Der Mörder Ihrer Majestät

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Der Mörder Ihrer Majestät
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Martin Cordemann

Der Mörder Ihrer Majestät

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Inhaltsverzeichnis

Titel

001

002

003

004

005

006

007

008

009

010

Impressum neobooks

001

Es

Was?

Da

Nein.

Ich…

„Ist er wach?“

„Nein.“

„Wird er wieder wach?“

„Nei…“

Surren. Leise. Leises Surren. Von… irgendwoher. Leise. Ich…

Ich bin wach. Nicht sehr wach, aber wach. Ich höre ein Summen. Ein leises Summen. Von irgendwoher. Und da ist… Geruch. Ein unangenehmer Geruch. Ein Geruch von Sauberkeit. Von zu starker Sauberkeit. Von vorgetäuschter Sauberkeit? Ein Geruch, der alles andere überdecken soll. Alles, was da vielleicht wirklich ist. Was nicht sauber ist. Es…

Ich bin im Krankenhaus! Das ist es. Es ist ein Krankenhaus. Ich liege in einem Bett…

Liege ich wirklich in einem Bett? Wie viel von mir ist noch übrig? Wenn ich im Krankenhaus bin, ist mir irgendetwas passiert. Wahrscheinlich etwas Schlimmes. Vielleicht bin ich… tot?

Ich schnuppere, der sterile Krankenhausgestank dringt in meine Nase, ich unterdrücke ein Husten. Tot bin ich also nicht. Und im Koma auch nicht. Ich bin wach, ich kann riechen, ich kann hören. Aber kann ich mich bewegen?

Ich versuche es, doch nichts passiert. Ich kann keins meiner Gliedmaßen spüren. Das muss nichts bedeuten – aber ich nehme das Schlimmste an. Dass ich meine Gliedmaßen nicht spüren kann… weil es nicht mehr meine Gliedmaßen sind. Nicht, dass man sie einem Fremden gegeben hätte. Vielleicht sind sie einfach verschwunden. Bei dem, was mich hierher geführt hat. Vielleicht besitze ich meine Gliedmaßen nicht mehr und das einzige, was von mir noch da ist, ist… meine Lungen. Denn die haben den Krankenhausgeruch in sich aufgesaugt. Und meine Ohren. Und mein Gehirn. Der Rest…

Leichte Panikattacke. Schnelle Atmung. Beklemmung. Angstgefühl.

Was, wenn das alles ist? Alles, was von mir noch übrig ist? Ein atmender Kopf. Atemnot. Geräte fangen an zu piepen, jemand stürmt in den Raum, ich

„…mittel gegeben.“

„Warum?“

„Er hatte eine Panikattacke.“

„Wie ist das möglich?“

„Er ist aufgewacht.“

„Haben Sie mit ihm gesprochen?“

„Nein.“

„Sagten Sie nicht, er würde nicht wieder aufwachen?“

„Ich sagte, es wäre nicht unmöglich.“

„Herr Doktor.“

„Ja, Schwester?“

„Er ist aufgewacht.“

„Sie meinen, jetzt?“

„Ja.“

„Kann er uns hören?“

„Das kann er.“

„Wollen Sie ihm etwas sagen?“

„Nein. Dafür ist es noch zu früh. Hat er Schmerzen?“

„Nein.“

„Geben Sie ihm trotzdem ein Beruhigungsmittel.“

„Schwester.“

„Ja, Herr Dokto…“

Surren. Leises Surren. Ich bin wieder wach. Aber keine Stimmen. Niemand da. Niemand der… niemand, den ich hören kann. Vielleicht eine Gestalt im Dunkeln? Im Dunkeln… meiner geschlossenen Augen. Meine Augen? Sind sie wirklich geschlossen? Oder gehorchen sie mir nicht mehr? Sind sie nicht mehr in der Lage, mir Bilder zu zeigen? Werde ich nicht mehr sehen können, wenn ich… wenn ich was? Aufwache? Das bin ich. Aufstehe? Das… werde ich vielleicht nicht. Nicht mehr. Da waren Stimmen. Beim letzten Mal. Jemand, der mich kannte. Sie haben Dinge gesagt… ich weiß nicht mehr als vorher. Nur, dass ich hier liege und atme und etwas neben mir surrt, leise surrt. Ich versuche es, ich versuche, ein Auge zu öffnen. Es klappt nicht. Ich bleibe in der Dunkelheit. Ich versuche, meine Finger zu erspüren, meine Beine, meine Füße. Nichts. Ich kann nicht feststellen, ob sie noch da sind. Mein Mund ist trocken. Ich schlucke. Leichter Schmerz. Rauer Hals. Als wäre etwas darin gewesen. Etwas Hartes. Ein Röhrchen. Um mich zu ernähren. Oder zu beatmen. Jetzt ist es raus. Ich atme alleine. Vielleicht das einzige, was ich alleine kann. Was ist passiert? Es…

„…sich gebessert.“

„Gut.“

„Er hat kurze Phasen, in denen er wach ist.“

„Hat er versucht, zu sprechen?“

„Dafür ist er noch zu schwach.“

„Wann wird er in der Lage sein…“

„Das kann ich noch nicht mit Sicherheit sagen.“

„Tun Sie alles, was Sie für ihn tun können.“

„Ja.“

Piepen. Etwas piept. Automatisch schlage ich danach… doch nichts rührt sich. Ich rühre mich nicht. Meine Hand gehorcht mir nicht. Mein Arm gehorcht mir nicht. Jemand kommt rein. Das Piepen hört auf. Ich

Flüssigkeit. In meinem Mund. Ich ertrinke! Nein. Ich schlucke. Die Flüssigkeit verschwindet. Es kommt keine neue. Zwischen meinen Lippen – ein Strohhalm. Der Halm verschwindet. Jemand hat mir Wasser in den Mund gespritzt. Damit er nicht austrocknet. Dann

Schreie. Von draußen. Jemand schreit. Kehle schnürt sich zu. Panikattacke. Tür. Hilfe. Schlafen

Stille. Das Surren, es hat aufgehört. Alles ist ruhig. Ich lausche. Leise Stimmen. Von fern. Von draußen. Sie gehen vorbei. Ich atme ruhig. Ich habe ein Gefühl. Ein entferntes Gefühl. Vielleicht sind es die Medikamente. Vielleicht ist es die Hoffnung. Aber ich habe das Gefühl, ich fühle etwas. Ich habe das Gefühl, ich fühle meinen Körper. Aber vielleicht bilde ich es mir auch nur ein. Weil ich Angst habe, dass es nicht so wäre, wenn ich wieder aufwache. Dass mein Körper wirklich weg wäre. Dass da nichts mehr von mir wäre, nur mein Kopf, meine Lungen. Schreckliche Vorstellung. Wozu wäre ich dann noch gut? Was könnte ich dann noch machen?

Ich fühle mich wach, fast erfrischt. Als wäre ich aus einem langen, erholsamen Schlaf aufgewacht. Ich atme durch. Noch immer Krankenhaus. Doch etwas hat sich verändert. Ich habe mich verändert. Das Nichts ist verschwunden. Nein, anders herum. Mein verschwundener Körper ist wieder aufgetaucht. Ich fühle ihn. Vorsichtig, noch ein wenig entfernt, aber er ist da. Meine Zehen, ich kann sie fühlen, weit, weit entfernt. Ich spüre meine Beine, das Gewicht, mit dem sie die Matratze herunterdrücken. Ich spüre meinen Hintern, meinen Rücken, meine Arme, meine Hände. Ich spüre meinen Körper, er scheint wieder da zu sein. Ich spüre ihn und ich hoffe, hoffe, dass das keine Einbildung ist, kein Wunschdenken, kein verzweifeltes Festhalten an etwas, das nicht mehr existiert. Ich hoffe es!

Da ist… Licht! Nur ganz schwach. Ja, ich sehe Licht. Nein, ich sehe es nicht, ich nehme es wahr. Meine Augen sind noch immer geschlossen, aber sie scheinen nicht erbildet zu sein. Ich fühle durch die geschlossenen Lider Wärme. Eine helle, rötliche Wärme, als würde die Sonne auf meine geschlossenen Augen scheinen. Ich spüre die Wärme und erkenne das Licht. Es ist ein gutes Zeichen… hoffe ich!

Die Wärme ist weg. Aber das Licht ist noch da. Ein dünner Schein, der durch meine Augenlider dringt. Da draußen ist etwas. Vorsichtig versuche ich, eins der Lider zu öffnen. Es ist schwierig, es ist verklebt. Ich brauche ein wenig. Doch dann ist es offen. Alles ist undeutlich, unscharf. Alles ist weiß. Wenig Konturen, wenig Formen, nur schmutziges Weiß. Krankenhaus. Keine Farben, nur Weiß. Ich beginne, an meinem anderen Auge zu arbeiten, bekomme es auf. Meine Augen haben lange nicht mehr gesehen, müssen sich erst wieder daran gewöhnen. Unscharf. Hell. Undeutlich. Ich schließe die Lider. Öffne sie nach einer Zeit wieder. Ganz langsam. Meine Augen können sich anpassen. Sich scharf stellen. Sehen.

Da ist ein Fenster. Weiße Wände. Weiße Schränke. Weiße Türen. Ein Fuß. Mein Fuß! Er ist da. Ein zweiter daneben. Mein Blick fährt langsam an mir hoch. Meine Hände, meine Arme, alles noch da. Etwas lädiert vielleicht, aber es scheint alles da zu sein, wo es hingehört. Ich seufze. Vor Freude. Was auch immer mir passiert ist, es hat mich nicht aller meiner Körperteile beraubt. Ich seufze, glücklich. Dann…

Dann fällt mir etwas auf. Etwas, das mir vorher nicht aufgefallen war. Etwas, das ich nicht bemerkt hatte. Mein Körper war also noch da – aber wer zum Teufel war ich?

002

Wer war ich? Meine Kehle schnürte sich zu. Panikattacke! Wie konnte das sein? Wie konnte ich… ich atmete schnell, viel zu schnell.

Die Tür ging auf. Jemand kam herein. Sah mich an. Sah meinen Blick.

„Sie sind wach!“ rief er voller Erstaunen.

Meine Attacke hörte nicht auf, ich sah ihn aus weit aufgerissenen Augen an.

Sofort lief er zu etwas außerhalb meines Blickfeldes und kurz darauf ließ die Attacke nach. Meine Atmung beruhigte sich wieder. Dann trat er zurück in mein Blickfeld. Er trug Weiß und lächelte.

 

„Sie sind wach“, wiederholte er. Es schien ihn zu erfreuen. Mich hätte es auch erfreut, wäre mir nicht eine Erkenntnis gekommen, die alles bisher erreichte irgendwie nichtig erscheinen ließ.

Wer war ich?

Ich hatte meinen Körper wieder, wenn man so wollte, aber wem gehörte dieser Körper? Es war meiner, das nahm ich an. Alle Gedanken, die auf etwas anderes schließen ließen, die andere Möglichkeiten eröffneten, verdrängte ich aus meinem Kopf. Obwohl sie einiges erklären würden. Wenn man… meinen Geist genommen und ihn in einen anderen Körper transplantiert hätte. Das würde erklären, warum sich alles so fremd anfühlte, so fern, warum ich nicht wusste, wer ich war. Das hätte bedeutet, dass bei der Übertragung etwas schief gegangen, etwas verloren worden war.

Aber das war idiotisch. Das gab es in Büchern. In alten… Büchern.

Panikattacke!

„Schon wieder?“ rief der Mann in Weiß und verschwand.

Ja, schon wieder. Mein Atem beschleunigte sich. Meine Kehle verengte sich. Wie konnte das alles sein? Dass ich Dinge wusste, Dinge wie Bücher, wie meinen Körper, dass ich Begriffe kannte, Hand, Fuß, Arm, Panikattacke, aber dass ich nicht wusste, wer ich war, wie mein Name lautete? Wie war das möglich? War das überhaupt möglich?

Das Mittel wirkte, meine Atmung beruhigte sich wieder. Zwei Panikattacken in so kurzer Zeit, das war kein gutes Zeichen. Und wenn ich meinen Gedanken weiter folgte, würden es bestimmt nicht die letzten Attacken gewesen sein.

„Sie müssen sich beruhigen“, sagte der Mann in Weiß nun. „Ich will Ihnen kein Schlafmittel geben. Dass Sie wach sind, ist ein gutes Zeichen.“

Ich versuchte zu nicken, war mir aber nicht sicher, ob sich mein Körper auch nur einen Millimeter bewegt hatte. Ich versuchte, ihm mit meinen Augen anzudeuten, dass ich verstanden hatte.

„Sie haben mich verstanden, sehr gut.“ Er nickte. „Sie können Ihren Körper noch nicht bewegen. Das liegt an den Medikamenten. Aber wenn Ihre Genesung weiter so gut voran geht, können wir die Dosis bald verringern.“ Er lächelte. „Sie sind auf dem richtigen Weg.“ Sagte er. Dann ging er.

Ich starrte vor mich hin. Weiße Wand, bleiches Fenster. Dadurch war die Sonne gekommen. Nahm ich an. Die Sonne…

Ich bekämpfte eine weitere Attacke. Ich wollte kein Schlafmittel. Ich wollte wach bleiben. Es war das erste Mal seit langem, dass ich lang genug wach war, um mir Gedanken zu machen. Gedanken, die mich in eine Sackgasse führten. Die mir Angst bereiteten. Nicht die Gedanken selbst, die Schlussfolgerungen.

Ich atmete ruhig und regelmäßig. Ich hatte Kontrolle. Vorerst.

Mein Körper war da. Wie es schien, vollständig. Das war ein Anfang. Es bedeutete nicht, dass er funktionierte. Er konnte einen schweren Schaden davongetragen haben. Wenn es mein Körper war, kam der Gedanke von eben zurück. Was, wenn sie meinen Geist in einen anderen Körper übertragen haben? Ich hätte laut auflachen können, wenn ich meinen Körper unter Kontrolle gehabt hätte. Allein der Gedanke war lächerlich. Absurd. Blödsinnig. Das war Utopie, Science Fiction, Horrorgeschichten. Sowas dachten sich Leute aus, so etwas gab es nicht in der Wirklichkeit. Ich glaubte nicht…

Ich…

Ich?

Wer war ich?

Wer bin ich?

Warum wusste ich das nicht?

Tief durchatmen, langsam atmen, ruhig bleiben.

Ich näherte mich wieder der Schwelle, die zu einer Attacke geführt hatte. Die Schwelle der Erkenntnis konnte man sagen. Oder der Unerkenntnis? Der Erkenntnislosigkeit? Der Ausweglosigkeit. Es kam alles aufs Selbe hinaus.

Durchatmen.

Wo war das Problem? Ich wusste nicht, wer ich war, na und? Das war schon anderen Leuten passiert…

Das war die Stelle, Erkenntnis, durchatmen!

Woher wusste ich das?

Das war die Frage, das Problem, der Auslöser der Attacke. Wenn ich nicht wusste, wer ich war, woher wusste ich dann diese anderen Dinge? Woher wusste ich, dass ich einen Körper hatte? Und dass er nicht funktionierte? Dass ich ihn nicht fühlen konnte? Was „fühlen“ war? Dass es einen Arm, ein Bein, ein Ohr, eine Lunge gab und dass diese Dinge so hießen? Woher kannte ich so etwas wie den Begriff „Science Fiction“? All das ergab keinen Sinn!

Durchatmen, aufs Atmen konzentrieren.

Atmen!!!

Atmen!

Atmen.

Mein Körper war da. Ja. Aber mein Geist… was war mit meinem Geist? Warum wusste ich nicht, wer ich war? Wie konnte ich etwas so wesentliches vergessen?

Oder… hatte ich es nie gewusst?

Neue Bilder, neue Ideen stürzten auf mich ein. Was, wenn ich kein Mensch war? Sondern ein Roboter? Was, wenn man mich gerade geschaffen hatte? Programmiert mit einem umfangreichen Gedächtnis – aber ohne einen Namen! Das würde alles erklären.

Fast alles.

Warum sagte ich mir dann ständig, dass das der Stoff war, aus dem man Science Fiction Geschichten machte, Geschichten, die ich in meiner Kindheit gelesen hatte. Warum hatte ich eine Kindheit gehabt, wenn man mich gerade erst erschaffen hatte?

Ich seufzte. Je mehr ich mich mit diesen phantastischen Geschichten befasste, umso ruhiger wurde ich. Das war alles so unrealistisch, so weit her geholt, dass mich der bloße Gedanke daran beruhigte. Das gab es nicht. Das hatte man sich nur ausgedacht. Das war keine Wirklichkeit. Würde es vielleicht niemals werden. Es waren Geschichten. Es waren… Zukunftsgeschichten.

Wieder ein Ansatzpunkt für eine Attacke. Ich atmete durch.

Die Zukunft. Offenbar hatte ich in meiner Kindheit, an die ich mich selbst nicht erinnern konnte, viel zu viele von diesen Geschichten gelesen und nun lief meine Phantasie Amok und präsentierte mir ein unwahrscheinliches Szenario nach dem anderen. Also die Zukunft, liebe Phantasie, was hast du mir zu der Zukunft zu erzählen und warum ist das ein Wort, das sich gerade darauf hinentwickelt, ein neuer Auslöser zu werden?

Weil die Zukunft Dinge möglich macht!

Was sollte das bedeuten, die Zukunft macht Dinge möglich? Dinge, die in meiner Kindheit… Science Fiction waren. Und unmöglich. Aber was, danke, Phantasie für deine aufdringliche Einmischung, wenn ich mich nicht mehr in meiner Zeit befand sondern in der Zukunft? Wenn ich einen Unfall gehabt und man mich auf irgendeine Weise haltbar gemacht und erst in der Zukunft wieder „aufgetaut“ hatte? Dann konnte all das Wirklichkeit geworden sein, dass man… meinen Geist in einen Roboterkörper ohne Vergangenheit gesteckt hatte.

Ein lautes Lachen hallte durch mein Zimmer, mein Lachen!

Das war nicht nur zu lächerlich, es hatte mich auch aus meiner Lähmung befreit. Und von meinen Angstzuständen. Ich lachte, bis ich vor Lachen keine Luft mehr bekam – ein gutes Zeichen. Fand ich jedenfalls. Der Mann in Weiß schien anderer Ansicht zu sein.

„Soll ich Ihnen ein Beruhigungsmittel geben?“ fragte er unsicher. Es schien nicht so oft vorzukommen, dass hier jemand laut auflachte, besonders niemand, der unter Panikattacken litt. Das schien ein sehr widersprüchliches Bild von mir aufzubauen.

Ich versuchte, den Kopf zu schütteln, aber es gelang mir nicht. Auch sprechen war nicht möglich. Ich machte Geräusche, in der Hoffnung, dass sie beruhigend auf ihn wirkten. Ich beruhigte ihn?! Das war mehr als seltsam. Aber er schien zu verstehen und nickte mir zu.

„Ich sage dem Oberarzt bescheid, der wird sich freuen. Sie sind auf dem besten Weg.“ Dann war er wieder verschwunden.

Und ich war allein.

Mit meinen Gedanken.

Aber ohne meinen Namen.

Oder meine Vergangenheit.

Ohne zu wissen, wer ich war.

Aber immerhin hatte ich etwas herausgefunden. Etwas starkes, bedeutendes: Ein Mittel gegen meine Angstzustände. Wann immer sich meine Kehle zuschnürte musste ich mir nur die abstrusesten Ideen ins Gedächtnis rufen und dann würde das Lachen mich retten. Jedenfalls hoffte ich das!

Mein Traum wurde unterbrochen. Oder war es ein Traum, der die Wirklichkeit unterbrach? Ich wusste es nicht. Vor mir standen drei Männer, ihre Gesichter hingen in der Luft, sahen auf mich hinunter.

„Ist er das?“

„Das ist er.“

„Ganz sicher?“

„Wir haben einen Abgleich gemacht.“

„Es gibt keinen Zweifel.“

„Er ist es.“

„Dann haben wir ihn wieder.“

„Ja.“

„Bereiten Sie ihn vor.“

„Sollen wir wirklich?“

„Aber natürlich.“

„Ist das nicht…“

„Es ist das Mindeste, was wir für ihn tun können.“

„Hat er all das wirklich getan?“

„Das hat er.“

„Dann… sollten wir fortfahren.“

„Machen Sie sich immer klar, dass er diese Behandlung verdient hat.“

„Jawohl.“

Die Gesichter verschwanden im Dunst und die Angst schlich sich an mich heran. Was wollte man mit mir tun? Was hatte ich getan? War ich vielleicht ein Mörder? Ein Attentäter? Ein Feind des Staates? Hatte ich grausame Dinge getan und nun hatte man mich gefasst? Wartete ich hier auf meine Hinrichtung? Versorgte man mich vorher medizinisch, damit ich die Hinrichtung auch so richtig wahrnehmen konnte? Was hatte man mit mir vor? Was hatte ich getan? Das Lachen war verschwunden, die Angst war wieder da… das Beruhigungsmittel tat seine Wirkung.

Als ich aufwachte, war der Traum verschwunden. Leiser Donner drang von draußen herein. Ein Gewitter, vermutlich.

„Das sind nur die Bomben“, sagte eine Stimme aus der Dunkelheit. „Sie müssen sich keine Sorgen machen, all das ist weit entfernt.“

Ich musste mir keine Sorgen machen… aber ich machte mir welche. Weil ich nicht wusste, wer ich war und was ich getan hatte.

„Alles wird gut werden“, sagte die Stimme. „Wir werden Sie heilen. Sie werden noch ein langes Leben haben.“

Ein langes Leben? Also keine Hinrichtung im Morgengrauen? War ich kein Mörder, der seine gerechte Strafe bekam? Ich wünschte, ich wüsste, wer ich war. Aber vielleicht war ich ja nicht der einzige. Vielleicht wusste niemand hier, wer ich war? Vielleicht war ich an einem Ort gestrandet, an dem niemand mich kannte – und wo mir niemand sagen konnte, wer ich war? Vielleicht würde ich es dann niemals erfahren…

Ich war wieder einmal in einen Dämmerzustand hinabgeglitten. Als ich diesmal aufwachte, sah ich in ein strahlendes Gesicht. Nicht das Gesicht des Mannes in Weiß, ein anderes Gesicht – und es schien sich zu freuen, mich zu sehen.

„Dich kann wirklich nichts umbringen, oder?“ fragte es grinsend. Ich versuchte zu antworten, aber das Gesicht winkte ab. „Ich weiß, du kannst noch nicht sprechen, das wird wohl noch ein paar Tage dauern.“

Endlich einmal eine Diagnose. Er sah aber nicht so aus, als wäre er Arzt, also wusste ich nicht, wie viel ich auf sein Wort geben konnte. Er verhielt sich auch nicht wie ein Arzt, eher wie ein… Freund. Er schien den fragenden Ausdruck auf meinem Gesicht zu bemerken.

„Du weißt doch, wer ich bin, oder?“

Mein Gesichtsausdruck verriet ihm, dass dem nicht so war.

„Oh meine Güte… kannst du dich an irgendwas erinnern?“

Ich wollte den Kopf schütteln, aber wieder musste mein verneinender Gesichtsausdruck ausreichen.

„Damit hatte ich nicht gerechnet, Junge“, sagte das lächelnde Gesicht nun. „Sicher, ich wusste, dass es dich schwer erwischt hat, aber das…“ Er zuckte die Schultern. „Aber wenigstens bist du noch am Leben, was?“ Er wollte mir auf die Schulter klopfen, wie zur Aufmunterung, aber der Mann in Weiß oder ein anderer Mann in Weiß hielt ihn zurück. Es war schwer zu erkennen, die weiße Figur befand sich ganz am Rand meines Blickfelds. Und ich konnte den Kopf nicht bewegen, um mein Gesichtsfeld zu erweitern. „Ruh dich gut aus“, sagte das lächelnde Gesicht. „Die sorgen hier gut für dich. Und in ein paar Wochen bist du wieder auf den Beinen.“

Ich war mir ziemlich sicher, dass das gelogen war. Auch, wenn ich nicht wusste, wer ich war, ich hatte so einen Instinkt dafür, wenn man mir etwas vormachte.

„Sie sollten jetzt vielleicht lieber…“ sagte eine Stimme außerhalb des Blickfelds.

„Ja, Sie haben wahrscheinlich recht. Ich wollte nur mal sehen, ob es wirklich stimmt.“ Das lächelnde Gesicht beugte sich über mich. „Sag mir bescheid, wenn die hier nicht gut für dich sorgen!“ Es entfernte sich wieder. „Und gute Besserung, du Held!“ Es lächelte mir noch einmal zu und verschwand dann. Nur seine Stimme blieb mir noch einen Moment, während sie sich langsam entfernte: „Sorgen Sie dafür, dass er sich schnell erholt. Tun Sie alles für ihn. Er hat es verdient. Er ist der Held der…“ Die Tür hatte sich geschlossen und die Worte waren zu undeutlich geworden.

 

Ich seufzte, eins der wenigen Dinge, die ich tun konnte. Seufzen und lachen. Nach Lachen war mir im Moment nicht zumute. Obwohl es das vielleicht sein sollte. Denn wenn ich auch nicht wusste, wer ich war, so gab es offensichtlich jemanden, der das tat. Einen Freund. Meinen Freund! Ein freundliches, lachendes Gesicht, das mich als… als Helden bezeichnet hatte.

Das gab mir ein wenig zu denken. Eigentlich war das etwas, worauf man stolz sein sollte. Ich war ein Held. Möglicherweise hatte ich großes vollbracht. Ich wusste es nicht. Ich wusste nicht, warum man mich als Held bezeichnen sollte.

Oder hatte es mit dem Grund zu tun, warum ich hier war? Stand meine Heldentat, wenn ich denn eine vollbracht hatte, in direktem Zusammenhang damit? Hatte ich mir meine Verletzungen dabei zugezogen? Oder war ich schon vorher ein Held gewesen und das hier hatte ich mir bei einem gewöhnlichen Haushaltsunfall zugezogen?

Ich wusste nicht, welche Geschichte ich bevorzugen sollte? Die, dass mich meine Heldentaten in diese Situation gebracht hatten. Oder die, dass ich ein großer Held war, der dann in seiner Freizeit gestrauchelt war, bei irgendeiner sportlichen Tätigkeit oder dergleichen. Möglich war beides – oder nichts davon.

Ich atmete tief durch!

Es war äußerst deprimierend, wenn einem die eigene Geschichte fremd war. Wenn man nicht die geringste Ahnung hatte, warum die Leute einen behandelten, wie sie einen behandelten.

Der Mann in Weiß erschien. Ich hatte ihn nicht hereinkommen hören, meine Gedanken hatten mich abgelenkt. Vielleicht war ich deshalb hier, weil mich meine Gedanken abgelenkt hatten, während ich etwas Wichtiges hätte tun sollen und dann hatte ich nicht aufgepasst und der Unfall oder was auch immer war geschehen. Hatte es sich so abgespielt?

„Sie sind auf dem richtigen Weg“, sagte der Mann in Weiß, doch langsam schien das wie eine Floskel zu wirken. Ich war auf dem richtigen Weg, alles würde besser, bald war alles wieder gut. Glaubte man selbst daran, wenn man es nur oft genug hörte? Ja, würde es wahr werden, nur weil man es oft genug hörte? Das wäre ein riesiger Fortschritt für die Medizin gewesen. Wenn man sich wirklich nur noch einreden musste, dass man gesund würde, dann würde man sich viele schwierige Operationen ersparen können. „Es ist wichtig, dass Sie auch selbst daran glauben.“ Da hatten wir es, das Eingeständnis der Medizin, dass sie sich überlebt hatte und nun die Selbstregeneration regierte – solange man nur daran glaubte. „Sie haben großes geleistet!“ Aber was? Was hatte ich geleistet? „Sie sind ein wahrer Held!“ Warum? Wofür? Wie hieß ich?

Der Mann in Weiß verschwand und ließ die Wand in Weiß zurück. Sie war das einzige, was mir Gesellschaft leistete. Sie und das bleiche Fenster. Es schien ein trüber Tag zu sein. Oder war es Nacht, und was das Fenster erleuchtete, waren die Laternen? Gab es hier Laternen? Wo war dieses Krankenhaus? Wo war ich? Wer war ich? Was…

„Es ist leider unumgänglich, Ihnen Beruhigungsmittel zu verabreichen“, hörte ich eine Stimme sagen und öffnete vorsichtig die Augen. Ein neuer Mann in Weiß stand vor mir, möglicherweise der Arzt. „Es sieht so aus, als hätten Sie noch immer hin und wieder Angstattacken“, sagte er. „Um sicher zu gehen, dass Ihnen nichts passiert, leiten wir dann Beruhigungsmittel in Ihr System. Wir wollen, dass Sie bald genesen. Sie sind uns sehr wichtig.“

Ich versuchte, etwas zu sagen, doch es kam nur unverständliches Gekrächze aus meinem Mund.

„Es ist ein gutes Zeichen, dass Sie versuchen, zu sprechen“, meinte der Arzt, „aber im Moment sind Sie noch zu geschwächt dafür. Aber versuchen Sie es weiter, es ist wichtig, dass Sie nicht aufgeben.“

Es war immer wichtig, dass man nicht aufgab. Aufgeben war etwas für Schwächlinge! Wer aufgab, konnte sich direkt selbst aufgeben.

„Sie haben… woran können Sie sich erinnern?“

Ohne, dass ich dafür etwas tun musste, wurde mein Gesicht eine verzweifelte Masse.

„Sie haben also Schwierigkeiten, sich zu erinnern?“

Die Verzweiflung blieb.

„Wissen Sie, wo Sie sich hier befinden?“

Leeres Gesicht.

„Wissen Sie, warum Sie hier sind?“

Leeres Gesicht.

„Wissen Sie, wer ich bin?“

Leeres Gesicht.

„Wissen Sie, wer Ihr Freund ist?“

Leeres Gesicht.

„Wissen Sie… wer Sie sind?“

Die Verzweiflung kehrte in meine Augen zurück. Der Arzt erkannte sie.

„Sie wissen also nicht einmal, wie Sie heißen?“

Noch mehr Verzweiflung.

„Das tut mir so leid“, sagte er leise. „Ich, ich hoffe, dass wir etwas dagegen tun können. Wir können fast alles heilen, wissen Sie, aber das…“ Er seufzte und innerlich tat ich es ihm nach. „Wir werden alles in unserer Macht stehende tun, damit Sie wieder der werden, der Sie waren, bevor…. bevor das hier passiert ist.“

Er nickte mir noch einmal tröstend zu, dann war er verschwunden. Ich hörte die Tür ins Schloss fallen. Ich war allein. Mit mir. Mit jemandem, den ich nicht kannte. Über den ich nichts wusste. Den ich aber auch nicht fragen, nicht kennenlernen konnte. Die einzigen Menschen, die mir hätten sagen können, wer ich war, waren gegangen. Sie hofften, dass meine Erinnerung zurückkommen würde. Ich hoffte es auch. Es war furchtbar, in Ungewissheit zu leben. In der Ungewissheit, wer ich war.

Dunkle Gedanken füllten meine Träume. Sie warfen ihre langen Wurzeln aus und rankten sich hinüber bis in den Tag. Ich hatte das Gefühl… es war nicht wirklich eine Erinnerung, die zurückgekehrt war, es war eher ein ungutes Gefühl. Das ungute Gefühl, dass dort draußen vielleicht nicht alles so weiß und hell war, wie in meinem Krankenzimmer.

Irgendetwas Dunkles, Beklemmendes schnürte mir die Kehle zu. Hatten wir Krieg? Ja, da war… eins der Gesichter hatte so etwas gesagt. Nicht das Wort Krieg, aber etwas über Bomben. Die Gewitter. Es hatte mehrere gegeben, seit ich das erste Mal wach geworden war. Erst hatte ich dem keine Bedeutung beigemessen, doch inzwischen hatte ein Gefühl der Beklemmung von mir Besitz ergriffen. Die Welt war anders, anders als sie sein sollte. Sie war düster und grausam und blutig und böse. Oder bildete ich mir das vielleicht nur ein? War das alles nur ein schlechter Traum, der jetzt versuchte, mein Denken zu beeinflussen? Ich wusste es nicht. Aber ich hatte ein ungutes Gefühl.

Die Sonne schien, die Gewitter waren verstummt, mein großer Zeh juckte. Das waren gute Neuigkeiten. Ich war auf dem Weg der Genesung. Nur noch ein paar Wochen oder Monate und ich konnte wieder dort hinaus und… tun, was immer ich früher getan hatte.

Es war müßig, sich Gedanken darüber zu machen, was mein Beruf gewesen war. Und ich war mir ziemlich sicher, dass ich ihn nun nicht mehr würde ausüben können. Wenn ich wieder laufen lernte, war das ein Wunder. Das Atmen fiel mir inzwischen leicht und ich hatte schon lange keine Panikattacke mehr gehabt. Nach und nach kehrte auch das Gefühl in meine Beine und Arme zurück. Nur die Erinnerung, die blieb nach wie vor verschüttet.

Hatte ich einen Beruf gehabt, bei dem ich auf meine Erinnerung angewiesen war? War ich Pilot? Oder Arzt? Nun, dann konnte ich mich wohl bald nach einem neuen Betätigungsfeld umsehen.

Ich sah auf das Fenster. Es war nicht durchsichtig, aber warme, orangene Sonnenstrahlen fanden trotzdem ihren Weg hindurch und zu mir. Fenster, Arm, Sonne, für alles gab es einen Namen. Nur für mich gab es keinen.

Doch, es gab einen. Aber man hatte ihn mir noch nicht gesagt. Nicht, dass das einen Unterschied gemacht hätte. Ich hatte vieles vergessen, selbst den Namen meines „Freundes“, der sich so gefreut hatte, mich lebendig zu sehen.

Ich hätte natürlich spekulieren können, wie ich hieß, aber das war blödsinnig. Es führte zu nichts. Sollte ich mir vorstellen, dass ich Frank hieß, nur um dann wenig später festzustellen, dass mein Name Peter war? Nein, es brachte nichts, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Aber warum sagte man mir nicht, wer ich war? Wäre das ein zu großer Schock? War es nicht Schock genug, dass ich nicht wusste, wer ich war? Oder hatte es einen Vorteil, dass ich darüber im Dunkeln tappte?

Meine ersten Worte waren mehr ein Husten, aber der Arzt konnte sie verstehen. Jedenfalls tat er so. Es war auch der Tag, an dem mein „Freund“ wiederkam.

„Ich hatte eine Menge zu tun, tut mir leid, dass ich jetzt erst wiederkomme“, sagte er.

„Uaahh“, war meine etwas vage Antwort.

Mein „Freund“ sah den Arzt an, oder er sah in die Richtung, aus der zuvor seine Stimme gekommen war.

„Er kann sprechen?“

„Es ist ein Anfang.“

„Freund“ strahlte mich an. „Wenn du so weitermachst, singst du uns in ein paar Tagen was vor.“

Erst laufen, jetzt singen, was als nächstes? Fliegen? Musste man einem Patienten unrealistische Versprechungen machen? Nahm man an, dass er zu krank war, um zu verstehen, dass das nur leeres Gerede war? Oder sollte das aufmuntern, stimulieren, dafür sorgen, dass der Heilungsprozess schneller voran ging?

„Du machst dir zu viele Gedanken“, sagte „Freund“. „Und du weißt wirklich nicht, wer ich bin?“