Der Engel, der seine Flügel verbrannte

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Der Engel, der seine Flügel verbrannte
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Markus Saxer

DER ENGEL,

DER SEINE FLÜGEL

VERBRANNTE

Kurzgeschichten und Kurzprosa

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2017

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2017) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Titelbild »Dark misery« © igorigorevich (Fotolia)

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Zitat

KURZGESCHICHTEN

Ein Himmelswesen auf Erden

Das Sakrileg des Rabbi Löw

Gefährliche Erbschaft

Das menschliche Cello

Die grotesken Schwestern

Die Maske des Entführers

Herbst des Schreckens

Der Sündenfall (Erzählung)

KURZPROSA

23 Christusse

Eine Statue sein

Traktat eines Unbeseelten

Marmorengel

Schindung des Marsyas

Ad Crucem

Die Nacht

Denkst du an Engel, so bewegen sie ihre Flügel

Aus Israel

KURZGESCHICHTEN
Ein Himmelswesen auf Erden

Auf der sanft ansteigenden Treppe der Basilika saß ein weiblicher Engel und rauchte gelangweilt. Er hatte das Kinn in die Hand gestützt, die von seinem sanft gelockten ebenholzfarbenen Haar bedeckt wurde. Seine im Sonnenlicht gleißenden Flügel lagen ordentlich zusammengefaltet auf den Pflastersteinen zu seinen bloßen Füßen.

Nick war der Engel schon von Weitem aufgefallen. Er setzte sich neben ihn und fragte: »Kann ich auch eine haben? Meine Zigaretten liegen leider im Wagen.«

Hustend wandte sich ihm der Engel zu und reichte ihm seine halb heruntergerauchte Zigarette: »Dumme Angewohnheiten habt ihr Menschen.« Er hatte eine leicht raue, verhexende Stimme.

»Was genau meinst du?«, fragte Nick und nahm einen Zug.

»Na, Rauchen und so. Schmeckt scheußlich.«

»Ah, verstehe. Ein Engel auf den Spuren irdischer Laster.«

»Sozusagen. Eigentlich reise ich ja inkognito, aber offenbar hast du mich durchschaut.« Erneut hustete er.

Mit einer hoch gezogenen Braue musterte Nick die abgelegten Flügel. »Entschuldige, aber deine Tarnung ist ja auch ein Witz. Ich heiße Nick.«

»Philine. Freut mich.« Sie drückte Nicks Hand. »Ich finde, wenn sich ein Engel als Engel verkleidet, ist dies die perfekte Tarnung. Das macht ihr beim Fasching doch auch so. Magst du Engel?«

Nick dachte nach. »Eigentlich schon. Insbesondere jene, die auf den Fresken hin- und herfliegen. Botticelli oder Giotto, ich weiß gar nicht genau … Übrigens ist Philine ein sehr spezieller Name für einen Engel. Woher soll ich wissen, ob du auch einer bist?«

Schweigend sah Philine in die Sonne, ohne ein einziges Mal zu blinzeln.

»Gib mir ein Zeichen«, forderte Nick, betrachtete ihr berückend schönes Gesicht und blies einen Rauchkringel in die Luft.

»Sim dazen nui loch matunika«, murmelte Philine vor sich hin.

»Was heißt das?« Er schnippte die Kippe weg.

Sie wandte ihr Gesicht von der Sonne ab und schaute ihn schweigend an. Plötzlich weiteten sich ihre Pupillen und es wetterleuchtete in ihnen. Ihr Blick hielt eine Weile den seinen fest − und dann küsste sie ihn, und die Flügel, die sie nicht trug, umarmten ihn.

Er schloss die Augen und erschauerte. Philines Kuss schmeckte nach Milch und Honig.

»Sim dazen nui loch matunika«, wiederholte sie. Jetzt verstand er ihre Worte: »Ich selbst bin das Zeichen.«

Er nickte und sagte anerkennend: »Ezra aramantiana matunika − ein wunderschönes Zeichen bist du.« Ein wenig erschreckten ihn diese fremden Wörter aus seinem Munde.

Kurz, ganz kurz nur, lehnte sie ihren Kopf gegen seine Schulter und flüsterte: »Nach dem ersten Kuss eines Engels beherrschst du dessen Sprache.«

Nick gab sich skeptisch: »Gibst du mir noch ein Zeichen?«

Seufzend verdrehte sie die Augen: »Ihr Gesicht ist von berückender Schönheit und ihr Kuss schmeckt nach Milch und Honig. Zufrieden?«

»Unglaublich, du kannst meine Gedanken lesen!«

»Wie in einem offenen Buch.«

Ganz gefangen von ihrer Schönheit und der Süße ihrer Zunge umarmte er Philine und küsste nun sie, doch sie entwand sich ihm und stieß ihn weg: »Mein Gott … das hättest du nicht tun dürfen, Nick!« Sie klang schockiert.

»Aber du hast doch mit dem Küssen angefangen!«

Ihr Blick wurde milde: »Ja, und es war auch sehr schön. Aber …«

»Aber?« Er nickte aufmunternd und bewunderte ihr fein gemeißeltes Profil, als sie den Blick zum Himmel hob.

»Nach dem zweiten Kuss verfällt ein Mensch einem Engel rettungslos.«

»Kein schlechter Gedanke.« Nick rieb sich das Kinn.

»Ein furchtbarer Gedanke. Das Schlimmste, was du tun konntest!«

»Weshalb?«

»Weil dieser Mensch an gebrochenem Herzen stirbt, sobald der Engel in den Himmel zurückkehrt.«

»Ach, komm …« Er legte sich die Hand aufs Herz.

»Hört sich irgendwie romantisch an, findest du nicht?«

»Das war kein Witz!«

»Dann bleib bei mir.«

»Nein! Um deinesgleichen zu werden, müsste ich dich ein drittes Mal küssen, aber dann wäre ich nicht mehr unsterblich und mir bliebe die Rückkehr in den Himmel verwehrt.«

Das kaufte Nick Philine zuerst nicht ab, doch als sie ihm die Hand auf die Schulter legte und ihn durchdringend musterte, fühlte er sich plötzlich unwohl in seiner Haut.

Mit gesenktem Haupt erhob sich Philine und klemmte sich ihre Schwingen unter den Arm. Unter den neugierigen Blicken einer Schar Touristen wandte sie sich zum Gehen: »Leb wohl, Nick!« Ihre Worte blieben in der Luft hängen, als wollten sie gemeißelt werden.

Nick wollte sie noch hundert Dinge fragen, doch das war nicht mehr möglich. Statt dessen hob er grüßend die Hand und blieb nachdenklich und seltsam bestürzt sitzen. Als der Engel verschwunden war, spürte er einen Stich in der Brust, und fasste sich erneut ans Herz. Eine weiße Taube spazierte auf ihn zu und gurrte. Deine Sprache verstehe ich leider nicht, dachte Nick.

Seit der Begegnung mit dem Engel vor einer Woche konnte Nick weder essen noch schlafen. Sein Körper befand sich in einer Art Schockzustand. Er rauchte ununterbrochen und fühlte sich, als zerreiße etwas seinen Körper und seine Seele. Im Spiegel erblickte er ein fremdes, ausgezehrtes Gesicht mit dunklen Augenringen, das um Jahre gealtert schien. Hunger-Halluzinationen suchten ihn heim: Er hatte sich mit Philine im Arm gesehen, wie sie gemeinsam eine Treppe aus Licht emporschwebten, dann jedoch war sie ihm von einer unsichtbaren Macht entrissen worden und vor seinen Augen mit einem gellenden Schrei ins Bodenlose gestürzt. Philine hatte eine Sehnsucht in ihm entfacht, die ihn innerlich verbrannte und Fieberschübe verursachte. Mit zitternden Händen zündete er sich eine Zigarette an und ging aus dem Haus. Er setzte sich hinters Steuer und fuhr zur Basilika, so wie gestern. Und vorgestern … Nie war sie da gewesen …

Heute jedoch schien Nick das Glück hold, und wäre er nicht so erschöpft gewesen, wäre er wohl in lauten Jubel ausgebrochen: Anmutig, in eine weiße Tunika gehüllt, stand Philine barfuß vor der Steintreppe und schien auf ihn zu warten. Über ihrem Haupt kreuzten sich weiße Flügelspitzen und darüber zogen dramatische Regenwolken hinweg.

Mit klopfendem Herzen rannte er auf sie zu und wäre dabei fast mit einer alten Frau zusammengestoßen, die beim Taubenfüttern innehielt und den Engel anstarrte. Beim Anblick seiner Angebeteten verschlug es Nick die Sprache und er konnte nur mühsam atmen.

 

Philine strahlte ihn an: »Hallo Nick. Hast du Feuer?«

Er nickte stumm, klopfte sich die Jackentaschen ab, bis er sein Feuerzeug fand. Als die Turmglocke läutete, gab der Engel ihm einen innigen Kuss, entledigte sich seiner Flügel und steckte sie in Brand.

Das Sakrileg des Rabbi Löw

Nachdem der alte Rabbiner Judah Löw aus feuchtem Lehm den drei Ellen hohen Golem geformt hatte, setzte er sich erschöpft auf einen Stein und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Während er sich ein paar Lehmklumpen vom Bart zupfte, wies er seinen Schwiegersohn an, die ungeschlachte Figur mit menschlichen Zügen sieben Mal zu umschreiten und dabei die ihm vorgegebene magische Formel aufzusagen. Alsbald begann die Tonfigur zu glühen, so als brenne in ihrem Inneren ein Feuer. Als Zweiter umkreiste ein Schüler des Rabbis den Golem. Diesem entströmten daraufhin Dämpfe, und Haare und Fingernägel sprossen aus dem Lehm hervor. Nun erhob sich der Rabbi mit einem Ächzen und schritt sieben Mal murmelnd um sein Geschöpf, ohne es aus den Augen zu lassen. Am Ende stellten sich die drei Männer vor der Figur auf und sprachen wie aus einem Munde: »Und Elohim blies ihm den Odem des Lebens ein, und Adam erwachte zum Leben!«

Da schlug die Lehmgestalt die Augen auf und ihr Brustkorb begann sich zu heben. Der Schüler und des Rabbis Schwiegersohn wichen erschrocken zurück. Der Rabbi jedoch, den ein Sturm triumphierender Freude und Jubel durchtoste, trat auf den Golem zu, gab ihm den Namen Joseph und hieß ihn, sich aufzurichten und sich mit dem Gewand eines Synagogendieners zu bekleiden, das die Juden mitgeführt hatten. Danach gingen die Männer von dannen, der Moldau entlang, und fügsam folgte ihnen der Golem mit schwankenden, schweren Schritten.

Eines Nachts erschien dem hohen Rabbi Löw ein Erzengel, herabgestiegen aus der Sphäre des oberen Himmels, des feurigen, der aus Licht ist. Bei Neumond betrat er die Kammer des Alten, der gerade die Kerzen der Menora anzündete, dem aus einem Stück gehämmerten, siebenarmigen Leuchter. Der Engel kam nicht in menschlicher Gestalt, er war geschaffen aus Feuer und Geist und dem Hauch des Unendlichen. In erhabener Schönheit sprach er zu dem Rabbiner: »In den Zeichen, aus denen ihr Menschensöhne die Worte formt, sind die großen Kräfte und die Gewalten beschlossen, welche die Welt in ihrem Gang erhalten. Wisse, alles was auf Erden zu Wörtern geformt wird, hinterlässt seine Spuren in der oberen Welt. Das Zeichen Taph, mit dem der Sabbath scheidet, kennst du wohl aus der Kabbala. In ihm ist das Gleichgewicht der Welt beschlossen, zu dessen Hütern fünf Engel des reinsten Lichts bestimmt sind.«

Diese Worte drangen dem Gelehrten in die Seele wie feiner, glitzernder Staub aus dem heiligen Moder vergangener Jahrtausende. »Ja, dies alles weiß ich, o heiliger Cherub«, antwortete der Rabbi und zitterte vor Angst.

»Du Leichtfertiger, du Staubkorn«, fuhr der Engel zornig fort, »hast dieses Gleichgewicht beschädigt!«

Bei diesen Worten erloschen die Lichter der Menora auf geheimnisvolle Weise und der Strahlenglanz des Himmelsboten erfüllte nun die Kammer.

Wie unter einem Hieb zuckte der Rabbi zusammen und ihm wurde eiskalt.

»Als du aus Lehm den Golem geformt und zum Leben erweckt hast, war dies ein Eingriff in den Plan der Schöpfung.«

»Aber«, krächzte der Rabbi, hielt die Hände in die Höhe und ließ sie sogleich kraftlos wieder fallen, »ich erschuf den Golem doch nur, um den Ablauf der Schöpfung zu erfassen und nachzuvollziehen.«

»Du wolltest dich auf eine Stufe mit Gott stellen!«

Tief betroffen sah der Rabbi seine frevelhafte Tat ein und war ratlos: »Was soll ich jetzt tun?« Hinter den Brillengläsern glitzerten Tränen, als er sich mit der Rechten schwer auf den Talmud abstützte, der vor ihm auf dem Tisch lag.

»Dein Geschöpf töten. Ist dies bis zum nächsten Sabbath nicht geschehen, wird der Allerhöchste den Cherub mit dem Flammenschwert von seiner Wache über den Baum des Lebens abberufen. Tut er dies, wird in der Folge die Erde von Feuer verzehrt und alles Leben vernichtet werden.«

»Ich habe die Kontrolle über den Golem verloren, er ist auf und davon«, gab der Alte kleinlaut zu und wischte sich fahrig übers Gesicht. »Im Prager Ghetto soll er angeblich sein Unwesen treiben. Wie ein Berserker wütet er dort und erschlägt jeden, der sich ihm in den Weg stellt. Daher erscheint es mir kaum möglich, ihn bis zum Sabbath dort aufzuspüren und zu töten. Ich bin nur ein alter Mann.«

Der Feuerblick des Erzengels brannte dem Rabbiner im Gesicht und in der Seele, als er sagte: »Wenn du deines Geschöpfs nicht habhaft werden kannst um es zu töten und so das Gleichgewicht der Welt wiederherzustellen, muss ich die Sache für dich in Ordnung bringen.« Wie ein wandelndes Licht trat das himmlische Wesen auf den Rabbiner zu und schrieb ihm mit dem Finger das Wort METH, das Siegel des Todes, auf die Stirn, während er monoton eine Formel sprach.

Ein entsetzlicher Schrei wich von den Lippen des Alten, sein Blick erlosch und sein Antlitz erstarrte: Der Rabbi wurde selbst zu einer leblosen Statue, einem Lehmbild. Die äußere Schicht seines Gesichts bröckelte ab und ein Ton von fahlem Gelb kam zum Vorschein, der sich langsam in Staub auflöste.

Da war das Gleichgewicht der Welt wiederhergestellt, und der Erzengel verließ die Kammer und schwang sich in die Sphäre des oberen Himmels empor, des feurigen, der aus Licht ist.

Gefährliche Erbschaft

Deborah Lehmanns Schritte mäanderten über die Marmorfliesen des riesigen Wohnzimmers, über welche die Sonne ihre Strahlen breitete. Sie frohlockte innerlich, als ihr erneut klar wurde, dass diese Villa bald ihr gehören würde, konnte ihr Glück kaum fassen. Ihr verstorbener Onkel Thaddäus − Abkömmling eines alten europäischen Geldadels − hatte ihr die Liegenschaft mit einer absonderlichen im Testament verfügten Auflage vererbt: Deborah durfte den Prunkbau mit der Säulenveranda in den ersten beiden Tagen unter gar keinen Umständen verlassen, egal was geschehen würde. Erst danach würde die Villa in ihr Eigentum übergehen. Was war vom letzten Willen des exzentrischen Onkels zu halten? Dies ging Deborah immer wieder durch den Kopf, doch sie kam nicht dahinter und fand keine plausible Erklärung dafür. Ihr Onkel hatte allein in völliger Abgeschiedenheit gelebt und sein Leben, wie man hörte, geheimen Forschungsprojekten und alchemistischen Experimenten geweiht. Mit seiner Affinität zum Okkulten galt er allgemein als Phantast und Sonderling, dem stets etwas Diabolisches anhaftete: Die Diabolik eines gleichsam verschrobenen, aber nicht bösartigen Prince of Darkness mit Gothic-Habitus.

Deborah hatte ihn nur selten gesehen und stand ihm nie besonders nahe − desto erstaunlicher, dass er sie nun mit diesem fürstlichen Erbe bedachte.

»Wir haben Ihnen den Kühlschrank gefüllt, Frau Lehmann«, verkündete die Nachlassverwalterin Helene Thalbach, eine stattliche, vorzeitig ergraute Dame. »Sie brauchen in den nächsten Tagen bestimmt nicht zu hungern.«

»Sehr aufmerksam. Danke, Frau Thalbach.« Deborahs Blicke schweiften über die mit weißen Laken bedeckten Möbel, die nicht aussahen wie Sofas, Schränke oder Tische, sondern eher wie ungestalte Tote unter Leichentüchern. Lebendig wirkte einzig der imposante Kronleuchter mit seinen funkelnden Prismen.

»Dass Sie das Haus bis übermorgen nicht verlassen dürfen …«, die Nachlassverwalterin kramte mit gerunzelter Stirn ein Dokument aus ihrer Aktentasche hervor, »mutet schon bizarr an, muss ich sagen.«

»Allerdings.« Deborah kniff ihre Augen, die die Farbe von Bitterschokolade hatten, zusammen und strich sich eine Strähne hinters Ohr. »Was mag mein Onkel damit bezwecken?« Eine senkrechte Falte erschien zwischen ihren vollendet geformten Brauen.

Helene Thalbach zuckte mit den Achseln. »Da müssten Sie ihn fragen können. Vielleicht will er Ihren Mut prüfen, wer weiß.«

»Na super.«

»Deborah, sollten Sie in Gefahr geraten, rufen Sie bitte sofort die Polizei.«

»Ich kann auf mich aufpassen. Bin ja schon ein großes Kind.« Zärtlich betrachtete die Hauserbin in spe die in Silber gerahmten schwarzen Quadrate an der Wand. Schwarz, das Lapislazuli der abstrakten Expressionisten, war ihre Lieblingsfarbe.

Die Nachlassverwalterin hatte sich ihren Kaschmirmantel um die Schultern gelegt und ergriff die Aktentasche. »So, dann lasse ich Sie jetzt mal mit Ihrer Villa Kunterbunt allein.«

Deborah begleitete sie zur Tür. Als sich die Frauen voneinander verabschiedeten, tauchte die Dämmerung den Himmel in die Farben des Feuers.

Die junge Frau schloss die Tür und verriegelte sie. Dann kickte sie ihre zierlichen schwarzen Lackpumps in die Ecke. Mit Koffer und Beauty-Case in den Händen stieg sie die Marmortreppe empor, welche oben von je einer lebensgroßen steinernen Frau mit erhobenem Gasleuchter flankiert wurde. »Ihr dürft mich Königin der Welt nennen, Schwestern«, sagte sie übermütig, als sie die Statuen passierte.

In zwei Tagen bin ich Millionärin. Ich muss nie wieder arbeiten!

Als sie sich nach dem Schaumbad vor dem beschlagenen Spiegel das Haar zum Pferdeschwanz band, blickte sie auf eine geisterhafte, ätherische Version ihrer selbst.

Nach dem Genuss eines Schinken-Omeletts inspizierte sie ihr Schlafzimmer, ein düsterer hoher Raum, dessen Wände mit rotem Damast bezogen und mit alten Stichen geschmückt waren. Bücher drängten sich in Regalen, balancierten auf der Kommode und lugten unter dem Bett hervor, auf das jemand frische Laken gelegt hatte. Sie nahm zwei Bücher mit goldverzierten Einbänden zur Hand und setzte sich auf die Bettkante. Das eine war ein naturwissenschaftliches Werk von Paracelsus, das andere Goethes »Faust«. Sie öffnete den »Faust« da, wo sich das seidene Lesezeichen befand: Die geschilderte Laboratoriumszene, wo Wagner im Beisein von Mephistopheles den Homunkulus, einen künstlichen Menschen in einer Phiole erzeugt, war rot unterstrichen und mit Ausrufezeichen versehen. Da sich Deborahs Interesse an derlei Texten in Grenzen hielt, legte sie das Buch zur Seite und öffnete das Fenster. Der Nachthimmel sah aus wie ein schwarzes Meer, auf dessen Oberfläche zahllose Lichter um einen dreiviertelvollen Mond herum glitzerten. Sie blickte auf die Häupter der steinernen Statuen herab und roch den scharfen Duft des toten Laubes. Sie schloss das Fenster und legte sich im schwarzen Bademantel mit angezogenen Knien unter die Bettdecke, das Smartphone griffbereit neben sich.

Später verschickte sie noch ein paar SMS an ihre besten Freundinnen. Danach versuchte sie zu schlafen, jedoch erfolglos: Zu viele Gedanken im Zusammenhang mit dem Testament und dieser Villa gingen ihr durch den Kopf …

Als sie um zwei Uhr morgens immer noch herumgrübelte, stand sie auf, um eine Schlaftablette zu schlucken. Kaum hatte sie gähnend das Licht angeknipst, klingelte es an der Haustür. Sie erstarrte.

Als es im Haus ruhig blieb und sie sich wieder gesammelt hatte, schlich sie mit laut klopfendem Herzen nach unten.

Auf dem Boden unter dem Türschlitz entdeckte sie einen Umschlag. Vorsichtig hob sie ihn auf und zog dessen Inhalt hervor, ein von Hand beschriebenes DIN-A4-Papier. Absender war ihr Onkel. Dass er offenbar Helfer hatte, die seine noch zu Lebzeiten verfasste Korrespondenz nach seinem Tod verteilten, fand Deborah beunruhigend.

Beschatten die mich auch?

Sie versicherte sich, dass die Tür abgeschlossen war, blickte durch den Spion bevor sie den Text las. Thaddäus schrieb, obschon er sie nur selten gesehen habe, liebe er seine Nichte wie eine leibliche Tochter, weshalb er ihr die Villa vermache, für deren Unterhalt gesorgt sei. Die Testamentsauflage mit der Zweitagesfrist solle bewirken, dass Deborah genug Zeit habe, sich an das Haus zu gewöhnen und lieb zu gewinnen. Ihm sei wichtig, dass es in Familienbesitz blieb und nicht an Dritte veräußert würde. Dasselbe gelte für den kostbaren Rubinring, der für sie an einem geheimen Ort aufbewahrt werde.

Der Onkel hatte eine Skizze des Hauses angefertigt und eines der Zimmer rot markiert. Zufälligerweise war es das Zimmer, in dem sie nächtigte. Auf dem Papier befand sich auch die Zeichnung des Bücherschranks der dort stand. Betätige man seinen versteckten Mechanismus (er war mit einem Pfeil markiert), würde ein Teil des Regals zur Seite gleiten und die Pforte zum Versteck des Rings freigeben.

 

Droht mir Gefahr, wenn ich der Aufforderung des Onkels nachkomme?

Zweifellos war er ein Exzentriker gewesen, aber dass er sie in eine Falle locken wollte, konnte sie sich nicht vorstellen. Von Natur aus neugierig beschloss sie, der Sache auf den Grund zu gehen.

Mit dem Brief in der Hand stand sie vor dem Bücherschrank und suchte nach dem Geheimmechanismus. Als sie ihn betätigte, glitt der Schrank mit einem leisen Quietschen zur Seite. Dahinter erschien eine kleine Holztür. Deborah gab einen überraschten Laut von sich. Kurz zögerte sie, doch dann steckte sie den Brief ein, entriegelte die Pforte und drückte dagegen. Sie hörte das leise Reiben von Holz auf Holz. Die junge Frau zog die Taschenlampe aus dem Hosenbund und steckte ihren Kopf durch den Türrahmen. Stickige Luft wie von Gespensteratem schlug ihr entgegen. Eine abwärts führende Wendeltreppe erschien im Lichtstrahl. Deborah schüttelte ihre Beklommenheit ab und betrat aufgeregt die Treppe, stieg vorsichtig hinunter bis zu einem Raum, in den von allen Seiten sanftes Licht drang. Das niedrige Deckengewölbe mit den dünnen geschnitzten Alabastersäulen erinnerte sie an eine Krypta. Als ihr Blick auf den kleinen, auf einem Altar ruhenden Körper fiel, spürte sie, wie sich ihre Haare auf dem Nacken aufrichteten. Die Taschenlampe entglitt ihren Fingern.

Allmächtiger!

Unschlüssig blieb sie stehen.

Nachschauen? Oder umkehren und die Polizei rufen?

Neugierig setzte Deborah behutsam einen Fuß vor den anderen, bis sie nur flach atmend neben dem Altar stand und auf einen Knaben in weißem Gewand herabsah. Schaudernd hörte sie ihr Blut in den Ohren rauschen und dachte, sie sei auf einen Leichnam gestoßen. Mit verstört geweiteten Augen stand sie wie erstarrt da.

Hat der Onkel dieses Kind entführt? Für seine Experimente?

Und ihn anschließend getötet?

Auf einmal öffnete der Junge die Augen, blinzelte und musterte die Frau mit trägem Interesse.

Sie beugte sich über sein wachsbleiches Antlitz. Es stand in starkem Kontrast zu der Haarpracht − rot wie eine Feuergarbe. Seine Augen unter den schweren, traumverlorenen Lidern waren schwarz wie die gerahmten Quadrate. Fasziniert betrachtete Deborah den grausam-wollüstigen Zug um seine kleinen blassen Lippen, hinter denen die Zähne weiß hervorschimmerten. Der Knabe sah aus wie eine kleine, sehr schöne Frau.

»Wie heißt du?«, flüsterte sie, bekam aber keine Antwort.

»Wo wohnst du?«

Er beobachtete sie weiterhin mit stiller Neugier.

»Keine Angst, ich tu dir nichts.«

Seine Augen nahmen einen metallischen Glanz an. Bedächtig hob er die Faust, öffnete sie und präsentierte auf dem Handteller einen Goldring mit einem gefassten Rubin, der in tiefstem Taubenblutrot funkelte.

Deborah überkam das schwindelige Gefühl, von der Wirklichkeit wegzutreiben. Wie in einem surrealen Traum konnte sie sich nicht rühren, ließ es geschehen, dass der Knabe ihre Hand ergriff und den Ring über ihren Finger streifte. Sachte zog er ihre Hand an seine Lippen.

Sie leistete keinen Widerstand.

Er berührte den Rubin und drehte ihn leicht. Da bohrte sich an der Innenseite des Rings ein Dorn in Deborahs Finger, sodass sie vor Schmerz und Überraschung aufschrie. Ehe er ihre Hand freigab, trat ihm ein Blutstropfen über die Lippen.

Panik schoss wie glühende Nadeln durch Deborah hindurch und erschrocken wich sie zurück.

Jäh entwickelten sich Flammen in den Augen des Jungen und seine Nüstern blähten sich. Stürmisch stürzte er sich auf die Frau. In Raserei grub er seinem Opfer die Zähne in den Unterarm und biss ihr die Adern auf, zitternd vor Gier.

Sie hörte ihr eigenes Brüllen, und gelähmt vor Entsetzen und Schmerz gewahrte sie, wie der Angreifer ihr Blut trank. Allmählich legte sich ein roter Schleier vor ihre Augen, die Welt um sie herum begann sich zu drehen, bis Deborah besinnungslos zu Boden sank.

Der Junge, der über enorme Kräfte verfügte, leckte sich die Lippen, hob die bewusstlose Frau vom Boden hoch und trug sie über die Wendeltreppe nach oben.

Nachdem Helene Thalbach mehrmals vergeblich versucht hatte Deborah Lehmann telefonisch zu erreichen, fuhr sie zur Villa und klingelte. Niemand öffnete. Sie versuchte es erneut, wartete ein Weilchen, doch weiterhin rührte sich nichts. Beunruhigt kramte sie den Reserveschlüssel aus der Aktentasche, schloss die Tür auf und trat ein. »Hallo!? Frau Lehmann?«

Sie lauschte. Stille. Plötzlich hörte sie ein leises Wimmern, das ihr sofort Magenschmerzen verursachte. Es schien von oben zu kommen.

Als sie endlich im Zimmer von Deborah stand, verschlug ihr der Anblick den Atem.

Grundgütiger!

Mit der Hand vor dem Mund näherte sie sich ihr. Die Frau mit den leicht ausgebreiteten, blutenden Armen auf dem Bett, hatte nichts mehr zu tun mit der jungen Dame, die sie zuletzt vor drei Tagen gesehen hatte: Deborah Lehmann verfiel quasi vor ihren Augen, das Fleisch schien ihr aus dem von Todesqual gezeichneten Gesicht verschwunden, ihr Körper wirkte geschrumpft.

Helene Thalbach setzte sich zu ihr auf die Bettkante und legte die Hand auf ihre glühend heiße Stirn. »Mein Gott, was ist passiert? Ich rufe sofort einen Krankenwagen.«

Deborah krallte ihr die Finger ins Handgelenk und schüttelte den Kopf. »Nein …«, wisperte sie mit zittrigen Lippen, und in ihren Augen hinter den entzündeten Lidern lag ein Flehen. »Kommen Sie … näher.« Eine Träne rann ihre Wange entlang.

Die Nachlassverwalterin schluckte schwer, neigte ihr den Kopf so dicht entgegen, dass sie das schweißnasse Haar der anderen an ihrer Wange spüren konnte.

Deborah hauchte ihr Satzfetzen ins Ohr, teils zusammenhangslos, teils wie verstörendes Kopfkino, welches Frau Thalbach die Farbe vom Gesicht tilgte und ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Mechanisch legte sie der Verletzten die Arme an den Körper und deckte sie zu, um endlich die Ambulanz zu rufen.

Sogleich fing Deborah an krampfhaft zu beben, aber nicht wegen der Temperatur im Zimmer.

Das war nicht die Kälte. Das war Angst. Todesangst.

Helene Thalbach erblickte sie in ihren Augen, drehte ruckartig den Kopf herum und fuhr erschrocken zusammen.

Ein Knabe von morbider Schönheit mit kupferrotem Haar hatte lautlos das Zimmer betreten. Sein weißes Gewand war mit Blutflecken übersät, und an seinem Finger steckte der Rubinring, von dem Deborah ihr erzählte. Sie blickte in seine Haifischaugen, die schwarz und tot aussahen. Helene Thalbach würgte die Angst runter und überdachte fieberhaft ihre Situation. Auf einmal überkam sie eine kalte Wut auf dieses Scheusal, das Deborah Lehmann so zugerichtet hatte. »Na warte!« Resolut, zu allem entschlossen, trat sie auf den Jungen zu − er wich zurück − packte seine Hand mit dem Ring und drehte an dem geschliffenen Rubin. Ein kaum hörbares Klicken, als der Stein in der Fassung einrastete und der Dorn an der Innenseite des Reifs hervorschoss. Ohne eine Miene zu verziehen senkte der Junge den Kopf und sah zu, wie Blut von seiner beringten Hand auf seine bloßen Füße tropfte.

Nun war es Helene Thalbach die zurücktrat, denn sie sah, wie ein Glimmen in seine Augen sickerte und eine Ader an seinem Hals zitterte. Wie ein Hund, der sich in einen Knochen verbeißt, biss er sich selbst tief in den Arm, um sich gierig den Lebenssaft aus seinen Adern zu saugen. Er sank auf die Knie und gebärdete sich wie ein tollwütiges Tier, während ihm Blut von den Lippen troff.

Die Nachlassverwalterin spürte ihr Herz bis zum Hals klopfen. Hinter sich ertastete sie eine Holzlehne, drehte sich um, ergriff mit beiden Händen den Stuhl und schmetterte ihn mit aller Kraft auf den Schädel des Jungen, was ein hässliches Geräusch von berstenden Knochen zur Folge hatte. Endlich sackte der Getroffene zusammen und rührte sich nicht mehr.

Der Atem von Helene Thalbach ging stoßweise. Erschöpft ließ sie den Stuhl fallen und wandte sich Deborah zu. Doch deren Mund stand offen, ihre Augen waren gebrochen und leer an die Decke gerichtet.