm zu Hause (in Anwesenheit einer Anstandsdame, bitte sehr). Da der Falkner, verarmt, aber aufgeregt, nichts anderes zu Hause hat, muss der edle Vogel herhalten. Dieser sitzt, während sich die Gedanken formen, unpraktischerweise auf einer Stange ausgerechnet im Esszimmer …

Den Rest kann man sich denken. Die Magd rupft, spießt und serviert, der edle Falke mundet, danach erst wird die fatale Bitte ausgesprochen und der Mann bricht in Tränen aus. »Ich glaubte, ihm die beste Stätte bereitet zu haben«, schluchzt er. »Nach diesen Worten ließ er ihr zum Beweise des Gesagten Federn, Fänge und Schnabel des Falken vorzeigen.«

 

Ein zweifelhaftes Happy End folgt dann noch: Das Kind stirbt, und die Stiefmutter nimmt sich letztlich doch noch des so erbärmlichen wie erbarmungswürdigen Vogelmörders an.

Zur Verteidigung der Erzählerin Fiammetta: Es herrscht die Pest in Boccaccioland, die Menschen wollen nichts Trauriges hören. Den Verfasser inspirierte gewiss das einige Jahre zuvor erschienene »Falkenbuch« Friedrichs II., De arte venandi cum avibus. Auch der Stauferkönig galt als arger Schwerenöter. Dass er ebenfalls zu so drastischen Mitteln gegriffen haben könnte wie Federigo (Romanisch für Friedrich!), ist angesichts der doch sehr unterschiedlichen Vermögensverhältnisse der beiden Fritzen freilich nicht anzunehmen.

GATTUNG: Falco

MOTTO: Verdammt, wir leben noch

LEBENSRAUM: Florenz

GESCHMACK: edel

ARTENSCHUTZ: empfohlen

BESTER-FREUND-DES-MENSCHEN-FAKTOR:

FUNKTION: Wingman

ENDE: Schüssel, Spieß

DER VOGEL ROCH

AUTOR: vielleicht Antoine Gallard

TITEL: Tausendundeine Nacht

(aus dem Arabischen von Claudia Ott)

ORIGINALFASSUNG: spätestens 1704



Nach kurzer Zeit wird ein Vogel mit Namen Roch zu dir kommen und dich in seinen Krallen forttragen. Er wird mit dir hoch in den Himmel fliegen. Nach einer Weile wirst du selbst spüren, daß er dich auf einem Berg abgesetzt und losgelassen hat. Sobald du merkst, daß du auf den Berg gelangt bist, schneide die Haut mit dem Messer auf und klettere hinaus.

Die Anweisung im nebenstehenden Zitat könnte aus einem Agententhriller stammen. Eine von denen, die man sich genau merken muss, weil es im Anschluss heißt: »Diese Nachricht zerstört sich in zehn Sekunden selbst.«

Während James Bond also mit falschem Pass in einen Helikopter oder ein Charterflugzeug steigt, ließ man sich in der alten arabisch-persischen Welt in eine Hammelhaut einnähen und fuhr Vogel, um größere Strecken zurückzulegen.

Zum Glück durfte man den Vogel Roch als realistisch betrachten, hatte doch Marco Polo von ihm berichtet. In Wahrheit hatte der italienische Entdecker im Orient einfach eine recht große Feder gefunden, die seine Fantasie beflügelte.

Der Vogel Roch, heißt es, ist soooo grooooß. Er ist so groß, dass er sogar Elefanten durch die Gegend schleppen kann. Folglich ernährt er sich von diesen. In der 57. auf die 58. Nacht wird von ihm in der Geschichte vom Träger und den drei Damen berichtet. Sein noch berühmterer Auftritt, jener von Sinbad, dem Seefahrer, kommt in den ältesten arabischen Handschriften, die Claudia Ott neuerdings ins Deutsche übersetzt hat, gar nicht vor.

Sie geht so: Sinbad wird auf einer Insel vergessen. Daraufhin bindet er sich mithilfe seines Turbans an den Fuß des Vogels Roch (der praktischerweise offenbar gerade zum Auftanken dort gelandet ist). Der Vogel bringt Sinbad in ein Tal voller Diamanten, leider aber auch voller Schlangen. Blöd, wenn man keine Bordkarte hat, die einem das Erreichen eines sicheren Zielorts zumindest auf dem Papier garantiert.

Später entdeckt Sinbad allerdings, dass er den unfreundlichen Vogel gar nicht braucht (unfreundlich deshalb, weil er, als die Kaufleute sein Junges direkt aus dem noch ungeöffneten und natürlich gigantischen Ei stahlen und schlachteten, aggressiv reagierte und ihr Schiff zerschmetterte). Den Menschen, die sich am »äußersten Ende der Welt« befinden, wachsen nämlich immer zu Neumond Flügel. Es war immer schon so: Wer in Sachen Abreisedatum ein bisschen Flexibilität zeigt, zahlt weniger für den Flug.

In allen Geschichten bleibt die Persönlichkeit des Vogels Roch jedenfalls immer eher undurchschaubar. Wie geht es einem so als Monster, das trotzdem immer als lebender Hexenbesen missbraucht wird? Wie ein Turm (unerklärlicherweise teilt sich Roch die Etymologie mit der gleichnamigen Schachfigur) hält der Vogel sein Inneres dicht ummauert.

GATTUNG: Aquila rapax maximus

LEBENSRAUM: Orient

ERNÄHRUNG: Elefanten

FUNKTION: Transportmittel

BERUF: Rochstar

NATÜRLICHE FEINDE: Kaufleute

WWF-FAKTOR:

SCHWINGEN: riesig

EIER: riesig

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