Das Eisenzimmer

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Das Eisenzimmer
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DAS BUCH

Ein toter Engländer. Aus seiner Brust ragt der SS-Dolch eines brutalen Kriegsverbrechers aus dem Zweiten Weltkrieg. Was war das Motiv des Täters? Und was hat Hitlers Buch „Mein Kampf“ damit zu tun? Die Kriminalpolizei Fürstenfeldbruck nimmt die Ermittlungen auf. Schon bald geraten Hauptkommissar Plossila und sein Team selbst ins Fadenkreuz dunkler Mächte.

„Vor genau zwei Dingen hatte er Angst. Anderen ausgeliefert zu sein und vor Fanatismus. Und er hatte das Gefühl, dass in seiner augenblicklichen Situation beides zusammen kam.“

Jenny Biber steht hier erst vor ihrem zweiten Fall. Voller Elan stürzt sich die junge Oberwachtmeisterin in die Ermittlungen. Doch hat sie bald das Gefühl, von ihren männlichen Kollegen nicht ernst genommen zu werden. Auch ihr Chef scheint sie auf Distanz zu halten, wenn es drauf ankommt. Vertraut er ihr nicht? Sie nimmt sich vor, ihm zu beweisen, dass er auf sie zählen kann. Unfreiwillig hat sie schon bald die Gelegenheit dazu. Der Fall führt sie zurück zu einer längst vergessenen Geschichte. Nur einer hat immer daran gedacht. Jeden Tag. Und all die Jahre.

DER AUTOR

Markus Ridder ist freier Journalist, Schriftsteller und Kommunikationsberater. Er studierte Politik, Philosophie und Geschichte und absolvierte danach ein journalistisches Volontariat in Frankfurt am Main. Seit dieser Zeit arbeitet er für verschiedene Unternehmen und schreibt für Zeitungen und Zeitschriften. Er lebt mit seiner Tochter in München.

Bisher von Markus Ridder erschienen:

Die Rückkehr des Sandmanns, Tolino Media, 2015

Der Blütenstaubmörder, Pendragon Verlag, 2015/2011

Die Krabbe, Pendragon Verlag, 2009

www.markusridder.com

www.facebook.de/ridderkrimis

DAS

EISEN

ZIMMER

Der zweite Fall für

Heiko Plossila & Jenny Biber

von

Markus Ridder

Copyright: Markus Ridder, Winter 2015/2016

Korrektorat: Dr. Anne Diefenbach

Umschlag: Slobodan Cedic

für Ella

PROLOG

Während des Gewitters ...

Es donnerte. Das Gewitter, wusste er. Weit weg kam es ihm vor, auch wenn es sich direkt über ihm befinden musste. Aber es war gedämpft durch die Mauern, durch die Jahrhunderte, die sich um ihn gelegt hatten wie ein dichter Mantel aus Stein und Zeit. Wie viele Schichten sich dort über ihm türmten, konnte er nicht sagen. So wie eine Leiche in ihrem Sarg nicht sagen konnte, wie viele Kubikmeter Erde man über sie geschaufelt hatte.

Oh Gott, die Särge ...!

Er tastete mit einer Hand über den Boden. Unebener, glatter Stein, körniger Sand. Der Stein fühlte sich gut an, schmeichelte der Hand, so glatt, so abgeschliffen. Er kannte das aus alten Klöstern, aus Innenhöfen. Mönche waren hier Jahrhunderte auf und ab gelaufen, so lange, bis sie damit den Granit zu ihren Füßen poliert hatten. Seine Fingerkuppen stießen an etwas Festes links oberhalb seines Kopfes. Ein Tischbein, nahm er an. Er bohrte einen Nagel hinein, weiches Holz, vielleicht Kiefer oder Fichte. Deutlich spürte er vereinzelte Kerben, hier kleiner, dort größer und tiefer. Das Holz fühlte sich rau an, porös wie alter Putz kurz vor dem Abbröckeln.

Auf der anderen Seite war nichts. Er lag auf dem Rücken und bewegte den Arm von oben nach unten und wieder zurück. So wie damals in seiner Kindheit, wenn sie „Mann im Schnee“ gespielt hatten. Manchmal war man gegen irgendetwas gestoßen, einen Grasbüschel vielleicht oder einen Schlitten, der im Weg stand. Aber hier war nichts. Sein Arm glitt über den glatten Boden wie über eine zarte Schicht aus Eis.

Die Augen wagte er nicht zu öffnen.

Sein rechtes Bein lag leicht erhöht, das linke war gebeugt, die durchweichte Ledersohle seines Schuhs berührte den linken Unterschenkel. Er fühlte in sich hinein. Die Beine schienen in Ordnung zu sein, der Schmerz begann erst weiter oben, am Steiß. Er musste darauf gefallen sein, als er auf den Boden gestürzt war. Wann war das gewesen? Vor fünf Minuten? Vor fünf Stunden? Vor fünf Tagen?

Nein, so lange konnte es nicht her sein. Dann wäre seine Kleidung inzwischen wieder getrocknet. Doch sie war noch immer klamm, klebte an seiner kalten, durchweichten Haut. Er wünschte, er könnte sie ausziehen, in etwas anderes schlüpfen. Für einen Augenblick träumte er von einem weichen Handtuch, von dicken Socken und einem heißen Tee.

Die Särge ...!

Am Oberkörper hatte er eigentlich keine Schmerzen. Noch nicht einmal sein Rücken machte ihm zu schaffen, der ihn sonst ständig peinigte. Und auch die kalte Stelle, die sich in seiner Brust eingenistet hatte, schien verschwunden zu sein. Wie ein faustgroßer, vor Kälte dampfender Keil aus Eis hatte es sich angefühlt. Er war durch das finstere Gewölbe geschritten und hatte ihn direkt unterhalb seines Herzens gespürt. Wie die Spitze eines Speeres hatte er dort gesteckt.

Er nahm die rechte Hand vom Boden und fuhr damit über seine Brust. Doch da war nichts. Ein feuchtes Hemd, zwei Knöpfe, die offen standen, die Kette mit dem Wassermann-Medaillon, die ihm Carla zu seinem dreiundvierzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Immer wenn er sie besuchen kam, achtete sie darauf, dass er sie trug. „Sie beschützt dich“, hatte sie gesagt. Er nahm sie in seine Faust, dachte ganz fest an seine Tochter.

Das gab ihm Kraft. Er spürte, wie die Wärme durch seinen Körper zog. Wie dünne, warme Fäden stob die Energie durch seine Hand, seinen Arm bis zu seinem Oberkörper.

Würde es reichen, damit er aufstehen konnte?

Er wusste es nicht.

Der größte Schmerz saß unterhalb seines linken Auges. Das heißt, es war kein Schmerz im eigentlichen Sinne. Es fühlte sich taub an, und als liege dort etwas Schweres, etwas, das auf ihn gekippt war, ein Auto, ein Kleiderschrank, ein Walfisch. Es fühlte sich an, als sei dort irgendetwas eingedrückt worden, als seien die Knochen der Stirn, der Augenhöhle und der Wange auf eine Ebene gepresst worden, als befinde sich dort eine gerade, glatte Fläche wie der Steinboden, den er nach wie vor unter seiner linken Hand spürte. Dennoch hatte er den Eindruck, als würde es erst so richtig wehtun, wenn man die Last von seinem Gesicht wälzte. Solange das da auf ihm lag, dachte er, so lange war alles gut.

Er ließ das Medaillon los, steckte es zurück unter das Hemd und schob seine rechte, zitternde Hand langsam nach oben.

Der Kehlkopf lag knorpelig und spitz unter seiner Haut, als wolle er sie jeden Moment durchstoßen. Dann das Kinn, stoppelig und mit einer Schicht aus Schweiß und Staub überzogen. Ein paar Haare noch an seiner Wange, viel zu lang bereits, um noch als Drei-Tage-Bart durchzugehen. Anschließend ein Wulst, keine gerade Fläche also. Seine Fingerspitzen tasteten sich stattdessen über aufgeblähtes Fleisch, weich wie Hefeteig fühlte es sich an. Während er die Fingerspitzen über die Schwellung schob, drückte er sie immer wieder leicht hinab. Knapp unterhalb der Wange konnte er die Finger bis zum Mittelgelenk in das weiche Fleisch hineinbohren. Erst als er auf der Höhe des Jochbeins angelangt war, durchzog ihn der Schmerz. Ein stechender Schmerz, ein bestialischer Schmerz.

Er stieß einen unterdrückten Schrei aus, sein Oberkörper krümmte sich, seine Knie schossen nach vorne. Unter seinen geschlossenen Lidern glühten rote und gelbe Fäden vor einem violetten Hintergrund.

Verflucht noch mal!

Doch es war nur ein kurzer Schmerz. Einem tiefen Stich gleich, der sich schnell wieder verflüchtigte. Er blieb für einige Atemzüge reglos liegen, sog den eigenartigen Geruch ein, der ihn umgab. Er erinnerte ihn an etwas, erinnerte ihn an jemanden. Doch er wusste nicht, wer es war. Es roch nach altem Fell, nach dampfenden Kartoffeln und ranziger Butter. Es roch fast so, als wäre hier unten noch jemand. Aber das konnte wohl kaum sein.

Oder kann es sein?

Er musste die Augen öffnen, sagte er sich, auch wenn er Angst davor hatte. Auch wenn er wusste, was ihn erwartete. Er überlegte, ob er zählen und bei drei einfach die Lider aufreißen sollte. Doch das erschien ihm albern. Zu mädchenhaft vielleicht. Obwohl: Fühlte er sich denn wie ein Mann? Ein Kerl? Fühlte er sich wie einer, den nichts umwarf?

Resigniert atmete er ein, in seiner Kehle röchelte es wie in einem alten Abfluss. Dann atmete er aus, so langsam, wie er konnte. Er hielt die Luft an, vor dem nächsten Atemzug, sagte er sich, würde er die Augenlider heben.

Er öffnete sie.

Nichts als eine schwarze Wand. Er hatte es gewusst. Das All lag auf ihm wie eine riesige schwarze Glocke, das vollkommene Nichts. Und doch wusste er, dass es nicht stimmte, dass sich dort eine Decke über ihm wölbte. Dass da Steine waren und kleine zerfurchte Nischen, in denen altes Wachs klebte und vor denen jetzt die Spinnennetze hingen.

Draußen donnerte es. Leiser als vorhin.

Das Gewitter schien langsam weiterzuziehen.

ERSTER TEIL

Vor dem Gewitter ...
1

„Teufel!“

„Oh, da habe ich mich offenbar ver ... Herr Plossila?“

„Was?“

„Sie sind es doch, das freut mich. Ich dachte, ich sei falsch verbunden. Ich hoffe, es passt Ihnen, Sie sagten, Sie wollten informiert werden, wenn es etwas Ernstes gibt. Ja, was soll ich sagen – es gibt etwas Ernstes.“

„Hmm.“

„Wir finden eine andere Lösung, wenn es Ihnen nicht passt, sagte man mir, ich weiß es ja auch nicht ... Es ist nur so, dass Salzmann ebenfalls im Urlaub ist und Mäuser hat Land unter, wie er meint.“

„Nein ich ... ich bin nur gerade ... Sie haben mich geweckt, das ist alles. Ich ...“

 

„Es ist neun Uhr, da dachte ich, ich kann es wagen, auch wenn Sie eigentlich Urlaub haben.“

Plossila blickte auf die roten Ziffern der Digitaluhr auf dem Nachttisch. 9.01 Uhr. Er schlug die Decke zurück, wuchtete sich an die Bettkante. „Bin nur eben erst von der Strandbar zurück, das ist alles.“

„Ach!“ Der andere schwieg für einen Atemzug. „Ich treffe Sie gar nicht zuhause an? Ich dachte ... Ihre Kollegin, Frau Biber, sie meinte, Sie blieben in München. Dann hat es ja gar keinen Sinn, wenn ich ...“

„Vergessen Sie's, war Ironie. Oder Sarkasmus. Eins von beiden. Ironie mit einem Schuss Sarkasmus – suchen Sie sich was aus.“

„Wie? Ach, jetzt bin ich ehrlich gesagt ein bisschen verwirrt ...“

„Was gibt’s also? Ich bin da. Aber nur, wenn es was Wichtiges ist, sonst kann doch Dollerschell übernehmen.“

Plossila strich sich über die Augenlider, presste Daumen und Mittelfinger fest gegen die Nasenwurzel. Eine Batiklandschaft aus Violett, Gelb und Blau legte sich über seine Netzhaut.

„Natürlich. Was Ernstes. Sonst hätte ich Sie niemals kontaktiert in Ihrem Urlaub. Mord. Ein Mord, sagten die Kollegen.“

Er setzte einen Fuß auf den kalten Dielenboden. Es zischelte leicht und er spürte, wie etwas unter seiner Sohle kleben blieb. Er hob den Fuß an und zog unter einem saftigen Schmatzgeräusch irgendein Plastikteil von der Haut ab. „Mord ... Und später ist es ein Unfall oder Selbstmord. Können Sie konkreter werden?“

„Ein Dolchmord, sagen die Kollegen.“

Er schaltete die Leselampe ein und bereute es sofort: Die Glühbirne schoss kleine unsichtbare Lichtpfeile durch seine Pupillen, die sich tief in sein schwammiges Hirn bohrten. Kopfschmerzen stellten sich ein, ganz hinten, dicht unter der Schädelplatte. „Ist das Ihr Ernst? Hat der letzte Dolchmord nicht 1814 stattgefunden?“

„Äh ...?“

Er blickte auf das Plastikding in seiner Hand. Eine halb leere Tablettenverpackung. Er wusste: Das Mirtazapin, das er seit einer Woche nahm. „Welcher Kollege sagt das mit dem Dolchmord?“

„Gunther Isenbarth.“

Er warf das Mirtazapin auf den Beistelltisch, traf aber nur die Ecke. Die Tablettenverpackung fiel zurück auf den Boden. Er betrachtete sie eine Weile und versuchte, gegen das Gefühl der ersten Niederlage des Tages anzukämpfen.

„Herr Plossila?“

„OK, bin unterwegs.“

Er drückte auf „Beenden“. Wenn Isenbarth es sagte, war davon auszugehen, dass es ernst war. Plossila konnte sich nicht daran erinnern, dass der Mediziner sich in den vergangenen Jahren jemals geirrt hatte. Er war Anfang Sechzig und immer noch mit heiligem Eifer bei der Sache. Er glaubte einfach an die Bedeutung seiner Aufgabe. Und wenn Isenbarth einen Mord feststellte, dann war es ein Mord. Er musste also hinfahren, das hatte er versichert. „Wenn es etwas Wichtiges gibt, dann komme ich“, hatte er gesagt. Und das war auch gut so. Immerhin zeigte es doch, dass ihm eben nicht alles egal war. Dass es nach wie vor etwas von Bedeutung gab in seinem erbärmlichen Leben.

Erst auf dem Weg ins Badezimmer wurde ihm klar, dass er gar nicht wusste, wohin. Wo um Himmels Willen war der Tatort? Er beschloss, diese Frage nach dem Duschen zu klären. Und nachdem er einen Kaffee getrunken hatte.

Noch bevor er unter der Brause stand, fiel ihm ein, dass kein Kaffee mehr im Haus war. Gestern hatte er die letzten Reste aus einer verbeulten Dose zusammengekratzt, um sich eine halbe Tasse dünnen Filterkaffees zuzubereiten. Aber das machte nichts, sagte er sich. Der Türke, er würde zum Türken gehen, der hatte hervorragenden Kaffee. Starken Kaffee, genau das, was er jetzt brauchte.

Der Türke hatte geschlossen. Also überquerte Plossila die Straße, sprang überraschend leichtfüßig über eine Leitplanke, ließ zwei BMWs passieren und einen Golf mit H-Kennzeichen und lief über die Gegenfahrbahn. Er blickte die Humboldtstraße hinab Richtung Isar. Die Luft flimmerte leicht, vom Flussufer stiegen die ersten Rauchwolken der Grillwütigen auf – und das um halb Zehn. Er schüttelte den Kopf und legte sich die Lederjacke über den Arm. Es würde heiß werden heute. Ein perfekter Tag am See.

Ein verlorener Tag im Büro.

Drei Leute waren in der kleinen Bäckerei vor ihm an der Reihe und er hätte am liebsten auf dem Absatz kehrtgemacht. Er hasste es zu warten, vor allem vor dem ersten Kaffee. Als er endlich dran war, schickte ihm die Verkäuferin einen mitleidigen Blick. Er versuchte, mit einem Lächeln zu kontern.

„Kaffee?“

Plossila nickte und hatte aus irgendeinem Grund das Gefühl, bei einer Lüge ertappt worden zu sein.

Zurück im Auto pfriemelte er den Pappbecher in den Getränkehalter und drückte im Handydisplay auf Rückruf.

„Polizeipräsidium Fürstenfeldbruck, Weber. Was kann ich für Sie tun?“

Es war der neue Mann am Empfang. Er erinnerte sich, dass Linda vom Personal vor Kurzem einen Rundgang mit ihm gemacht hatte, um ihn den Kollegen vorzustellen. Es war mal wieder typisch, dass sie den Neuen vorschickten, um ihn aus dem Urlaub zu rufen. Plossila konnte sich nicht helfen, aber die freundliche Stimme Webers provozierte ihn irgendwie. Sie war noch nicht einmal aufgesetzt. Das immerhin hätte er verstanden.

„Wohin ...? Plossila noch mal.“

„Wie bitte? Ach ja, natürlich. Sie sind also bereit ... gut, Augenblick!“ Er hörte es rascheln, dann ertönte die altertümliche Pausenmelodie, die ihn immer an seine Kindheitstage mit Robert Lembke und „Was bin ich?“ erinnerte. Wieder rascheln. „Hören Sie? Landsberg am Lech, Lechwiesenstraße 61c. Das ist dieses Gewerbegebiet zwischen Landsberg und Kaufering.“

„Ich weiß, wo das ist. Danke.“

Er legte auf. Dann gab er die Straße ins Navigationsgerät ein. Er hatte keine Ahnung, wo das war.

Er sah das Blaulicht schon von Weitem. Und er erinnerte sich: Er war schon öfter hier gewesen. Hier befanden sich die großen Supermärkte und die Autohäuser. Er war nur schlecht darin, sich Namen zu merken, das war alles. Rechter Hand lagen Felder, über die jetzt ein einsamer Traktor rumpelte. Auf dem Radweg redete ein erregter Rentner mit roten Wangen und erhobenem Zeigefinger auf zwei Kinder ein, die sich ein Rennen mit Einkaufswägen geliefert hatten.

Du musst dich zusammenreißen!

Noch immer hatte er leichte Kopfschmerzen. Sein Hirn fühlte sich trocken an. Er stellte sich vor, wie es zu Korallenkalk versteinerte. Dr. Eberharty hatte ihn gewarnt: „Die Tabletten können eine kontradiktorische Wirkung zeigen. Es kann sein, dass sie sich noch müder und schlapper fühlen. Aber wenn es das richtige Medikament ist, wird dies aufhören. Da müssen sie jetzt einfach durch, Herr Plossila.“ Ja, da musste er durch, wie er durch das ganze Leben irgendwie durch musste. Das war das Gefühl der vergangenen Monate gewesen: Durchmüssen. Bewältigenmüssen. Abarbeitenmüssen. Müssenmüssen.

Er griff zum mittlerweile kalten Kaffee und lenkte den BMW hinter einen der blinkenden Polizeibusse auf den Parkstreifen. Ein Kollege sprang aus dem Wagen und Plossila musste auf die Bremse treten. Kaffee schwappte über den Becherrand auf seine Hand und von dort auf sein blassblaues Hemd. Er drückte auf die Hupe, der Kollege hob entschuldigend die Hand, ließ sich aber nicht weiter aufhalten. Er ging eine kleine Treppe hinauf und verschwand in einem gläsernen Gebäude, das mit schwarzen Vorhängen zugezogen war.

Plossila öffnete die Wagentür und ließ den viertel vollen Becher neben den Bordstein fallen. Dann blickte er hilflos im Auto umher, suchte etwas wie ein Taschentuch. Schließlich presste er die Lippen zusammen und strich sich die Hand an der Hose ab. Er wischte sich mit den Fingern über den Fleck auf dem Hemd und stellte fest, dass der Kaffee eine eigenartige Form hinterlassen hatte. Fast erinnerte sie ihn an ein Hakenkreuz, aber das konnte Einbildung sein oder die eigenartige Perspektive, aus der Plossila auf den Fleck starrte.

„Morgen Plossila“, zwitscherte plötzlich jemand.

Er erschrak, wusste aber, dass man es ihm nicht anmerken würde. Er war viel zu schlapp, um noch Mimik nach außen transportieren zu können. Er blickte auf, sah zuerst den Ford Fiesta, der sich noch auf den Seitenstreifen zwischen seinen BMW und den Polizeibus vor ihm gequetscht hatte, dann seine Besitzerin.

Seine Stimmung hellte sich leicht auf. „Hallo Jenny, müsstest du nicht längst hier sein? Utting, oder? Halber Weg aus München.“

„Nee, wurde aufgehalten. Mein neuer Mitbewohner. Wollte gestern Abend einziehen. Dann hieß es plötzlich heute Morgen. Aber der kann jetzt selber sehen, wie er seine Sachen hoch schleppt. Alles gut?“

Geht schon, dachte Plossila. Er musste zugeben, dass es ihm seine Kollegin nicht gerade schwer machte, den letzten Rest positiver Stimmung aus ihm heraus zu kitzeln. Sie war erst seit ein paar Monaten bei ihnen. Zuerst nur als Anwärterin. Aber er war froh, dass er die offiziellen Stellen hatte überzeugen können, sie als Oberwachtmeisterin in sein Team abzustellen. Sie hatten eine kleine Feier gemacht und er hatte ihr sofort das „Du“ angeboten.

Er wuchtete sich aus dem Auto, blickte über die rot-weißen Plastikbänder, die den Tatort absperrten, die Kollegen von der Spurensicherung in ihren weißen Kunststoffanzügen, auf denen sich das blaue Blinken der Polizeiautoleuchten brach. Er atmete tief ein, machte eine ausladende Handbewegung. „Kann man sich etwas Schöneres vorstellen im Urlaub?“

„Ah, Plossila, gut, dass du kommst.“

Er gab Gunther Isenbarth die Hand. Seinen Kollegen Dollerschell begrüßte er mit einem Klaps auf die Schulter. Sie standen in einem mit Vorhängen abgedunkelten Raum, der von zwei Standstrahlern erhellt wurde, die er nur von größeren Veranstaltungen kannte. Der Raum war fast vollkommen leer, nur auf einem Podest, das offenbar in den Boden eingelassen war, befand sich ein schwarzes Rednerpult. Auf dem Podest saß ein Mann mit Halbglatze und braunweiß geschecktem Schnauzbart, der immer wieder mit einem Schlüsselbund gegen seinen Oberschenkel schlug. Daneben ein Mann Anfang Dreißig im Blaumann und dem T-Shirt einer Firma, die offenbar Messen und Veranstaltungen organisierte. Das gleiche T-Shirt trug ein anderer in einer kurzen, abgeschnittenen Jeans, der an einem der Strahler herumfummelte.

In der Mitte des Raums lag ein Mann auf dem Boden: Mitte Vierzig, die Arme ausgebreitet, das Gesicht zur Decke. Der Kopf war leicht nach rechts gelegt, das halblange, fettige Haar umspielte ein längliches Gesicht, das nicht ganz symmetrisch wirkte. Fast schien es eine Delle zu haben, aber vielleicht lag das auch nur an dem geöffneten Mund und dem durch die Haltung verschobenen Kiefer, dachte Plossila. Er kam nicht umhin zu bemerken, dass die Zähne des Mannes wenig gepflegt erschienen. Sie waren gelb, krumm und der Oberkiefer ragte weit über sein unteres Gegenstück hinaus. Der Mann trug Lederstiefel, in die er seine hellgraue Stoffhose hineingesteckt hatte, sein Hemd war blau kariert, die obersten beiden Knöpfe standen offen, der Kragen war an einer Seite hochgeklappt und reichte somit fast bis zur rechten Augenbraue. Aus seiner Brust lugte der schwarze Schaft eines Messers.

Plossila blickte von der Leiche auf, sah in das von der Sonne gebräunte Gesicht Isenbarths. „Na, wie lange hast du gebraucht, um die Todesursache festzustellen? War sicherlich nicht leicht diesmal.“

Gunther Isenbarth schenkte ihm ein kontrolliertes Lächeln. „Ich freue mich jedenfalls, dass ich dir einmal etwas Neues bieten kann. Einen klassischen Dolchmord kennt man doch sonst nur von Miss Marple.“

„Sag bloß, du wusstest nicht, dass ich die männliche Miss Marple bin?“

„Für mich warst du eigentlich immer der Sherlock Holmes Oberbayerns.“

Plossila beugte sich über den Toten, sah dann wieder zu Gunther Isenbarth auf. „Na dann erzähl mal, was du hast, Watson!“

Plossila sah Gunther Isenbarth hinterher, der zügig um die Leiche herum schritt, als hätte er nur auf ein Kommando gewartet. Sein Blick streifte seine junge Kollegin, die besorgt, aber konzentriert zugleich auf den Toten am Boden sah. Sie hatte ihre Hand an die Wange gelegt und Plossila bemerkte, dass sie ihren Ring nicht mehr trug. Erst dann fiel ihm ein, dass sie sich gerade erst von ihrem Freund getrennt hatte. Deshalb war sie ja auch umgezogen und lebte jetzt in einer Wohngemeinschaft am Ammersee. Er presste die Lippen aufeinander, fühlte sich plötzlich schlecht, weil er über den Toten hinweg mit Isenbarth gescherzt hatte. Er konnte sich vorstellen, wie das auf Jenny wirken musste. Sie war Idealistin, das hatte sie mit Isenbarth gemeinsam. Sie war Polizistin geworden, weil sie an das Gute glaubte und für Gerechtigkeit kämpfen wollte.

 

Sie war wie er vor zwanzig Jahren.

„Wir haben tatsächlich momentan nur das Offensichtliche“, sagte Gunther Isenbarth, der am Kopfende der Leiche in die Hocke gegangen war. „Die Todesursache scheint, wie nicht weiter verwundert, der Dolchstoß zu sein. Er ging direkt ins Herz, das danach fast augenblicklich aufgehört hat zu schlagen. Das erkennt man daran, dass nur wenig Blut ausgetreten ist.“ Ein langer Zeigefinger mit einem weißen, gepflegten Nagel umkreiste den schwarzen Schaft. „Jetzt ist es halb Elf. Ich denke, dass er rund fünfzehn Stunden tot sein sollte.“

„Safe?“, unterbrach Plossila.

„Ja, ziemlich, würde mich wundern, wenn sich im Labor ergäbe, dass er nicht zwischen zwanzig und einundzwanzig Uhr gestern Abend umgebracht wurde.“

Plossila nickte und strich sich mit der Hand über das unrasierte, stoppelige Gesicht. Er hatte das Gefühl, wieder zu funktionieren, vielleicht war es gar nicht so schlecht, trotzdem zu arbeiten, auch wenn er gerade die Therapie machte. Gleichwohl hatte er nach wie vor den Eindruck, nach außen eine ganz andere Person darzustellen, als er innerlich war.

„Irgendwelche Indizien, dass der Mord nicht hier, sondern woanders passiert sein könnte?“

Isenbarth zog einen Einweghandschuh hervor, den er in seiner Sakkotasche verwahrt hatte, und streifte diesen über. Darauf schob er eine Hand unter den Hinterkopf des Toten. „Er hat ein münzgroßes Hämatom im Rückbereich des Schädels. Wenn er nicht auf dem Beton hier aufgeschlagen ist, müsste es sich um einen ganz ähnlichen Untergrund gehandelt haben. Ich denke, er wurde hier ermordet, ist hier gestürzt und liegengeblieben. Aber safe ist das natürlich nicht.“

„Fünfzig Prozent?“

Er stand wieder auf, zog dabei die Hand aus dem Handschuh. „Plossila, das sind reine Mutmaßungen. Es scheint mir wahrscheinlich und logisch in Anbetracht der Tat, aber alles andere ist eure Aufgabe.“

„Wenn er hier ermordet wurde, muss er ein Fahrzeug haben oder es hat ihn jemand gebracht“, sagte Jenny. „Das ist ein Gewerbegebiet, zu Fuß kann er nicht gekommen sein.“

„Wir sollten nach einem Auto suchen. Dollar, kannst du das in die Wege leiten?“ Plossila wartete nicht auf eine Antwort des Kommissars. „Was ist das für ein Messer?“, fragte er. „Da ist ein Reichsadler drauf und eine SS-Rune.“

„Das ist ein Schlüssel, ja“, sagte Dollerschell. „Offenbar ein SS-Ehrendolch, hab das eben schon mal im Netz nachgeschlagen.“ Wie zum Beweis hob er sein Smartphone in die Luft. „Könnte original sein, er sieht relativ abgegriffen aus. Ein solcher Dolch wurde nur an Mitglieder der SS verliehen und auch ausschließlich an höhere Ränge. Sieht nach einem rechten Hintergrund aus, wenn du mich fragst.“

„Oder es will uns einer auf die falsche Fährte führen. Wissen wir, wer es ist?“

„Wir kennen seinen Namen. Kenneth Middleman, offenbar ein Engländer.“ Dollerschell blickte sich über die Schulter, hinüber zu dem Mann mit Schnauzer, der nach wie vor mit seinem Schlüsselbund spielte. „Herr Griesemer, wollen Sie einmal zu uns kommen?“

Das Schlüsselbundklirren verstummte augenblicklich, als der Mann auf die Beine sprang. Wortlos trat er zu den Polizisten heran, die um die Leiche gruppiert waren. „Oiso na, des koannst ja ned oschaugn.“, sagte er und fixierte dann wie zur Ablenkung den Klecks auf Plossilas Hemd.

„Sie kennen den Mann?“, fragte Plossila

„Jo mei, kenna... Der hod mein Lodn gmiet. Dreißg Joar hob I do herin Franzosn verkafft. Citroen, Renault, dann a Nissan. Mei, oba d Leit wolln ja heit nur no an deitschn Wogn foarn. Oder an Toyota.“ Er blickte auf und gegen die verhangenen Fenster. „Do schaugns, no dreißg, vierzg Meta d Straßn oabi is d Konkurrenz.“ Er zuckte mit den Schultern, fuhr sich in einer schnellen Bewegung mit dem Zeigefinger unter den Schnauzbart und strich diesen zweimal nach vorn. „Mei, friara, do woarn I und da Huaba Schorsch mit seine BMW aloa. Des is guat gloafa. Und jetz sans acht Monat, dass da Lodn zua is. Do hob ihn in d Zeitung doa. Vor am Monot hot se da Mittelmän gmöjlt. Zearst hätt ern bloß füa vier Wochn gwoillt. Aber unta drei Monat hob I n net heagebn. Des hot er dann scho eigseng. Aber wos er konkret vorghobt hot?“ Er zuckte wieder mit den Achseln. Dann senkte er den Blick wieder auf den Klecks. „Vier Wocha? Des wär doch a Schmarrn gwesn!“

„Und er hat nicht gesagt, was das hier alles soll? Diese Vorhänge – hat er die angebracht?“

„I denk scho. I seh die heit a zerst Moi.“ Wieder Schulterzucken.

„Können Sie sich einen Reim drauf machen?“

„Na.“ Er trat von einem Bein auf das andere, ließ den Schlüsselbund in seiner Hand klimpern. „Mei, des hob I scho a amoi gmocht. Wemma an nein Wogn gkriagt hom, hots do scho amoi a Show gebn. Oan Tag der offenen Tür. Mia hom a bissl dunkla gmocht, doss d Leit draußa nix seng. Mia hom jo koan Rolladn do herin. Oba sonst?“ Er zuckte mit den Schultern. „Und dea do?! Dea hot doch koane Wogn von da Insl mitbrocht.“

„Haben Sie ihn hier auch gefunden?“

„Jo, hob I. Die zwoa“, er zeigte mit dem Finger auf die beiden Männer in den Messe-T-Shirts, „hom mi ogruafa. Mei Adress is ja no da voan an der Tüan. Die woilltn d Strohla bringa, oba koina hot aufgmocht. Do bin I gschwindt kemma. I wohn drunt in Dießn, oba I woillt eh amoi nachschaugn ob ois passt. I hob aufgsperrt und do isser gleng da Mittelmän.“, er blickte auf den Toten zu ihren Füßen. „Na, des konnst ja wiakle ned oschaugn!“

Er schüttelte den Kopf.

Blitze trafen ihn, als er mit Jenny im Gefolge das Autohaus verließ. „Was zum Teufel ...?!“ Er hob die Hand, doch es war zwecklos. Er sah noch Sternchen, da schob sich bereits das Gesicht eines kleinen Blonden mit Grübchen in den Pausbacken in sein Blickfeld. „Lutz, vom Merkur. Herr Plossila, eine Leiche, haben wir gehört. Stimmt es, dass es sich um eine Messerstecherei handelt?“

Das war das Letzte, was Plossila jetzt brauchte. Augenblicklich fühlte er wieder seine innere Betäubung. Die Welt schien hinter einer dicken, durchsichtigen, wabernden Gummiwand verborgen und auf seinen Schultern stapelten sich Getränkekisten. Noch halb blind von den Blitzen, die aus der Kamera eines weiter unten postierten Fotografen stammten, ruderte er mit den Armen, tastete sich vorwärts. Er bekam den jungen Mann zu fassen und schob ihn sachte aber bestimmt aus dem Weg.

„Herr Plossila, die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf zu erfahren, ob ihre Sicherheit bedroht ist.“

Er sah den Mann an. Obwohl er eine Treppenstufe über Plossila stand, blickte Plossila auf ihn hinab, und das war ihm auch ganz recht so. „Sie scheinen doch schon alles genauestens recherchiert zu haben“, sagte er mürrisch und fragte sich, woher dieser Lutz von dem Mord wissen konnte? Er blickte zurück in den Eingangsbereich. Die gesamte Halle war mit schwarzen, lichtundurchlässigen Vorhängen abgedichtet und sah aus wie eine riesige dunkle Sargplatte. Außer seinem Team, Isenbarth und dem Erkennungsdienst war weder jemand rein noch raus gekommen. Dann sah er, wie einer der Messe-Bauer an den Ausgang trat. Er blickte erst zum Journalisten, dann zu Plossila. Als er den durchdringenden Blick des Kommissars bemerkte, ließ er sich zurück in die Dunkelheit des Autohauses fallen. Diese verfluchten ...! Was machen die auch die ganze Zeit da drinnen!

„Haben Sie schon eine Vorstellung vom Täter?“, riss Lutz ihn aus den Gedanken.

Plossila blähte die Backen, um sich zusammenzureißen. Er konnte jetzt nicht noch mehr Ärger gebrauchen. Und schon gar keine Beschwerde beim Staatsanwalt oder beim Landrat. Er würde nichts sagen, das aber gut verpacken, nahm er sich vor. Auch wenn er es hasste, mit Journalisten zu sprechen, einige Übung hatte er darin mittlerweile.

„Jenny?“

„Ja?“

Er warf ihr den Schlüssel seines BMWs zu. „Kann gleich losgehen.“ Er wollte nach dem Gespräch mit dem Journalisten so schnell wie möglich hier verschwinden. Griesemer hatte ihnen gesagt, in welchem Hotel Middleman abgestiegen war. Das wollten sie so bald wie möglich überprüfen – und zwar ohne Begleitung von Klatschreportern.