Reine Nervensache

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09 »Herr Pfeffer«, Bambis Stimme hatte wieder das puffige Timbre. »Welch angenehme Überraschung!« Sie sah kurz zu Paul Freudensprung hinüber. »Kommissar Freudensprung, soso.« Sie drehte den Männern den Rücken zu und verschwand federnden Schrittes im Dunkel ihrer Villa. Sie war barfuß und trug nur ein hauchzartes buntes Tuch, das sie oberhalb ihrer Brüste zusammengeknotet hatte. Ihr kläffender Minihund hüpfte hinter ihr her. Die beiden Männer folgten der Witwe in das kühle, dunkle Innere der weißgetünchten Flachdachvilla. Bambi Veicht führte sie durch das großzügige Foyer in ein noch großzügigeres Wohnzimmer, dessen Jalousien heruntergelassen waren. Nur durch eine offene Terrassentür fiel ein Keil grellen Sonnenlichts. »Kommen Sie, meine Herren, wir sind am Pool.«

Pool war eine charmante Untertreibung für die Wasserlandschaft aus mehreren Becken unterschiedlicher Größe, die sich hinter der Terrasse ausbreitete. Das Anwesen der Veichts in Pullach lag direkt am Hochufer der Isar. Schwere, mit blühenden Schlingpflanzen bewachsene Eisenzäune sicherten den steilen Abhang zum Fluss hinunter. Dichte Büsche zu den Nachbarn und zur Straße hin verhinderten neugierige Blicke. Der große Garten war praktisch uneinsehbar, es sei denn, man stand mit einem starken Fernglas auf einem hohen Baum auf der anderen Isarseite. Rund um das Schwimmbecken standen große Terracottakübel mit blühenden Oleandern in unterschiedlichen Farben und prächtigen Margeritenbäumchen.

Im größten Schwimmbecken zog ein Mann langsam und konzentriert seine Bahnen. Die Wasseroberfläche reflektierte zu stark, als dass man ihn hätte erkennen können. Bambi zog die Aufmerksamkeit der Polizisten auf sich, indem sie ihr Tuch fallen ließ und sich auf einer Liege ausstreckte, die von einem großen Sonnenschirm beschattet wurde. Sie trug nur ein knapp geschnittenes, goldenes Bikinihöschen. »Setzen Sie sich doch, meine Herren. Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?« Sie deutete auf einen kleinen Teewagen, der im Schatten eines weiteren großen Sonnenschirms stand. Dort steckte eine Champagnerflasche in einem Kübel Eiswürfel.

Pfeffer schlenderte hinüber und schenkte sich ein Glas ein. Wenn es schon angeboten wurde … »Du auch, Paul?«, fragte er und unterdrückte den Impuls, nach dem kläffenden Yorkshire-Terrier zu treten. Irgendwie gefiel ihm hier das ganze Drumherum, die Atmosphäre zwischen Künstlichkeit und Natur pur, zwischen Klasse und Kitsch. Er schnupperte an einem rosa Oleander und bemerkte dabei, dass das Margeritenbäumchen daneben voller verwelkter Blüten war. Sofern es hier einen Gärtner geben sollte, arbeitete der schlampig.

»Wie?« Freudensprung konzentrierte sich so sehr darauf, nicht auf Bambis Brüste zu starren, dass er Pfeffers Frage zunächst nicht verstanden hatte. »Äh, nein danke.«

»Es stört Sie doch nicht, dass ich hier so freizügig bin, in meinem eigenen Garten?«, fragte Bambi übertrieben kokett und versuchte so etwas wie einen frechen Augenaufschlag. Doch ihre bothox-gelähmten Gesichtsmuskelpartien ließen einfach keine überzeugende Mimik zu. »Ich bade gerne textilfrei. Apropos, meine Herren, da ist der Pool! Handtücher gibt es zu genüge. Wenn Sie also eine kleine Abkühlung wünschen?«

»Danke.« Freudensprung hatte diesmal aufgepasst und sich wieder im Griff. Er versuchte dieselbe Coolness wie sein Chef an den Tag zu legen. »Wir haben unsere Badehosen nicht dabei.«

»Das macht doch nichts!« Bambi räkelte sich und sah Pfeffer an. Ihre prallen Brüste machten die Bewegungen kaum mit. Der kleine Hund hatte die Kläfferei satt und verkroch sich hechelnd in den Schatten unter Frauchens Liege.

»Stimmt«, antwortete der Kriminalrat. »Das Wasser sieht wirklich verlockend aus. Doch wir haben noch einiges zu tun heute. Vielleicht ein andermal. Weshalb wir hier sind, Frau Veicht …«

»Für Sie Bambi.«

»Frau Veicht.«

»Sind Sie immer so hartnäckig?«

»Ja. Also, Frau Veicht, wir wissen nun, dass Ihr Mann am Montag zwischen achtzehn und zwanzig Uhr ermordet wurde. Hier nun die Frage, die Sie erwartet haben: Haben Sie ein Alibi für diese Zeit?«

»Natürlich, Herr Kriminalrat Max Pfeffer.« Bambi setzte sich auf und rief in Richtung Pool: »Wanja, kommst du mal bitte! Wanja!« Sie lehnte sich wieder zurück. »Montag waren Wanja und ich den ganzen Abend zu Hause. Es war so ein herrlicher Abend, wir lagen hier am Pool, bis die Sonne unter gegangen ist. Wir haben gegrillt. Hummer und Rostbratwürstchen. Nur wir zwei.«

»Und Wanja wird das sicherlich bestätigen können?«

»Sicher, fragen Sie ihn. Wanja Woroschin.« Bambi deutete hinter Pfeffer. Der Kriminalrat drehte sich um und sah den Mann aus dem Pool steigen. Der Glatzkopf, der neulich im roten Mercedes-Cabrio vor dem Büro von Veicht-Productions gewartet hatte, wischte mit ein paar schnellen Handbewegungen Wasser von seinen Armen und Beinen und richtete sich auf. Er war groß, splitternackt und extrem muskulös. Max Pfeffer, der im Prinzip nichts gegen den Anblick eines großen, splitternackten, muskulösen Mannes hatte, musste kurz wegsehen – zu sehr gefiel ihm das, was er da sah. Eine dunkle Phantasie drängt sich aus dem hintersten Winkel seines Gehirns nach vorne. Du bist keinen Deut besser als Gaudi, Pfeffer, schalt er sich selbst.

Der Muskelprotz machte ein paar Schritte auf Pfeffer zu, nickte erst Freudensprung, dann dem Kriminalrat zu und stellte sich abwartend, die Hände in die Hüften gestemmt, in die pralle Sonne. Auf den ersten Blick schien er auf der Brust stark behaart zu sein. Beim näheren Hinsehen konnte man jedoch erkennen, dass es keine Haare waren, die sich von seiner glattrasierten Scham über den Nabel hinauf zum Brustkorb zogen, sondern ein Tattoo aus lauter kleinen, kunstvoll ineinander verschlungenen Linien, die eine Intim- und Brustbehaarung wirkungsvoll imitierten.

»Alles klar, Bambi?«, fragte Wanja mit kratziger Stimme und hartem russischem Akzent.

»Sicher. Das hier sind Herr Freudensprung und Max Pfeffer von der Polizei. Ich habe dir doch schon von Herrn Pfeffer erzählt, du erinnerst dich? Erzähl den Herren doch bitte, was wir am Montagabend gemacht haben.«

»Alles?«, fragte Wanja mit anzüglichem Grinsen und ließ seine Zunge kurz über die Oberlippe gleiten. Bambi senkte kichernd den Blick. »Wir waren den ganzen Nachmittag und auch Abend hier am Pool. Nur wir zwei. Später haben wir noch gegrillt und dann wird es doch zu intim fürs Protokoll.«

»Komm aus der Sonne, mein Schatz, du verbrennst dich noch total«, sagte Bambi. Der Muskelprotz, obwohl so braungebrannt, dass ein Sonnenbrand kaum mehr möglich war, folgte artig und setzte sich zu ihr auf die Liege. Sie tupfte mit einem Handtuch seine Schultern ab.

Wanja sah hinüber zu Pfeffer. »Bambi und ich sind seit einem halben Jahr zusammen«, sagte er ungefragt und Pfeffer wunderte sich, warum der Russe ihn dabei so musterte. »Krem mir bitte den Rücken ein, Schatz«, sagte Wanja und setzte sich extrem breitbeinig hin. Bambi tat, wie ihr geheißen und verteilte hingebungsvoll den Sonnenschutz auf den breiten Schultern. Wanjas Blick, eindeutig und gleichzeitig mehrdeutig, blieb die ganze Zeit bei Pfeffer. Langsam dämmerte es dem Kriminalrat. Wanja Woroschin markierte einerseits sein Revier und machte gleichzeitig ein Angebot. Pfeffer musste grinsen. Der Russe zog seinen rechten Mundwinkel einen Hauch nach oben und zwinkerte kaum merklich. Pfeffer sah kurz zu Boden und hob dann den Blick, erst zu Bambis, dann zu Wanjas Augen. Dann ein schneller Blick zur Seite und zurück zu Bambi und Wanja. Flirtcheck. Keine Frage, er hatte beste Chancen.

»Okay, für Sie bin ich Russe«, fuhr der Muskelmann fort. »Aber ich bin Deutscher. Verstehen Sie? Russlanddeutscher. Ich weiß natürlich, was das für Sie bedeutet. So einer steht doch für Sie mit einem Bein im Knast. Aber ich habe mein Geld bisher immer ehrlich verdient.«

»Und wie?«, fragte Pfeffer.

»Damit.« Wanja nahm seinen Schwanz in die Hand, doch Pfeffer folgte der Handbewegung nicht sondern sah ihm direkt in die Augen.

»Wanja, bitte«, mischte sich Bambi ein und bedeckte mit ihrer rechten Hand das Genital des Russen. »Er war Erotikdarsteller. Ein sehr talentierter. Vielleicht kennen Sie seine Arbeit? Ich glaube allerdings kaum, denn das war in den frühen Neunzigern und seine Filme waren hauptsächlich nur im russischen Raum verbreitet. Sein Künstlername war Boris Molotow. Das ist nun lange vorbei! In letzter Zeit hat Wanja viel als Barkeeper gearbeitet. Nur in den wirklich angesagten Läden. Und nun möchte sich Wanja selbständig machen mit einem eigenen Club, etwas ganz Exklusives. Er ist weder Mafiosi noch Zuhälter noch ein Mörder. Denn das ist es doch, was Sie vermuten.«

»Ich vermute gar nichts. Mein Kollege wird trotzdem Ihre Personalien aufnehmen.« Pfeffer trank sein Champagnerglas aus, gab Freudensprung einen Wink und wandte sich zum Gehen. »Danke für die Auskünfte.«

»Beehren Sie uns bald wieder, Herr Pfeffer«, rief Bambi den Polizisten hinterher. »Der Pool wartet auf Sie, Herr Pfeffer, heute Abend, wenn Sie wollen. Kommen Sie auf eine kleine Abkühlung und einen Snack vorbei! Etwas Champagner! Und lassen Sie ruhig Ihren Kollegen daheim.«

»Ganz reizend!«, rief Freudensprung deutlich vernehmbar zurück.

»Wie kann die es wagen?!«, echauffierte sich Paul Freudensprung auf der Fahrt zurück in die Stadt. »Glaubt die, nur weil sie Geld bis zum Abwinken hat und aufgespritzte Titten, dass sie sich alles erlauben kann?!«

»Ist gut, Paul. Überlass die beiden mir. Da ist was gar nicht koscher.«

»Willst du etwa die Einladung zur nächtlichen Poolparty annehmen?«

»Wer weiß«, antwortete Pfeffer. Es klang geheimnisvoller, als es gemeint war, denn er wusste es wirklich nicht. In seinem Innersten tobte und zerrte etwas.

 

Freudensprung sog Luft tief in die Lungen und ließ sie geräuschvoll wieder entweichen. »Du weißt, wie das enden wird?« Er schüttelte den Kopf.

»Nein. Ehrlich gesagt, weiß ich das nicht«, gab Pfeffer unumwunden zu. Er lenkte den Dienstwagen auf den Parkplatz des Max-Planck-Instituts am Schwabinger Krankenhaus. Sie hatten einen Termin mit Doktor R. Södermann, dem Mann, der nach Auskunft von Dieter Koziol der Nutznießer von Veichts großzügigen Spenden an das Institut war.

»Guck mal, wie passend«, meinte Freudensprung, als sie die Eingangstür öffneten. Er deutete auf das Schild, das darüber informierte, dass sich hier nicht nur das psychiatrische Institut, sondern auch die Angst-Ambulanz befand.

»Ich habe schon mal Filme mit Boris Molotow gesehen«, sagte Freudensprung grimmig, während sie den langen, aseptisch wirkenden Flur auf der Suche nach Raum E-143 entlang gingen. Ein ältliches, welkes Security-Männlein hatte sie am Eingang misstrauisch beäugt und ausgiebig die Dienstausweise studiert. Dann hatte er ihnen den Weg beschrieben und sie telefonisch angekündigt. »Ich habe diesen Wanja Woroschin nur nicht gleich als Boris Molotow erkannt, weil ich bei Erotikfilmen für gewöhnlich nicht auf die Kerle glotze.«

»Schon klar, Gaudi«, sagte Pfeffer. »Deshalb erinnerst du dich an ihn …«

Freudensprung verdrehte die Augen. »Die Kerle in den Filmen kann man halt nicht übersehen! Zwangsweise. Ich kann mich hauptsächlich an seinen Namen erinnern, weil ich den so blöd fand. Boris Molotow! So ein Schmarrn.«

»Schon klar!« Pfeffer lachte. Sie hatten Raum E-143 erreicht und klopften an. Eine freundlich lächelnde Frau, die Ende dreißig sein mochte, riss schwungvoll die Türe von innen auf.

»Oh, die Herren von der Kriminalpolizei, wenn ich nicht irre?« Sie schüttelte den Beamten die Hände und bat sie ins Büro. Ihr fester Händedruck verriet Pfeffer, dass er es mit einer engagierten, tatkräftigen Person zu tun hatte. »Doktor Ruth Södermann mein Name, aber das haben Sie sich sicher schon gedacht.«

Keiner der beiden Polizisten hätte es sich gedacht, da sie hinter dem Kürzel R. Södermann automatisch einen Mann vermutet hatten.

»Nehmen Sie bitte Platz. Kaffee?« Sie wartete keine Antwort ab und schenkte in zwei angeschlagene, gelbe Becher mit »Atomkraft – Nein danke!«-Aufdruck Kaffee aus einer trüben Kanne. »Milch? Zucker?« Sie flitzte in ihrem Büro umher und holte aus einem Aktenschrank eine Tüte Zucker sowie kleine Portionsdöschen Kaffeesahne aus dem untersten Schreibtischschubfach. Endlich setzte sich Doktor Ruth Södermann auf ihren abgewetzten Schreibtischstuhl. Schon in den wenigen Minuten ihres Hierseins hatte es die Wissenschaftlerin geschafft, die Polizisten völlig nervös zu machen. Sie fuhr sich durch die dichten schulterlangen roten Locken, die ihr etwas Freches, Mädchenhaftes verliehen.

»So, Sie sind versorgt. Womit kann ich noch dienen?« Doktor Södermann legte die Unterarme auf den Schreibtisch und faltete erwartungsvoll die Hände. »Wie ich hörte, ist meine Arbeit in Gefahr, nicht wahr? Herbert Veicht ist tot, oder?«

Pfeffer nickte und Freudensprung zückte seinen Notizblock.

»Nun, sehen Sie sich um, meine Herren«, sagte die Wissenschaftlerin und deutete mit großer Geste umher. »Mein Büro. Abgenudeltes Resopal feierte in jeder Ecke fröhliche Urstände. Schäbig nicht? Gut, abgesehen von Hartmut!« Sie machte eine elegante Geste zu einem kleinen Aquarium neben der Kaffeemaschine, in dem ein dicker Goldfisch träge auf der Stelle schwamm und rhythmisch sein Maul öffnete und schloss. »Mein Hartmut bringt etwas Glanz in diese Hütte. Ansonsten: Alte Möbel, alte Wandfarbe – ABER! Selbst das gäbe es nicht, wenn nicht Herbert Veicht dem Institut so großzügig unter die Arme gegriffen hätte. Meine Lehrtätigkeit hier wird zwar vom Staat finanziert, doch meine Forschungsarbeit kann ich nur machen, weil es Veicht gab. Tja, so wie es aussieht, ist es damit nun vorbei. Ich kann den Laden dichtmachen.« Sie schlug in die Hände und lehnte sich zurück. Sehr resigniert schien sie dabei nicht zu sein.

»Welche Summe ließ Veicht Ihnen denn monatlich zukommen?«, fragte Pfeffer.

»Das müssten Sie die Verwaltung fragen. Es dürften sich aber um etliche tausend Euro gehandelt haben. Richtig viel Geld jedenfalls, denn nur deshalb lässt mich die Institutsleitung auch das erforschen, was ich erforsche.«

»Und was mussten Sie Veicht dafür bieten?«

»Ich verstehe nicht ganz.«

»Welche Forschungsergebnisse erwartete er. Beziehungsweise was erforschen Sie überhaupt?«

»Neurobiologie. Ich bin Neurobiologin. Und ich darf Sie korrigieren, Herr Veicht erwartete gar nichts von uns. Natürlich habe ich ihn in unsere Ergebnisse eingeweiht, sofern sie ihn interessiert haben, vor allem, wenn sie etwas mit seiner Arbeit zu tun haben – dem Fernsehen und der Wahrnehmung von Realität und Fiktion. Wir erforschen, welche Teile des menschlichen Gehirns bei welchen Tätigkeiten aktiv sind.«

»Machen Sie so …«, Freudensprung rang nach Worten, weil er nichts Dummes sagen wollte, aber eine Ahnung hatte, was Doktor Södermann tat, »… so eine Art Fotos vom Hirn, wenn es denkt?«

»Richtig. So eine Art.« Södermann lachte strahlend und schüttelte die roten Locken. »Nur sollten Sie etwas an Ihrem Wording arbeiten. Ich erkläre es Ihnen gleich. Sie wundern sich sicher, dass ich hier im Schwabinger Krankenhaus meine Zelte aufgeschlagen habe und nicht wie die anderen Neurobiologen draußen in Martinsried.«

»Nein, ehrlich gesagt nicht«, antwortete Pfeffer schmunzelnd. »Wir wissen nicht, in welchen Münchner Ecken üblicherweise Neurobiologen anzutreffen sind.«

»Dann ist Martinsried für zukünftige Gelegenheiten ein heißer Tipp für Sie!« Die Wissenschaftlerin lachte fröhlich und offen. »Nun, als es darum ging, mir einen Arbeitsplatz einzurichten, weil das Geld von Herbert Veicht floss, da war in Martinsried plötzlich alles dicht. Man müsse umbauen oder anbauen, hieß es, man hätte keinen Platz. Und flugs haben sie mich hierher abgedrängt, weil hier Platz war. Zu den Psychos, wie sie sagen. Hier habe ich meine Labors einrichten können. Und so ganz verkehrt bin ich hier nicht. Denn bei meiner Forschungsarbeit geht es weniger um die blanke Biochemie wie bei meinen Kollegen in Martinsried, die die neuronalen Zusammenhänge im Hirn von Fruchtfliegen untersuchen.«

»Fruchtfliegen?«

»Drosophila melanogaster. Die schwarzbäuchige Taufliege, auch das Haustier der Genetiker genannt. Ich hingegen beschäftige mich mit dem Homo sapiens sapiens. Gut, ich gebe zu, ich übertreibe und vereinfache. Natürlich beschäftigen sich meine Kollegen keineswegs nur mit Fruchtfliegen. Aber man wird ja wohl noch zynisch sein dürfen, oder? Also, wenn es zu kompliziert wird, zögern Sie nicht, mich zu unterbrechen.« In den USA, so erläuterte Doktor Ruth Södermann, sei die Neurobiologie schon seit Jahren einer des spannendsten, weil voller Überraschungen steckenden Wissenschaftszweige. Dort werde massiv in die Forschung investiert, weil neue bildgebende Verfahren erstmalig das Denken sichtbar machten. »Verstehen Sie? Wir sind dem Geheimnis des menschlichen Geistes auf der Spur. Wie funktioniert unser Gehirn? Warum nehmen wir Realität als real wahr? Gibt es eine realere Realität als die dingliche Welt? Was ist Geist, was ist Gehirn? Gibt es überhaupt einen Unterschied zwischen Geist und Materie?« Doktor Södermann leierte in schneller Folge die Fragen herunter und erläuterte dann, dass Herbert Veicht von den Forschungen der amerikanischen Kollegen so fasziniert gewesen sei, dass er eine deutsche Forschungsstätte suchte, die auf demselben Gebiet arbeitete. Mit den finanziellen Mitteln des TV-Produzenten ließen sich zwar keine großen Sprünge machen, doch seien die Ergebnisse bisher mehr als zufriedenstellend.

»Deutschland kann es sich als Industrienation nicht leisten, den Anschluss in diesem Gebiet zu verlieren«, sagte Södermann. Veicht hatte es der Wissenschaftlerin ermöglicht, mehrere Monate an der Universität von Pennsylvania bei Andrew Newberg, einer der führenden Koryphäen im Gebiet der neurobiologischen Erforschung menschlicher Denkstrukturen, zu assistieren. Und sie konnte beim Papst der Neurologen, bei Michael Persinger in Kanada forschen. »Sehen Sie, es gib zwei grundlegende Methoden, die Funktion bestimmter Gehirnstrukturen zu untersuchen: Eine besteht darin, Hirne zu studieren, die durch Tumore, Schlaganfälle oder Traumata geschädigt sind. In diesen Fällen gehen meine Kollegen her und korrelieren die geschädigte Region mit dem entsprechenden Funktionsverlust. So hat man zum Beispiel herausgefunden, dass eine Verletzung der Temporallappen, also der Schläfenlappen, die Sprechfähigkeit beeinträchtigen kann. Die andere Methode, auf die ich mich in meiner Arbeit stütze, nutzt Hightech, um Aufnahmen des Gehirns zu machen, während ein Proband bestimmte Tätigkeiten ausführt.«

Södermann zog aus einem Schreibtischschubfach einige Farbbilder, die jeweils ein blumenkohlartiges Gebilde mit unterschiedlichen bunten Punkten und Flächen zeigten. »Hier, das sind Bilder einer SPECT-Kamera, das steht für Single Photon Emission Computed Tomography. Wir injizieren dem Probanden ein radioaktives Kontrastmittel, das sich im Blutkreislauf bewegt. Wenn wir nun eine bestimmte Tätigkeit verlangen, wird die entsprechende Stelle im Hirn, die für diese spezielle Tätigkeit verantwortlich ist, stärker durchblutet. Das Kontrastmittel setzt sich in den Gehirnzellen ab und so ein SPECT-Scanning liefert eine präzise Momentaufnahme vom Hirn des Probanden, in diesem Fall, wenn er Mathematikaufgaben löst. Es gibt natürlich noch verschiedene andere bildgebende Techniken. Für den Laien mag das spektakulär aussehen, doch letztlich sind wir erst am Anfang. Trotz aller Hightech sehen wir nur, wo sich etwas im Hirn tut. Was sich da genau tut, können wir nicht entschlüsseln. Warum Nerven wie miteinander kommunizieren, wissen wir noch nicht. Es ist, wie wenn man mit Boxhandschuhen versucht, Blindenschrift zu ertasten.«

Pfeffer schwirrte der Kopf. Gleichzeitig fand er das Thema mehr als faszinierend. Irgendwann, so beschloss er, musste er sich mit der Wissenschaftlerin noch sehr viel ausführlicher darüber unterhalten, doch nun galt es einen Mordfall zu klären. »Können Sie sich einen Zusammenhang zwischen Ihrer Arbeit und dem Mord an Ihrem Mäzen vorstellen?«

»Nein, ehrlich gesagt nicht. Ich war es auf jeden Fall nicht.« Doktor Södermann legte wieder die Hände gefaltet auf den Tisch. »Wie gesagt, es gibt Kollegen, die meine Arbeit mit Argwohn beäugen, das sind die gleichen, die mich hierher abgeschoben haben. Sie meinen, solange die Fruchtfliege noch nicht alle Geheimnisse ihrer Denkstruktur preisgegeben hat, braucht man nicht am Menschen forschen.«

»Wird nicht längst auch an anderen Einrichtungen am Menschen geforscht?«, fragte Pfeffer.

»Sicher. Aber die Arbeit am und mit dem menschlichen Hirn ist immer noch höchst umstritten und Ausgangspunkt heftiger ethischer Diskussionen. Seit einiger Zeit ist uns die Kirche auf den Fersen, als wären wir Satan und Beelzebub in Person, beziehungsweise als sei ich Lilith, was natürlich absolut lächerlich ist. Gut, es sind nur Teile der Kirche. Man wirft uns vor, wir würden die Schöpfung infrage stellen, nur weil wir an einer Studie arbeiten, die Religiosität und Hirnaktivität zum Inhalt hat. Als ob es so einfach wäre. Doch diese Auseinandersetzung findet in Gremien und Seminaren oder in Fachzeitschriften statt. Mein kanadischer Kollege Persinger wurde einst von religiösen Fanatikern mit Mord bedroht, doch was war in den Achtzigern, als die Hirnforschung neu und aufregend war. Aufregend ist sie bis heute, aber die Hysterie der Gegner hat sich zum Großteil gelegt. Ich habe neulich auch an einer Fernsehdiskussion teilgenommen, da ging es um genau dieses Thema. Ich habe mich mit meinem persönlichen Lieblingsfeind Kardinal Ansgar Radlkofer von der Vatikanischen Glaubenskongregation gefetzt! Es war herrlich. Er ist so ein unglaublich bornierter Hardliner. Einer von den Seligen, weil geistig Armen, die die Bibel wortwörtlich nehmen. Einfach köstlich. Soll ich Ihnen mal die Videoaufzeichnung zukommen lassen?« Wieder ließ sie die Frage einfach im Raum stehen, keine Antwort abwartend.

»Wie dem auch sei, wir stehen erst ganz am Anfang der Forschung«, fuhr sie fort. »Kennen Sie die Geschichte von der blinden Frau, die sehen kann? Ja? Ach so, also nein. Ich dachte, das sei allgemein bekannt. Nun, es gibt sie tatsächlich, Blinde, die sehen. Menschen, die sich für vollkommen blind halten, die tatsächlich nicht bewusst sehen und dennoch zielsicher nach Gegenständen greifen können, die vor ihnen stehen. Dank der Arbeit meiner Kollegen wissen wir heute, dass das auf einer Störung des primären visuellen Assoziationsfeldes im Kortex, also in der Großhirnrinde, beruht. Die elektrochemischen Impulse, die normalerweise durch den Sehnerv ins Gehirn fließen, werden im primären Feld in grobe visuelle Elemente übersetzt und dann im sekundären Assoziationsfeld in fertige Bilder umgewandelt, die schließlich in unser Bewusstsein dringen und uns nun die Umwelt sehen lassen. Blindsehende haben eine Blockade im ersten Assoziationsfeld und können also die dingliche Welt nicht bewusst wahrnehmen. Sie sehen aber im wahrsten Sinne des Wortes alles unbewusst. Sie würden in einem unbekannten Raum daher nie gegen ein Möbelstück laufen. Nun frage ich Sie, meine Herren, können solche Forschungen irgendwen dazu veranlassen, jemanden zu ermorden? Ich bitte Sie!«

 

»Frau Doktor Södermann«, seufzte Pfeffer und sah zu seinem Kollegen Freudensprung hinüber, der offensichtlich abgeschaltet hatte und abwechselnd zum Goldfisch Hartmut hinübersah oder in seine Kaffeetasse stierte, von der er nur vorsichtig genippt hatte. Pfeffer hatte gleich ganz darauf verzichtet, das Getränk zu probieren. »Im Gegensatz zu Ihnen halte ich das sogar für sehr wahrscheinlich.« Das Lachen der Wissenschaftlerin erfror. »Gemordet wird aus den einfachsten Gründen. Manchmal auch aus komplizierten. Zurück zum Einfachen, ich muss auch Ihnen diese Frage stellen: Wo waren Sie am vergangenen Montag zwischen achtzehn und zwanzig Uhr?«

»In der Oper mit meinem Mann. Es sind doch gerade Opernfestspiele. Die Veranstaltung ging um halb sieben los. Sie können gerne meinen Mann fragen und die Eintrittskarte habe ich auch aufgehoben. Übrigens eine grandiose Inszenierung. Sollten Sie sich ansehen. Rinaldo von Händel. Wenn auch etwas gewagt im zweiten Akt.«

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