Das Buch des Kurfürsten

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Из серии: Kurpfalz-Trilogie #2
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Das Buch des Kurfürsten
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DAS BUCH DES
KURFÜRSTEN


Historischer Roman

von

Marlene Klaus


Für Tone,

wo immer du sein magst.

Ich hoffe,

du singst und trommelst

noch immer.

Und für Kutira,

deine visionäre Kraft

schürte den Mut

zum Anfangen.


Martini 1595


Eins

Der Schnee kam früh in diesem Jahr.

Hedwig erlaubte sich, einen Augenblick innezuhalten und sah aus dem Fenster. Es schneite große Flocken. Zielsicher strömten sie zu Boden, stetig und eilig wie die Vorüberhastenden unten auf der dämmrigen Hauptstraße. Ein weißer Flaum legte sich auf Baretts und Schauben, auf Simse und Dächer Heidelbergs.

Wie sie es liebte, so weit über allem zu stehen und hinunterzuschauen. Dabei befand sie sich erst im zweiten Obergeschoss des großen Hauses. Drei Stockwerke gab es noch über diesem. Gleichwohl, sie sollte mit ihrer Arbeit fortfahren. Sie warf einen letzten Blick hinunter, sah vereinzelt Laternenlichter huschen, da zuckte sie jäh zusammen und trat einen Schritt vom Fenster zurück.

Da war er wieder! Nicht mehr als ein Schemen im treibenden Schnee. Oder täuschte sie sich? Nein, drüben harrte er reglos in einer Mauernische der Heiliggeistkirche. Eingehüllt in einen dunklen Umhang, die schneebedeckte Kapuze tief ins Gesicht gezogen, nicht anders als die meisten Menschen in dieser Jahreszeit, dennoch auf besondere Weise eigentümlich, ohne dass sie hätte sagen können, woran das lag. Sie meinte, ihn schon öfter gesehen zu haben, und er war ihr unheimlich. Er war wie unsichtbar und doch da.

Was wollte er? Spähte er das Haus ihrer Herrschaft aus? Hedwig sah sich in dem großen Wohnraum um. Alles hier war so wunderbar gestaltet und kostbar. Wollte er die Beliers ausrauben? Sollte sie Herrn Belier ihre Beobachtung mitteilen? Sie schaute noch einmal hinunter – er war weg! Vielleicht hatte er auf jemanden gewartet? Ach, sicher täuschte sie sich. Heidelberg quoll ja über von Menschen aller Art. Sie durfte nicht so misstrauisch sein. Zudem war das Haus ihrer Herrschaft stattlich und sicher. Sämtliche Türeinfassungen waren nicht nur aus Stein, sondern auch mit rankendem Grün ummalt. Im gesamten Haus roch es auch drei Jahre nach dem Neubau noch immer nach frischem Holz, Stein und Farbe. Es war prachtvoll! Abermals spürte sie Stolz. Sie hätte Philipp wieder und wieder dafür küssen mögen, dass er ihr diese Anstellung verschafft hatte. Bereits vor einem Jahr hatte er beim Tuchhändler Belier vorgesprochen und um eine Stellung für sein zukünftiges Weib gebeten. Mit einem Empfehlungsschreiben seiner kurfürstlichen Gnaden, denn es war unüblich für eine verheiratete Hausfrau, als Magd zu arbeiten. Kurz vor ihrer Hochzeit im vergangenen Februar war sie dann mit ihrem Vater hier gewesen, um die Anstellung fest zu verabreden. Denn da hatte auch er längst begriffen, dass nichts sie und Philipp davon abbringen würde, sich an ihrem sechzehnten Geburtstag zu vermählen. Sie hatten Ziele. Ebenso sehr wie Philipp sich gewünscht hatte, Knecht in der kurfürstlichen Kanzlei zu sein, war es ihr Wunsch gewesen, in einem guten Haus in Heidelberg Arbeit zu finden. Sie würden ihr Leben gemeinsam aufbauen. Eines Tages ein Gärtchen besitzen, Ziegen, Gänse. Da musste man gut zusammen wirtschaften. Dafür hatte sie ihre anfängliche Unsicherheit wegen ihrer Herrschaft in Kauf genommen. Beliers waren Wallonen. Inzwischen wusste sie: Sie hätte es nicht besser treffen können. Fremde hin oder her, Beliers waren nicht nur wohlhabend, sondern auch wohlwollend und großmütig. Als sie vor vier Monaten mit ihrer Tochter Juli niedergekommen war, durfte sie nicht nur die üblichen sechs Wochen zu Hause bleiben, sondern sieben. Und ihre Herrschaft hatte nichts dagegen gehabt, dass sie ihr Töchterchen mit hierher brachte, solange sie in der Küche unter der Aufsicht der Köchin schlief und Hedwig nicht an ihrer Pflichterfüllung hinderte. Ja, in diesem Hause wehte ein angenehmer Geist. Beliers waren vor vielen Jahren des Glaubens wegen aus Tournai weggegangen und zunächst nach Frankfurt gezogen, bevor sie sich in Heidelberg niederließen. Mit Unterstützung des jungen Kurfürsten, wie Madame immer wieder betonte. Die Familie stand gut mit dem Hof. Dass der Herr Tuchhändler da nicht Nein sagte, als der Kanzleiverwandte Philipp Eichhorn mit einem Empfehlungsschreiben von Kurfürst Friedrich um eine Stellung für sein Eheweib bat, lag auf der Hand. Seine Teller füllten sich nicht zuletzt durch Bestellungen kostbarer Tuche, wenn die Hofkleidung der kurfürstlichen Kammerjungen und Lakaien oder die Röcke der Trabanten und Soldaten neu gefertigt werden sollten. Kurfürst Friedrich war den Beliers teuer – verständlicherweise. Und so hatte Hedwig vor neun Monaten, kurz nach ihrer Hochzeit, ihre Stellung als Magd angetreten. Ach, es war, wie sie und Philipp es sich gewünscht hatten.

Trompetenschall ließ Hedwig zusammenschrecken. Der Turmbläser. Vier Uhr. Es dunkelte bereits. Die Glocken von Heiliggeist ertönten, kündeten vom Schließen der Stadttore, läuteten den Abend ein. Hedwig warf einen Blick durch den behaglichen Raum. Ja, alles war gerichtet, alles an seinem Platz.

Hedwig strich im Hinausgehen über den Samtbezug eines Sessels. Es war angenehm, in einem solchen Sessel zu sitzen, zweimal hatte sie nicht widerstehen können und es ausprobiert. Sie betrat das Zimmer, das zur rückwärtigen Seite auf den Hof hinausging. In diesem Raum standen zierliche Tische und Stühle, man spielte abends Schach oder Karten an ihnen. Von hier aus gelangte man in den Vorraum, in dem es den Kamin gab. Hedwig hatte diesen, sowie jenen im darunterliegenden Stockwerk, vor zwei Stunden entzündet, sie musste nun nachlegen und das Feuer im Auge behalten. Sie ging in die Hocke, um die Holzscheite mit dem Schürhaken zurechtzuschieben, als sie auf der Wendeltreppe hinter sich im Treppenturm Schritte vernahm. Sie verharrte. Dann erkannte sie am Klirren des Schlüsselbunds Madame Belier. Ihre Röcke raschelten über die Steinstufen, Hedwig erhob sich und drehte sich um. Madame stand in der Tür zum Vorraum.

„Sind alle Fenster geschlossen?“

„Ja, Herrin.“

„Das Wasser für die Fußwäsche gerichtet und die Nachttöpfe verteilt?“

„Ja, Madame Belier.“

Das abendliche Abfragen, bevor sie nach Hause gehen konnte, war Hedwig inzwischen so vertraut wie das Wippen von Madames großen rotblonden Locken, wenn sie nickte. Munter umschaukelte Frau Beliers Haar ihr Doppelkinn und die Halskrause. „Lege zwei Scheite nach, dann gehe hinunter. Herr Belier wird die Löhne vor dem Abendgebet auszahlen.“

Martinstag! Ihr erster Lohn! Da sie noch kein volles Jahr bei Beliers arbeitete, bekam sie heute nur vier statt fünf Gulden. Doch die würde sie Philipp später am Abend stolz vorzählen. Ihm die zehn Ellen Tuch unterbreiten, das Paar Schuhe, das erste von dreien, das einen Teil ihres Lohnes ausmachte. Sie freute sich schon jetzt auf sein Lächeln. Sie würde sich auf seinen Schoß setzen und ihm sagen, er könne künftig darauf verzichten, sie wegen jeder kleinen Ausgabe zu tadeln – sie verdiente jetzt schließlich ihr eigenes Geld. Wie griesgrämig er manchmal sein konnte. Tand nannte er die kleinen Dinge, die sie erwarb, schalt sie verschwendungssüchtig. Dabei war sie das keinesfalls! Aber in der Stadt gab es so viel Verlockendes zu sehen. Beutler, Nestler, Krämer, Gürtler, Goldschmiede – das alles kannte sie von ihrem Heimatdorf Reilingen nicht. Und sie kaufte manches doch nur, um ihre Wohnung behaglich zu gestalten. Einen tönernen Kerzenständer etwa, obwohl sie kaum Kerzen benutzten, denn die waren teuer. Ein farbenfrohes Tuch, um Juli darin einzuwickeln. Es gefiel ihr, und sie tat es doch für ihre kleine Familie. Wenn sie ihm dies vorhielt, grummelte er meist noch ein wenig – und beruhigte sich wieder.

Madame Belier zog sich in den großen Wohnraum zurück, ihr faltig gereihter Rock schwang und schabte am Türrahmen. Hedwig legte Holz nach und betrat schließlich den kleinen turmartigen Anbau mit der Wendeltreppe, die alle Stockwerke bis zum untersten Giebelgeschoss miteinander verband. Sie stieg hinunter, die Hand tastend am Mauerwerk streichend, denn im Turm war es inzwischen dunkel. Sie erreichte das erste Obergeschoss. Der Vorraum war mit Steinfliesen ausgelegt. Er erstreckte sich über die ganze Breite der Hoffront, und Hedwig erkannte am gelblichen Flackern, das durch das Fenster hereinfiel, dass unten im Hof bereits die Fackeln brannten. Auch hier legte sie Holz im Kamin nach, entzündete einen Kienspan an einem brennenden Scheit und hielt ihn an den Docht der großen Hauskerze, die auf einer Gipssäule stand. Zufrieden blickte sie umher. Gleich würden sich die Beliers mit dem Gesinde in diesem schmucken Vorraum versammeln. Herr Belier würde die Löhne auszahlen und das Abendgebet mit den Seinen sprechen. Hier, wo die prunkvollsten Räume der Familie lagen, hier, wo sonst nur Handelsvertreter, Hofangestellte, Geldgeber und Gäste empfangen wurden.

Hedwig überlegte, ob die Zeit wohl noch reichte, um einen Blick auf Juli zu werfen, als sie hastiges Trappeln auf der Wendeltreppe hörte. Unwillkürlich schmunzelte sie. Das konnte nur eine sein. Und richtig, Appel, ebenfalls Magd im Hause Belier, schnellte durch die Tür, ihre kleinen schwarzen Locken wirbelten um ihren Kopf. Sie brachte kalte Luft mit herein. Ihre Miene hellte sich auf, als sie Hedwig sah, die Wangen gerötet vom Laufen und der Erregung. Sie drehte sich um sich selbst, griff nach den Enden ihres wollenen Umhangtuches und schwang es mit ausgestreckten Armen über dem Kopf. Sie lachte und summte. Dann hielt sie inne und blitzte Hedwig mit ihren großen schwarzen Augen an.

 

Hedwig verschränkte die Arme vor der Brust und unterdrückte das Grinsen.

Appel stapfte trotzig mit dem Fuß auf. „Nun frag schon!“, befahl sie.

Hedwig zog spöttisch die Augenbrauen hoch. „Welcher also?“

Wieder stapfte Appel mit dem Fuß. „Dummes, niederträchtiges Weib! Nicht welcher! Wann!“

„Also gut. Wann triffst du welchen deiner unzähligen Verehrer?“

„Oh du Schändliche! Da eile ich mich, um es dir zu erzählen, bevor du nach Hause gehst, und du, du hast nichts Besseres im Sinn, als mich zu … zu …“

„Zu?“

„Zu beleidigen!“

„Aber Appel! Jeden Tag nennst du mir einen anderen Namen, wie soll ich mir die alle merken?“ Vorsichtshalber duckte sie sich. Und richtig, in gespieltem Zorn ließ Appel das Umhangtuch in Hedwigs Richtung schwingen.

„Ach du!“, schmollte ihre Kollegin.

Hedwig betrachtete sie. Appel war schön. Auch wenn sie selbst mit ihrem dunkelbraunen Haar und den blauen Augen nicht unansehnlich war, so kam sie nicht gegen Appels milchweiße Wangen an und deren schwarze Augen, die Unschuld und Versprechen zugleich waren. Hedwig lächelte. Appel tändelte sowohl mit Bäcker Henrichs Lehrling als auch mit Timotheus, dem vierzehnjährigen Lehrjungen des Hauses Belier. Sogar dem Gesellen Meinrad Lücke machte sie schöne Augen. Und wer wusste, wem sonst noch. Sie setzte sich damit gewitzt über das eine oder andere Gebot des Herrn Belier hinweg. Aber Appel strahlte dabei so viel Leben aus, so viel Schalkhaftigkeit. Hedwig hatte die ein Jahr ältere Kollegin gern. „Nun sag schon“, lachte sie daher.

„Adam hat mich gefragt!“, strahlte Appel.

„Adam?“

„Ach Hedwig, du vergisst ja wirklich alles! Adam! Goldschmied Adelmanns Lehrling!“

„Ach der.“

Appel drehte sich erneut um sich selbst. „Er hat mich gefragt, ob ich übermorgen den Einmarsch des Tataren mit ihm zusammen anschauen will!“ Ein holdseliges Lächeln lag auf ihrem Gesicht.

„So, wie du aussiehst, hast du Ja gesagt, was?“

Appel erwiderte, indem sie den Kopf wie in schüchterner Ablehnung neigte und den Busen vorschob: „Aber selbstverständlich! Was denkst du denn?!“

Hedwig wollte fragen, ob Appel um Erlaubnis gebeten hatte, heute Abend ausgehen zu dürfen, als Schritte im Treppenturm das Herannahen der anderen Hausmitglieder ankündigten. So raunte sie ihr nur rasch zu: „Dann nimm dich bloß vor den Mahnreden des Paterfamilias in Acht!“ Sie betonte das Wort verschwörerisch. Charles Belier wurde nämlich nicht müde, Appel vorzuhalten, was geziemendes Verhalten sei, und beim täglichen Abendgebet verurteilte er leichtsinnige Reden und Taten und blickte diese dabei besonders streng an. Hedwig wusste dies nur, weil Appel es ihr erzählt hatte. Sie selbst musste nicht mit der Familie Belier beten. Man ging davon aus, dass ihr Eheherr diese Pflicht zu Hause erfüllte und abendlich aus dem Katechismus vorlas.

Herr Belier betrat den Vorraum, gefolgt von Wittib Zwengel, der Kinderfrau, und den Kindern Daniel und Susanna. Zuletzt folgte Margret, die fünfzehnjährige Küchenhilfe.

Charles Belier war ein Mann in seinen besten Jahren. Ein gebildeter, die Schönheit liebender und in edle Stoffe gewandeter Kaufherr mit einer lustigen Färbung in der Sprache, die Hedwig gefiel.

„Liebe ’ausverwandte“, hob er mit seiner ruhigen Stimme an, „bevor wir dem ’errn für geistige Führung danken und seinen göttlichen Schutz vor nächtlichen Übeln erflehen, gebietet die Sitte des ’eutigen Tages, dass ihr für eure Dienste entlohnt werdet.“

Hedwig mochte, wie er die H’s verschluckte. Wenn er mit ihr sprach, hoffte sie, er möge ihren Namen aussprechen und Wörter mit vielen H’s verwenden. Sie fand es erstaunlich, eine fremde Sprache zu beherrschen und bewunderte Familie Belier dafür, dass sie die ihre aufgegeben und das Deutsche gelernt hatten. Sie schnappte einiges an Wörtern in dem Handelshaus auf, in dem Käufer und Freunde aus dem gesamten Reich, aus Italien, England oder Polen ein und aus gingen.

Herr Belier räusperte sich und blickte Hilfe suchend zum Treppenturm. Da das Kommen seines Eheweibs nicht zu hören war, wandte er sich an Hedwig. „’edwig, du bekommst als Erste deinen Lohn. Schicke Frau Spahr ’erauf, sobald du dein Töchter geholt ’ast.“

„Ja, Herr Belier.“

„Und Velten soll sich eilen, sobald er ’inter dir abgeschlossen ’at.“

„Gewiss, Herr Belier.“

Ein seltsamer Augenblick des Schweigens entstand, in dem Hedwig der unheimliche Schemen einfiel und sie sich erneut fragte, ob sie Herrn Belier warnen sollte. Aber wovor eigentlich? Vor einer dunklen Ahnung, die sie beim Anblick eines wartenden Mannes befallen hatte?

Endlich vernahm man Schritte auf der Treppe, hastige von unten, vom Rascheln des Rockes begleitete, und deutlich gemächlichere von oben. Ein freundlicher Wortwechsel, dann betrat Madame Belier den Vorraum, gefolgt von Meinrad Lücke, dem Gesellen, welcher der Hausherrin den Vortritt gelassen und ihr offenbar auch die Kiste abgenommen hatte, die er wie eine Jagdbeute hinter ihr hertrug. Auf seinem gefütterten violetten Wams schmolzen Schneeflocken, er brachte einen kalten Windhauch mit herein. Er stellte die Kiste neben Frau Belier auf dem Boden ab, rieb die Handflächen aneinander, äugte dankbar zum Kamin und reihte sich schließlich bei den Kindern ein. Wie jeden Abend hatte er zusammen mit Velten, dem Knecht, und dem Lehrjungen Timotheus die Läden und Türen in den Verkaufsräumen im Erdgeschoss verschlossen. Das quietschende Klirren, Rasseln und Scheppern war dumpf bis nach oben gedrungen.

Frau Belier stand neben ihrem Eheherrn. Sie sah eindrucksvoll aus in ihrer braunen Schoßjacke mit den gepufften Ärmeln und mit dieser ausladenden Hüfte unter dem Hüftpolster, an der der riesige Schlüsselbund im Kaminfeuerschein glänzte. Sie war füllig, hatte gerötete, volle Wangen und strahlte jene stolze Zufriedenheit aus, die eines erfolgreichen Bürgers Eheweib wohl anstand. Sie öffnete den großen Leinenbeutel, den sie an einer Schnur am Arm getragen hatte.

Es klimperte, als Herr Belier den großen Lederbeutel von seinem Gürtel nahm, um die Gulden herauszuzählen. „’edwig“, sagte er und winkte sie zu sich.

Hedwig trat vor und nahm die Münzen in Empfang. Madame zog ein Paar Halbstiefel aus dem Leinenbeutel und gab sie ihr. Hedwig wurde vor Freude rot. Es waren schöne Stiefel aus Rindsleder, dunkelbraun, und sie hatten einen breiten Schaft. Madame beugte sich hinunter, öffnete die Kiste und entnahm ihr ein Bündel. Wie Hedwig von Appel und Frau Spahr wusste, pflegte Madame Belier die zehn Ellen Tuch in übrig gebliebene Tuchreste zu packen und mit einer Schnur zu umwickeln, sodass sie getragen werden konnten. Das Bündel, das Madame Hedwig reichte, war in wollfarbenes Leinen gewickelt. Letztlich war dies eine Dreingabe, denn aus diesen Resten ließ sich noch immer etwas fertigen, und wenn es eine Windel für Juli war. Hedwig knickste ehrerbietig. „Danke, Herr Belier. Danke, Frau Belier.“

„Gute Nacht, Hedwig, gehab dich wohl.“

Hedwig verabschiedete sich und ging die Stufen hinunter. Um im Dunkeln nicht zu stürzen, musste sie langsamer gehen, als ihr lieb war. Unten angekommen trat sie in den Hofraum, wandte sich nach rechts, wo an den Treppenturm eine Küche aus Stein angebaut war. Lächelnd öffnete sie die Tür und wurde sofort von Wärme und dem Geruch von Holzfeuer und frisch gebackenem Brot empfangen. Und vom freundlichen Lächeln Frau Spahrs. Die Köchin stand am großen Holztisch in der Mitte des niedrigen Raumes und richtete Äpfel, Birnen und Karottenstücke in einer Schale.

„War sie brav?“

„Aber ja, das war sie. Sie ist es immer.“

Hedwig hörte an Frau Spahrs Ton, dass deren Lächeln noch breiter geworden war. Augen indes hatte sie nur für das Weidekörbchen, das links neben dem Herd stand. Im Nu war sie dort und äugte hinein. Wärme kroch ihr vom Bauch in die Brust und weiter hinauf bis in die Wangen. Ihre Tochter!

„Sie schläft, oder?“, fragte Frau Spahr herzlich.

„Ja, das tut sie.“

Hedwig wandte sich zum Tisch und hielt Frau Spahr stolz Stiefel und Bündel hin.

„Fein gearbeitet, da lassen sie sich nicht lumpen“, bemerkte die Köchin anerkennend. Sie deckte die Schale mit den Früchten und die Teller, auf denen sie Brot und Käse für das Nachtmahl der Familie gerichtet hatte, mit einem weißen Leinentuch ab. Während sie sich daranmachte, alles in einen großen Henkelkorb zu packen, sagte sie: „Ist ja heute wieder zugegangen wie im Taubenschlag. Was für ein Haus!“ Sie lachte, und das klang zufrieden. „Lieferung neuer Tuche, das Rumpeln der Fässer, die ausgefrorenen Fuhrleute, die auf einen Becher Würzwein in die Küche kommen. Ich sag dir, fehlte bloß noch unser Fürst höchstselbst.“

Frau Spahrs Stolz, zu einem solchen Haus zu gehören, sprach aus jedem ihrer Worte, und Hedwig, die ihr dies nachempfinden konnte, lächelte sie an. „Ja“, stimmte sie zu, „ein Umtrieb ist das stets.“

„Na, ich bin’s froh, meine müden Knochen bald aufs Lager strecken zu können. Nun spute dich, damit ich nach oben kann.“

Auch Velten wartete, sicher, dass sie käme, um hinter ihr abzuschließen. Sie band die lange weiße Schürze ab und hängte sie an den Haken an der Wand. Dann schälte sie Juli vorsichtig aus dem Körbchen, hüllte sie in das Wolltuch, das an einem weiteren Haken neben ihrem eigenen Mantel hing. Nachdem sie diesen angezogen hatte, hob sie Juli mit Frau Spahrs Hilfe in das Tragetuch und wickelte noch das Schaffell darum. Ihre Tochter auf dem Bauch, das Tuchbündel und die Stiefel in der Hand, verabschiedete sie sich von der Köchin.

„Bis morgen!“, rief diese und schloss die Küchentür hinter ihr.

Hedwig überquerte den großen, fast quadratischen Hof, an dessen östlicher Mauer zwei Fackeln in Halterungen flackerten. Sie bog nach links und betrat das lange, schmale Hofgelände, das zur Straße führte und an dessen Ende sich das Eingangsportal befand. Dort standen Velten und Timotheus und – wer noch? Kurz erschrak sie, ob es sich wohl um den seltsamen Unbekannten handelte. Knecht und Lehrling hatten die Fackeln, die diesen Teil des Hofes erhellten, aus den Halterungen genommen und hielten sie in der Hand. Beide wandten ihr den Rücken zu. Sie kam näher und sah im Fackelschein einen jungen Mann mit schmalem, blassem Gesicht. Er war barhäuptig, hatte kinnlanges schwarzes Haar und war gänzlich in Schwarz gewandet. Zu seinen Füßen lag ein schwarzer Ledersack. In einem seltsamen Singsang sprach er auf die beiden jungen Männer ein, dann bemerkte er Hedwig.

Velten und Timotheus drehten sich zu ihr um, und der Fremde hob den Arm, ein Lächeln huschte über seine hohlen Wangen. Er rief über die Köpfe der beiden vor ihm Stehenden hinweg: „Jungfer, seid gegrüßt! Sankt Martin ist ein harter Mann für den, der nicht bezahlen kann. Wollt Ihr so gütig sein und von einem Reisenden am Tag seines Schutzpatrons erwerben eine Heiltinktur? Geweihtes Öl vom Grab des heiligen Martin? Auch Räucherwerk und allerlei Würzereien ich habe anzubieten, die sorgen für gesunden Schlaf und gute Träume.“ Er lächelte gewinnend. „Hat Martini weißen Bart, wird der Winter lang und hart. Da solltet Ihr sein gewappnet und mein Wundermittel gegen Gelenkschmerzen im Haus haben, auch wenn Ihr – hold und jugendlich wie die aufgehende Sonne – von derlei Gebrechen sicher nicht heimgesucht werdet. Ich hoffe, Ihr habt mehr Einsehen als diese beiden Sturköpfe hier.“

Der Redeschwall war mit atemlosem Eifer auf sie niedergegangen. Die Stimme des Unbekannten hatte einen seltsamen Beiklang. Englisch?

„Nichts da, wir brauchen nichts!“, besann sich Velten auf seine Pflichten. „Raus hier!“ Unsanft stieß er den Fremden zum Portal. Der klaubte seinen Sack vom Boden und rief über die Schulter: „Möge der Herr Euch schenken einen friedvollen Schlaf!“

Dann verschlang ihn die Dunkelheit jenseits des Hofportals.

„Nichts für ungut, Hedwig, der schwatzte uns ganz dumm mit seinen Wundermittelchen.“

 

„Vielleicht wartet Ihr besser einen Augenblick, ehe Ihr geht, Frau Eichhorn“, zeigte Timotheus sich besorgt. „Soll ich nachschauen, ob er auch wirklich fort ist?“

Hedwig war der Fremde zwar harmlos erschienen – doch jener andere fiel ihr erneut ein, also machte sie eine zustimmende Geste, und der Lehrjunge, stolz, ihr behilflich sein zu können, wuselte durchs Tor.

Drei Herzschläge drauf war er wieder da, hob die Schultern und sagte: „Keine Spur mehr von ihm! Ihr seid sicher.“

Woraufhin sie den beiden eine gute Nacht wünschte und hinaus auf die Straße trat.