Im Land des Feindes

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Im Land des Feindes
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Inhalt

[Cover]

Titel

Gefährliches Terrain

Das Lothringer Kreuz

Eine fremde Welt

Die Schlinge zieht sich zu

Ein leuchtender Stern

Grenzüberquerung

Gebrochene Versprechen

Geplatzte Träume

Die Scherben auflesen

Eine ungewöhnliche Spionin

Erneute Grenzüberquerung

In der Höhle des Löwen

Die Kunst der Verstellung

Der Anfang vom Ende

Die Wahrheit und ihre Folgen

Aufbruch zu neuen Ufern

Der Kreis schließt sich

Epilog

Bildteil

Danksagung

Zitat- und Bildnachweis

Autorenporträt

Übersetzerporträt

Über das Buch

Impressum


Gefährliches Terrain

Für Angst blieb keine Zeit. Meine Mission war eindeutig. In einer klirrend kalten Nacht im Februar 1945 verließ ich kurz vor Mitternacht mit vier Offizieren und zwanzig marokkanischen Soldaten die französische Kleinstadt Thann. Die Männer waren mit Maschinengewehren, Maschinenpistolen und Handgranaten bewaffnet und für die Kälte bestens gewappnet. In meiner Rolle als Martha Ulrich, einer jungen Krankenschwester auf der Flucht vor den Alliierten, gehörte es zu meiner Tarnung, weder bewaffnet noch winterfest gekleidet zu sein. Ich trug einen einfachen Wollrock, eine Jacke, Mütze und Handschuhe, an den Füßen lediglich Skistiefel und darunter Kniestrümpfe.

Es war stockfinster und eisig kalt. Die mächtigen Tannen und Kiefern schluckten das wenige Licht in jener Winternacht. Nur der Schnee schimmerte hell. In einer langen Reihe stapften wir durch die hohen Schneewehen – vierzehn Männer vor und zehn hinter mir. Während meine Begleiter bis über die Knie einsanken, reichte mir der Schnee sogar bis zu den Hüften. Bei jedem Schritt musste ich mein Bein mit beiden Händen aus dem Schnee ziehen, aber zum Glück verlor ich nie das Gleichgewicht. Mein einziger Trost war, dass mir dabei warm wurde. Ich spürte, dass die Männer mich nicht aus den Augen ließen, um mir zu Hilfe zu eilen, falls ich stürzen sollte. Doch mein Ehrgeiz, mit ihnen mitzuhalten, trieb mich voran.

Fünf Stunden lang marschierten wir in völligem Schweigen, da wir wussten, dass ringsum die Deutschen lauerten. In einer so stillen, froststarren Umgebung tragen Geräusche erstaunlich weit. Seit wir Thann mit seinen windschiefen Häusern hinter uns gelassen hatten, waren wir mindestens fünf Kilometer bergauf, dann bergab in Richtung Amselkopf gegangen. Die verschneiten Gipfel der Vogesen ragten hoch über uns auf.

Am Rand eines kleinen Tals blieb unser Anführer stehen und sah mich ernst an. Hier würde meine Eskorte umkehren. Wir befanden uns in einem Kiefernwald, der so dicht war, dass wir kaum etwas sehen konnten. Keiner sagte ein Wort; wir verständigten uns nur mit Handzeichen. Unser Führer leuchtete mit einer abgeschirmten Taschenlampe auf seine Karte und zeigte mir noch einmal den schmalen Pfad, dem ich am Südhang des Berges folgen sollte. Es gab mehrere parallel verlaufende Wege. Sobald ich den zweiten Pfad erreicht hätte, sollte ich bis Sonnenaufgang warten, dann etwa eine Stunde an der Bergflanke entlanggehen, bis ich am Ende des Passes auf einen schwer bewaffneten feindlichen Posten stoßen würde.

»Die Deutschen schießen auf alles, was sich bewegt«, hatte mich unser Führer am Vorabend gewarnt. »Denken Sie daran, tot nützen Sie niemandem was.«

Stumm winkten mir die Männer zum Abschied und verschwanden zwischen den Bäumen. Leutnant Neu, der inzwischen ein guter Freund war, drückte meinen Arm.

Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und stapfte weiter durch die Finsternis. Ich durchquerte das Tal und fand den zweiten Pfad, der in Richtung Osten führte. Meinen Anweisungen folgend, kauerte ich mich hinter einen Baum und wartete, bis die ersten Sonnenstrahlen den Himmel erhellten. Dann ging ich weiter. Ich war so angespannt, dass ich weder Müdigkeit noch Hunger noch Kälte spürte.

Nachdem ich ein kurzes Stück den Hang entlanggelaufen war, sah ich unten im Tal zwei deutsche Soldaten, die bäuchlings auf dem Boden lagen und sich mit Tannenzweigen getarnt hatten. Sie hoben die Köpfe, unternahmen aber nichts, um mich aufzuhalten. Ich reckte das Kinn und gab vor, sie nicht gesehen zu haben. Vermutlich waren sie Beobachter und wollten ebenso wenig entdeckt werden wie ich. Ich ging weiter und versuchte nicht daran zu denken, dass sie jederzeit den Abzug drücken konnten.

Ich wusste, dass ich meinem Ziel ganz nah war. Es konnte gar nicht anders sein. In Gedanken trieb ich mich unaufhörlich an.

Nur noch ein kleines Stück, Marthe. Bleib ruhig, lächle, weine, spiel Theater, wenn’s sein muss. Denk an den Oberst, denk daran, wie wichtig die Mission für ihn und seine Männer ist.

Ich erinnerte mich daran, wie er mich am Abend zuvor auf beide Wangen geküsst hatte. Dann hatte er sich rasch abgewandt, damit ich nicht bemerkte, dass ihm die Tränen in die Augen gestiegen waren.

Plötzlich sprang unterhalb von mir ein Soldat hinter einem Baum hervor. Sein Gewehr war direkt auf mich gerichtet, das Bajonett blitzte bedrohlich auf. Obwohl ich mit einem solchen Empfang gerechnet hatte, hätte ich vor Schreck beinah aufgeschrien. Ich holte tief Luft und schluckte. Dann sprangen drei weitere Soldaten hinter den Bäumen hervor, ihre Maschinengewehre im Anschlag, die Helme mit Tannenzweigen getarnt.

Als ich mich vorsichtig im Dämmerlicht umblickte, sah ich, dass ganz in der Nähe tote Soldaten auf dem Boden lagen; ihr Blut sickerte in den Schnee. Offenbar hatte es hier vor Kurzem ein Gemetzel gegeben.

»Nicht schießen!«, rief ich und hob die Hände.

Das Lothringer Kreuz

Ich bin in Metz geboren, einer Stadt in Lothringen, die von einer mächtigen Kathedrale überragt wird, in einer Region im Nordosten Frankreichs, die auf eine komplizierte und wechselvolle Geschichte zurückblickt. Da die französisch-deutsche Grenze nur etwa 45 Kilometer weiter östlich verlief, war die Gegend schon seit tausend Jahren Ziel feindlicher Übergriffe. 1871 annektierten die Deutschen das Gebiet und hielten es fast fünfzig Jahre besetzt.

Als ich am 13. April 1920 – keine zwei Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs – zur Welt kam, hatte sich die politische Landkarte Europas verändert und Elsaß-Lothringen befand sich erneut in französischer Hand. Da wir in dieser historisch bedeutenden Grenzregion als wahre französische Patrioten aufgewachsen waren, erfüllte es uns alle mit Stolz, als General de Gaulle im Zweiten Weltkrieg das Lothringer Kreuz mit den zwei Querbalken zum Symbol des freien Frankreich erkor.

Metz war eine geschäftige, weltoffene Stadt mit barocken Giebeldächern und klassizistischen Fassaden. In den Stahlwerken und Kohlegruben des Umlands arbeiteten Polen, Italiener und Tschechen. Da Metz eine Garnisonsstadt war, wimmelte es in den Straßen von Soldaten. Am Ostufer der Mosel gelegen, war die Stadt ein wichtiger Knotenpunkt auf der Handelsroute zwischen Paris und Straßburg. Im 12. Jahrhundert wurde Metz freie Reichsstadt und hatte sich einen ganz eigenen Charakter bewahrt: Davon zeugten das mittelalterliche französische Viertel mit der gotischen Kathedrale Sainte-Étienne im Zentrum und die elegante »Ville Allemande« mit ihren Bürgerhäusern, die unter preußischer Besatzung entstanden war. Aufgrund seiner bunten Vielfalt an Plätzen aus dem 17. Jahrhundert, italienisch anmutender Straßenzüge und deutscher Prachtbauten war Metz keineswegs der triste Ort, den seine geografische Lage und seine industriellen Wurzeln hätten erwarten lassen.

Meine Eltern waren praktisch als Deutsche aufgewachsen. Da sie den Großteil ihres Lebens in einem besetzten Gebiet verbracht hatten, war es ihnen verboten, ihre Muttersprache zu sprechen. In der Schule wurde Deutsch gelehrt und jedem, der in der Öffentlichkeit auch nur ein einziges französisches Wort von sich gab, drohte Arrest. Als ich zur Welt kam, waren beide Sprachen erlaubt. Sieben Jahre lang hatte ich in der Schule Deutsch als Zweitsprache. Wir Geschwister unterhielten uns mit unseren Schulfreunden und einigen Nachbarn auf Französisch, aber mit unseren Eltern und den meisten Angehörigen ihrer Generation auf Deutsch. Französisch war für uns eine Art Geheimsprache. Wenn wir nicht wollten, dass unsere Eltern mitbekamen, was wir im Schilde führten, schwatzten wir fröhlich auf Französisch drauflos.

 

Unser eigentlicher Familienname war Hoffnung Gutglück, was der Einfachheit halber zu »Hoffnung« abgekürzt wurde. Ich hieß mit Vornamen »Marthe«, französisch ausgesprochen. Mein Großvater mütterlicherseits, Moishé Bleitrach, war ein wunderbarer Mann, ein angesehener orthodoxer Rabbiner und Gelehrter. Zum Zeitpunkt meiner Geburt war er fast sechzig Jahre alt und trug einen langen Bart. Eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen ist sein dröhnendes Lachen, wenn ich daran zog.

Als ich etwa zwei Jahre alt war, hing ich wie eine Klette an meiner Mutter Regine. Sie war eine kleine, blonde, hübsche Frau, die ich geradezu vergötterte. Sie war warmherzig und lebenslustig und wirkte eher wie eine ältere Schwester. Sobald sie sich aus meinem Blickfeld entfernte, bekam ich einen hysterischen Anfall und schrie, bis ich blau im Gesicht wurde. Dann nahm mich einer meiner älteren Brüder, Fred oder Arnold, oder meine Schwester Cécile auf den Arm und schlug mir mit sichtbarem Vergnügen auf den Rücken, bis ich wieder normal atmete. Als ich mit vier Jahren begriff, dass meine Geschwister mir mein Theater übel nahmen, beschloss ich – Pazifistin, die ich schon damals war –, sie und meine arme Mutter endlich in Frieden zu lassen.

Sechzehn Monate nach meiner Geburt kam meine jüngere Schwester Stéphanie zur Welt, ein entzückendes, pummeliges kleines Ding mit dunkelbraunen Löckchen – das exakte Gegenteil von mir. Ich war klein, mager, blass und hellblond, genau wie meine Mutter. Kein Wunder, dass ich rasend eifersüchtig war.

»Sie mag ja hübsch sein«, tönte ich gegenüber Stéphanies zahlreichen Verehrern, »aber dafür bin ich sehr intelligent.« Doch meine Eifersucht legte sich bald, denn ich konnte gar nicht anders, als Stéphanie mit ihrem sonnigen Naturell und ihrem Engelsgesicht ins Herz zu schließen. Sie und Cécile waren die umgänglichsten von uns allen. Und so wurde aus dem Püppchen, das ich hätschelte und liebkoste, die Spielgefährtin, Freundin und Vertraute meiner Kindheit.

1924 kam meine Schwester Hélène zur Welt, ein zerbrechliches kleines Wesen; 1925 folgte das Nesthäkchen Rosy.

Bald darauf sollte ich eingeschult werden. Aber weil ich für meine sechs Jahre sehr klein war, meinten die Lehrerinnen, dass ich für die erste Klasse nicht reif genug wäre, und steckten mich zu meiner Schwester Stéphanie in die Vorschule. Trotz meiner Proteste setzten sie mich neben sie.

Während die anderen das Alphabet lernten, schwieg ich verstockt und schmollte. Da ich schon ganze Bücher lesen konnte, war es unter meiner Würde, mich am Unterricht zu beteiligen. Als die Lehrerin fragte, ob jemand von uns ein Lied vortragen wolle, streckte Steph zu meiner Bestürzung den Finger in die Höhe. Unsere ganze Familie – mit Ausnahme von Cécile und meiner Mutter – war völlig unmusikalisch. Deshalb zog ich hastig ihren Arm nach unten und zischte: »Lass das, dumme Gans! Du weißt doch, dass du nicht singen kannst.«

Aber die Lehrerin hatte sie bereits gesehen und rief sie nach vorn. Während ich mir die Hände vors Gesicht hielt, trällerte sie »Je cherche après Titine«, ein Chanson, das damals sehr populär war. Ich wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken. In der Mittagspause lief ich nach Hause und erzählte meiner Mutter, was passiert war.

»Ich bleib da auf keinen Fall«, sagte ich und zog einen Flunsch. »Die halten mich für ein Kleinkind. Und dann hat Steph auch noch vorgesungen!« Meine Mutter konnte sich kaum ein Lachen verkneifen. Am Nachmittag brachte sie mich zur Schule zurück und legte der Lehrerin meine Geburtsurkunde vor, um zu beweisen, dass ich alt genug für die erste Klasse war. Von da an blieb ich von Stéphanies Gesangskünsten verschont.

Ich hasste die Schule und wünschte mir nichts sehnlicher, als mich zu Hause zu verkriechen und zu lesen. Jedes Buch, das uns die Lehrerin als Lektüre empfahl, kannte ich bereits. Ich war frustriert und langweilte mich zu Tode.

Als ich mir einmal in der Stadtbücherei neue Bücher ausleihen wollte, warf die Bibliothekarin einen Blick auf meine Liste und musterte mich streng über den Rand ihrer runden Brillengläser hinweg. »Tut mir leid, aber du bist noch viel zu jung, um so etwas zu lesen.« Kaum war ich zu Hause, erzählte ich meinem ältesten Bruder Fred davon, der schnurstracks mit mir zur Stadtbücherei ging, um die Bibliothekarin zur Rede zu stellen.

»Meine Schwester darf lesen, was sie will«, sagte er höflich, aber bestimmt. »Es ist Sache meiner Eltern zu entscheiden, welche Bücher gut für sie sind und welche nicht.« Nachdem er sich so beherzt für mich eingesetzt hatte, liebte ich ihn mehr denn je.

Als kleines Mädchen fühlte ich mich Fred besonders nah. Er war eher wie ein Vater als ein Bruder für mich. Jeden Abend las er uns nach dem Essen aus der Zeitung vor, ein tägliches Ritual, dem ich voller Ungeduld entgegensah. Ich saß auf dem Boden, an die Beine meiner Mutter gelehnt, und lauschte gebannt den neuesten Nachrichten über die politischen Entwicklungen in Europa.

Besonders fesselte mich das Schicksal des jüdischen Uhrmachers, Dichters und Anarchisten Samuel Schwartzbard, der nach den antijüdischen Pogromen von 1919 und 1920 aus der rumänischen Provinz Bessarabien, dem heutigen Moldawien, nach Paris geflohen war, wo er Arbeit in einer Uhrenfabrik fand. In Paris machte er den ehemaligen General und Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Symon Petljura, ausfindig, der mittlerweile Chef der ukrainischen Exilregierung in Paris war. Seine Truppen hatten an der jüdischen Bevölkerung in seiner Heimat schreckliche Gräueltaten verübt.

Am Morgen des 25. Mai 1926 lauerte Schwartzbard Petljura vor seinem Haus auf und gab mehrere tödliche Schüsse auf ihn ab. Es kam zu einem aufsehenerregenden Mordprozess, der für internationale Schlagzeilen sorgte. Dank Schwartzbards Verteidiger Henry Torrès ging es in diesem Verfahren jedoch weniger um die Ermordung Petljuras als um den Tod von 60.000 Juden, für die Torrès Petljura verantwortlich machte. Zahlreiche Zeugen berichteten von den grauenvollen Verbrechen, die Petljuras Kosaken begangen hatten. Sie hatten ganze Dörfer niedergebrannt und ihre Opfer, unter denen auch Kinder waren, gefoltert, vergewaltigt, verstümmelt und ermordet.

Ich war schockiert über diese Enthüllungen. Ich konnte nicht begreifen, wie man anderen Menschen so etwas antun konnte, einfach nur, weil sie Juden waren. Als Fred uns vorlas, dass die Geschworenen den Anarchisten freigesprochen hatten, vergoss ich Freudentränen. An diesem Abend beschloss ich, Anwältin zu werden, um den Schwachen und Hilflosen zu ihrem Recht zu verhelfen.

Fred war ein liebevoller, fürsorglicher Bruder. Aber er konnte einen auch ganz schön piesacken. Manchmal lauerten er und Arnold uns im Flur unserer Wohnung auf, fielen über uns her und verpassten uns schmerzhafte Kopfnüsse. »Los, nehmt die Fäuste hoch und wehrt euch, ihr Heulsusen!«, riefen sie dann. Erst heute weiß ich, dass er uns beizubringen versuchte, wie man sich gegen körperliche Angriffe verteidigt.

Jeden Donnerstag, wenn meine Mutter für das Sabbatmahl einen Karpfen eingekauft hatte, jagte Fred mich mit dem riesigen, zappelnden Fisch durch die Wohnung. Das klaffende Maul und die stierenden Glupschaugen versetzten mich in Angst und Schrecken. Einmal keilte Fred mich in der Küche zwischen Herd und Wand ein und ich war so in Panik, dass ich die Luft anhielt. Meine Mutter, die sich sonst nicht in unsere ausgelassenen Spiele einmischte, riss Fred zur Seite. »Das reicht!«

Dann zog sie mich hinter dem Herd hervor und schlug mir kräftig auf den Rücken, damit ich wieder Farbe ins Gesicht bekam. »Das war das letzte Mal, dass du Marthe so getriezt hast«, ermahnte sie ihn. Er tat es nie wieder.

Papa war ein schwieriger, grüblerischer Mann, der ein Leben lang unter seiner unglücklichen Kindheit litt. Kein Wunder, dass er sich mit seiner Vaterrolle schwertat. Seine Mutter starb, als er drei Jahre alt war. Nachdem sein Vater wieder geheiratet hatte, wurden er und sein kleiner Bruder Benoît – das jüngste der fünf Kinder und noch ein Säugling – ins Waisenhaus gesteckt, wo er nur eine rudimentäre Schulbildung erhielt. Der Kontakt zu seinem gewalttätigen Vater beschränkte sich auf wenige unschöne Begegnungen. Seine Stiefmutter brachte zwei Söhne mit in die Ehe, die mit seinen älteren Geschwistern im gemeinsamen Haushalt leben durften. Dass man ihn und Benoît einfach abgeschoben hatte, war eine Kränkung, über die er nie hinwegkam.

Meine Eltern lernten sich durch ihre Geschwister kennen. Ein Bruder meiner Mutter heiratete eine von Vaters Schwestern. Papa verliebte sich sofort in die hübsche, zierliche Blondine. Aber auch meine Mutter war von dem gut aussehenden, schüchternen jungen Mann sehr angetan. Als einziges Mädchen unter sieben Brüdern war sie es gewohnt, verhätschelt zu werden, doch die zarten Gefühle meines Vaters waren etwas gänzlich anderes. Ihr Vater war strikt gegen diese Verbindung. Er hielt Mutters Freund für viel zu ungebildet.

»Ich kann meine einzige Tochter unmöglich einem derart unkultivierten Menschen anvertrauen. Da kann ich sie auch gleich einem Affen in die Arme werfen«, sagte er. Mein Vater, dem diese Bemerkung zu Ohren kam, verzieh ihm sein Leben lang nicht.

Großpapa hatte recht mit seinen Vorbehalten. Meine Eltern passten überhaupt nicht zusammen. Nach Freds Geburt brachte meine Mutter noch einen Jungen zur Welt. Er hieß Eugène. Dann folgte das erste Mädchen, Cécile. Als Eugène mit zwei Jahren an Scharlach starb, wäre ihre Ehe an dem schmerzhaften Verlust fast zerbrochen. Maman verlangte die Scheidung und zog mit den beiden Kindern zu ihren Eltern. Aber Papa beschwor sie, wieder zurückzukommen, und versprach ihr, in Zukunft ein besserer Ehemann zu sein. »Außerdem hast du kein Recht, mir meine Kinder wegzunehmen«, erklärte er ihr. Dem konnte sie nichts entgegensetzen. Mehr um Freds und Céciles als um ihrer selbst willen kehrte sie zu meinem Vater zurück und gebar ihm fünf weitere Kinder.

Aber wir verlebten auch heitere, unbeschwerte Stunden mit Papa. Er dachte sich spannende Geschichten aus und spielte mit uns. Wir schwammen zusammen in der Mosel oder unternahmen lange Spaziergänge. Doch obwohl er uns sehr liebte, konnte er keine wirkliche Nähe zu uns herstellen. Er war schrecklich eifersüchtig auf Maman, zu der wir eine innige Beziehung hatten. Allerdings erinnere ich mich noch, wie ich als kleines Mädchen wegen einer Blinddarmentzündung ins Krankenhaus musste und mein Vater in Tränen ausbrach, als man mich in den Operationssaal schob. Ich war so gerührt von diesem Gefühlsausbruch, dass ich meine eigenen Ängste ganz vergaß. Doch meist erlebten wir unseren Vater als mürrischen, launischen Mann, der grundlos losbrüllte und uns wie ein preußischer General herumkommandierte.

Sobald er das Haus verließ, änderte sich schlagartig die Atmosphäre. Wir Kinder plapperten munter drauflos und alberten herum. Meine Mutter entspannte sich spürbar und war sehr nachsichtig mit uns. Selbst wenn wir durch die Wohnung tobten oder uns manchmal lautstark zankten – »wie die Zigeuner«, pflegte sie dann zu sagen –, ließ sie uns meist gewähren.

Beim gemeinsamen Abendessen mit unserem Vater hatten wir uns allerdings zu benehmen. Dann wagten wir es nur, den Mund aufzumachen, wenn er guter Laune war. Wir alle fürchteten die Momente, in denen er uns oder Maman grundlos anherrschte. Denn sobald er sich in Rage geredet hatte, war er nicht mehr zu bremsen. Da er nicht sehr wortgewandt war, warf er mit immer derberen Ausdrücken um sich. Wir durften nicht eher den Tisch verlassen, bis er seine Tirade beendet hatte. Manchmal sprang er auf und stieß zwischen den Zähnen hervor: »Am liebsten würde ich euch windelweich prügeln. Aber dann wäre ich kein bisschen besser als mein Vater.« Und im nächsten Moment rauschte er aus dem Zimmer.

Als Kind hatte ich keinerlei Verständnis für die Launenhaftigkeit meines Vaters. Es machte mich wütend, dass er mit seinen Ausbrüchen unser Familienleben vergiftete. Als ich mich einmal bei meiner Mutter über ihn beklagte, seufzte sie und sagte: »Es könnte schlimmer sein. Immerhin spielt er nicht, trinkt nicht und bändelt nicht mit anderen Frauen an.«

 

»Schade«, erwiderte ich, worauf sie mich entsetzt ansah. »Wenn er sich eine Geliebte nehmen würde, hätten wir wenigstens unsere Ruhe.«

Trotz meines Grolls gegen ihn tat er mir auch leid. Es schien, als hätte er keinerlei Kontrolle über sein Verhalten, als handele er unter einem inneren Zwang. Nur selten kam hinter der schroffen Fassade seine empfindsame Seite zum Vorschein. Er stand immer etwas im Abseits, während wir mit unserer Mutter zu einer festen Einheit verschmolzen waren.

Beruflich war er recht erfolgreich. Er besaß einen kleinen Fotoladen, der auf Vergrößerungen und Einrahmungen spezialisiert war: Agrandissements Photographiques Encadrements. So konnten wir uns eine großzügige Sechs-Zimmer-Wohnung im zweiten Stock eines Hauses in der Rue du Maréchal-Pétain leisten, ein gutes Stück vom ehemaligen jüdischen Getto entfernt. Als meine jüngeren Schwestern alt genug für die Schule waren, ging meine Mutter ihm im Laden zur Hand. Aber im Grunde half sie ihm, die täglichen Anforderungen des Lebens zu meistern. Mit unendlicher Geduld und eisernem Willen gelang es ihr, unser Zuhause in einen heiteren Ort zu verwandeln.

Wir hatten ein Dienstmädchen namens Sophie, das bei uns wohnte und mit uns Kindern in der Küche zu Mittag aß. Für uns war sie weniger eine Angestellte als eine große Schwester. Als sie nach zehn Jahren unsere Familie verließ, um zu heiraten, brachte mich das so aus dem Gleichgewicht, dass ich krank wurde. Einmal die Woche polierte Sophie sämtliche Holzböden, sodass die ganze Wohnung nach Bohnerwachs roch. Dieser Geruch ruft bis heute noch lebendige Erinnerungen an meine Kindheit in mir wach.

Wir waren eine sehr religiöse Familie und befolgten alle rituellen Vorschriften, auch wenn mein Vater bestimmt nicht so gläubig war wie meine Mutter. Freitagabends entzündete sie die Kerzen, mein Vater und meine Brüder setzten ihre Kippas auf und sprachen die Gebete. Maman führte einen streng koscheren Haushalt. Wir hatten getrenntes Geschirr für Fleisch- und Milchprodukte und bei keiner Mahlzeit kam beides zugleich auf den Tisch. Meine Mutter war eine hervorragende Köchin und verstand es, jüdische Spezialitäten mit französischen und deutschen Speisen zu kombinieren. So gab es Karpfen oder gehackte Leber, Suppe, Huhn, Kalbs- oder Rinderbraten, Salat, frisches Gemüse und zum Nachtisch Obst. Freitags und an Feiertagen war die Wohnung vom Duft der frisch gebackenen Challa, der Kuchen und Aufläufe erfüllt. Vor dem Essen wurden über die Challa und den Wein hebräische Segenssprüche gesagt. Und nach dem Essen folgte ein Dankesgebet. Wir beteten auch abends vor dem Einschlafen und morgens nach dem Aufwachen. Meine Mutter und Cécile, die wunderbare Stimmen hatten, sangen nach dem Abendessen alte jiddische Lieder. Wir jüngeren Kinder sangen mit, ohne den Text zu verstehen. Wenn unser Vater lauthals mit einstimmte, verzogen wir das Gesicht, denn er sang noch falscher als wir.

Meine Eltern legten größten Wert darauf, dass wir eine möglichst umfassende, liberale Schulbildung genossen. Deshalb schickten sie uns auf staatliche Schulen, wo wir mit katholischen und protestantischen Kindern in Kontakt kamen. Meine Schwestern und ich besuchten ein Mädchengymnasium. Nachdem wir anfangs zu Hause bei einem Privatlehrer und später im Cheder Hebräisch lesen gelernt hatten, erteilte uns am Gymnasium Oberrabbiner Nathan Netter Religionsunterricht. Obwohl im übrigen Frankreich eine strikte Trennung zwischen Staat und Kirche herrschte, waren die strenggläubigen Elsässer und Lothringer seit 1918 von dieser Regelung ausgenommen. Jedes Schulkind hatte Anspruch auf Religionsunterricht bei einem Vertreter seiner Glaubensgemeinschaft.

Jeden Samstag gingen wir fein herausgeputzt in die Synagoge, die sich im ärmsten Viertel von Metz befand. Als ich ungefähr fünf Jahre alt war, lauerte uns nach dem Gottesdienst eine Horde zerlumpter Jungen vor der Synagoge auf.

»Dreckige Juden«, rief einer von ihnen und spuckte uns vor die Füße. Die anderen warfen mit Steinen nach uns. Einer traf mich am Schienbein, was höllisch wehtat. Als mein Vater die Jungen böse anfunkelte, traten sie den Rückzug an, blieben aber in sicherer Entfernung stehen und beschimpften uns weiter.

Bestürzt sah ich meinen Vater an, der meinen Blick stumm erwiderte. Ich konnte nicht fassen, dass man uns so behandelte, nur weil wir Juden waren. Was spielte denn unsere Religion für eine Rolle? Ich starrte meinen Vater an, beschwor ihn wortlos, etwas zu unternehmen. Ohne den Blick von mir abzuwenden, zog er langsam seinen schweren Ledergürtel aus der Hose. Dann drehte er sich um und stürmte mit dem Gürtel in der erhobenen Hand auf die Jungen zu.

»Wer von euch hat uns dreckige Juden genannt?«, brüllte er und ließ den Gürtel durch die Luft sausen. Mit offenem Mund sah ich zu, wie er die Straße entlangrannte, während Fred und Arnold mich hinter sich herzogen. Ich glaube, ich habe meinen Vater nie mehr geliebt als in jenem Moment.

Zum ersten Mal hatte ich am eigenen Leib erfahren, was es hieß, im Vorkriegseuropa Jüdin zu sein; und es sollte nicht das letzte Mal sein. Ein paar Jahre später schickte mich meine Mutter mit einem Einkaufsnetz zum Laden um die Ecke, um ein Dutzend Eier zu besorgen. Auf dem Heimweg versperrte mir ein Nachbarsmädchen, das ich vom Sehen kannte, den Weg.

»Du dreckige Jüdin«, sagte sie und stemmte die Hände in die Hüften.

»Ich bin nicht dreckig!«, rief ich empört.

»Doch, bist du. Dreckig! Dreckig! Eine dreckige Jüdin!«, höhnte sie.

Ohne nachzudenken holte ich aus und schleuderte ihr das Netz mit den Eiern an den Kopf. Eiweiß und Dotter liefen ihr über die Stirn und tropften auf ihr Kleid. Ich rannte nach Hause zu meiner Mutter, die mit mehlbestäubten Händen in der Küche stand. Ich erzählte ihr haarklein, was geschehen war.

Meine Mutter bückte sich und drückte mich fest an sich. Lächelnd strich sie mir eine Strähne aus der Stirn. »Du hast dich völlig richtig verhalten, Marthe«, sagte sie. »Lass es dir nicht gefallen, wenn jemand solche schlimmen Dinge zu dir sagt.«

Trotz einiger ähnlich unangenehmer Erlebnisse und der angespannten Atmosphäre, die mein Vater häufig zu Hause verbreitete, habe ich meine Kindheit überwiegend in positiver Erinnerung. Meine fröhlichen, liebevollen Geschwister und meine rührige Mutter, die uns dazu ermunterte, unseren Horizont zu erweitern und über uns hinauszuwachsen, machten das alles wett. »Jeder von euch kann etwas bewirken«, sagte sie zu uns. »Bleibt euch selbst treu und lasst euch von niemandem unterkriegen.«

Die Idole meiner Kindheit waren Maurice Bellonte und Dieudonné Costes, die beiden französischen Flieger, die 1930 einen Transatlantikflug von Paris nach New York unternahmen. Als ich von ihren Großtaten las, wünschte ich mir nichts sehnlicher, als eines Tages Pilotin zu werden. Seit ich als kleines Mädchen zum ersten Mal ein Flugzeug über Metz gesehen hatte, träumte ich davon. Deshalb konnte ich mein Glück kaum fassen, als ich erfuhr, dass unsere beiden Nationalhelden bei ihrem Triumphzug durch Frankreich nicht nur durch Metz kommen, sondern direkt an unserem Haus vorbeifahren würden. Die Aussicht, die beiden lebenden Legenden von unserem Balkon aus bestaunen zu können, versetzte mich in einen wahren Freudentaumel. Und so drängten sich am großen Tag die Schaulustigen am Straßenrand und schwenkten französische Fähnchen, während wir Kinder mit Maman auf dem Balkon standen und den beiden Flugpionieren aus vollem Hals zujubelten. Das war das erste Mal, dass ich mich in der Öffentlichkeit so lautstark gebärden durfte. Danach brachte ich vor Heiserkeit kaum einen Ton heraus.

»Wenn ich groß bin, werde ich Pilotin«, krächzte ich, als mich Maman abends ins Bett brachte.

»Ja, mein Schatz«, erwiderte sie lächelnd und küsste mich auf die Stirn. »Ganz bestimmt.«

Etwa zur selben Zeit wurde die neu erbaute katholische Kapelle Sainte-Thérèse eingeweiht. Eine Klassenkameradin lud mich zu der feierlichen Zeremonie ein, und da meine Eltern nichts dagegen hatten, ging ich mit. Allerdings hielt ich mich im Hintergrund. Es behagte mir nicht, mich zu meiner Freundin und ihrer Familie in eine Kirchenbank zu setzen; ich wollte zuschauen, nicht teilnehmen. Ich war beeindruckt von dem Prunk, dem Weihrauch, der Musik, den Chorknaben und den prächtigen Gewändern des Bischofs und der Priester. Der präzise Ablauf des Hochamts, bei dem alle einer perfekt einstudierten Choreografie folgten, faszinierte mich.

Danach war ich noch einmal zur Glockenweihe dort – eine ebenfalls sehr feierliche Zeremonie – und zur Erstkommunion einiger Freundinnen. Schon von Kindesbeinen an interessierte ich mich für andere Religionen. Manchmal begleiteten wir unser Dienstmädchen Sophie in den evangelischen Gottesdienst. Meine Eltern hatten nicht die geringsten Befürchtungen, dass unser jüdischer Glauben darunter leiden könnte. Obwohl mich die katholischen Messen in Sainte-Thérèse sehr beeindruckten, änderte dies nichts an meiner religiösen Überzeugung.

Ich hatte einen großen Freundeskreis, hauptsächlich Schulkameradinnen, aber der Mittelpunkt meines Lebens war meine Familie, mit der ich am meisten Zeit verbrachte. Stéphanie und Cécile standen mir am nächsten. Wir waren praktisch unzertrennlich: Wir schliefen im selben Zimmer, gingen zusammen zur Schule, nahmen gemeinsam unsere Mahlzeiten ein und spielten miteinander. Wenn wir am Wochenende oder in den Ferien ins Kino oder Theater gehen wollten, war uns dies nur tagsüber und in Begleitung eines unserer Brüder erlaubt. Aber vorher mussten wir irgendwelche häuslichen Pflichten übernehmen, beispielsweise unser Zimmer aufräumen und unserer Mutter zur Hand gehen. Manchmal nahmen diese Arbeiten so viel Zeit in Anspruch, dass wir nicht rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit fertig wurden – ein Umstand, den mein Vater natürlich bewusst einkalkuliert hatte.