Pfarrerinnen und Pfarrer der evangelisch-reformierten Landeskirche beider Appenzell

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Pfarrerinnen und Pfarrer der evangelisch-reformierten Landeskirche beider Appenzell
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Pfarrerinnen und Pfarrer

der Evangelisch-reformierten

Landeskirche beider Appenzell

Nach Gemeinden und Arbeitsfeldern geordnetes und mit Kurzbiographien

versehenes Verzeichnis von 1990–2012

Die vorliegende Ausgabe basiert auf der von Hans-Martin Stückelberger 1977

verfassten ersten Auflage und der von Willy Hirzel bearbeiteten zweiten Auflage

von 1991.

Herausgegeben vom Evangelisch-reformierten Kirchenrat beider Appenzell

Appenzeller Verlag

Inhaltsverzeichnis

7 Vorwort

9 Die Reformierten beider Appenzell in Geschichte und Gegenwart

29 Kirchgemeinden

30 Urnäsch

35 Herisau

44 Schwellbrunn

50 Hundwil

53 Stein

55 Schönengrund

61 Waldstatt

65 Teufen

70 Bühler

73 Gais

75 Speicher

82 Trogen

87 Rehetobel

90 Wald

94 Grub-Eggersriet

100 Heiden

104 Wolfhalden

108 Walzenhausen

112 Reute-Oberegg

118 Appenzell

123 Spitäler, Kliniken und Heime

124 Herisau 39

127 Heiden, Trogen, Speicher

132 Gehörlosenpfarramt

135 Gefängnisse

138 Schulen

139 Gymnasium St. Antonius Appenzelll

139 Schule Roth-Haus

141 In der appenzellischen Landeskirche ordinierte Pfarrpersonen

143 Kirchenrat

149 Kirchenratspräsidien

150 Autorinnen und Autoren

152 Namensregister

«Je weiter man zurückblicken kann,
desto weiter wird man vorausschauen.»

Winston Churchill

Vorwort

Dieser Ergänzungsband blickt zugegebenerweise nicht sehr weit zurück! Er soll lediglich die Lücke schliessen, die seit der Veröffentlichung der bisher aktuellen Ausgabe «Die Pfarrerschaft der Evangelisch-reformierten Landeskirche beider Appenzell» von 1991 entstanden ist. Damals hat Pfarrer Willy Hirzel im Auftrag des Kirchenrates und auf der Grundlage einer ersten Ausgabe von Hans-Martin Stückelberger von 1977 ein Verzeichnis erstellt, das sich von der Reformation bis zum Beginn der 1990er-Jahre erstreckt. Da bis heute eine gründliche Aufarbeitung der appenzellischen Kirchen­geschichte fehlt, sind das Werk von Hirzel sowie der vorliegende Ergänzungsband für die Geschichte der Reformierten im Appenzellerland von zentraler Bedeutung.

Dieses Verzeichnis ist eine Fortsetzung des bisherigen und hält sich an seine Struktur. Es besteht aus Kurzbiographien der Pfarrpersonen, Porträts der Kirchgemeinden und Arbeitsfelder sowie einer Darstellung der Entwicklung der Landeskirche. Somit ist es ein Ausdruck der Vielfältigkeit und der Lebendigkeit der appenzellischen Reformierten.

Die Entstehung des Buchkonzeptes wurde geprägt von Gesprächen mit Kirchenratspräsident Kurt Kägi, befruchtet durch Anregungen aus dem landeskirchlichen Pfarrkonvent, ergänzt in Diskussionen mit Marco Knechtle und vervollständigt durch die Empfehlungen des Appenzeller Medienhauses.

Dabei hatte das folgende Anliegen Priorität: Dieser Ergänzungsband sollte ein Gemeinschaftswerk werden. Es ging nicht darum, die Jahre nur durch eine Person aufarbeiten zu lassen. Im Gegenteil, die Menschen vor Ort sollten in knapper Form über ihr eigenes Leben und Wirken berichten und die eigene Kirchgemeinde porträtieren. So waren viele verschiedene Menschen am Werk beteiligt, haben Informationen zur Verfügung gestellt oder nützliche Hinweise gegeben. Vielen Dank für das Mitwirken!

Die Synode hat an ihrer Sitzung vom 21. November 2011 den Antrag zur Realisierung dieses Projektes wohlwollend genehmigt. Für das mir als Projektleiter entgegengebrachte Vertrauen danke ich herzlich.

Herisau, 1. Februar 2013, Mark Hampton, Pfarrer

Die Reformierten beider Appenzell in Geschichte und Gegenwart
Von Jerusalem bis ins Appenzellerland

Was ist Kirche? Diese Frage ist nicht erst seit der römisch-katholischen Erklärung «Dominus Iesus»1 von Brisanz. Schon vor vielen Jahren hielt Emil Brunner fest: «Diese Frage ist das ungelöste Problem des Protestantismus.»2

Die ersten Christinnen und Christen verwendeten das griechische Wort «Ekklesia»3, um sich selber zu umschreiben. In der Antike bedeutete Ekklesia eine ordnungsgemäss berufene politische Versammlung, bestehend aus stimmberechtigten freien Männern. Für die junge Christusgemeinschaft umschreibt Ekklesia eine Gemeinschaft, bestehend aus Männern und Frauen, Sklaven und Freien, Juden und Griechen, die sich durch die Taufe zur Nachfolge Jesu Christi verpflichtet haben (vgl. Gal. 3, 26–29).

Und diese Ekklesia hatte von Anfang an einen Auftrag: Das Evangelium in Wort und Tat in aller Welt zu bezeugen. Der Auftraggeber, der auferstandene Christus, sendet die Seinen zu allen Völkern, so erzählt es uns u.a. das Matthäusevangelium (28, 16–20). Die Christusgemeinschaft wurde dazu berufen, geographische, sprachliche und kulturelle Grenzen zu überwinden, damit alle Menschen die Zuwendung Gottes erfahren können.

Zu welcher Zeit die Christianisierung der Schweiz einsetzte, lässt sich heute nicht genau feststellen. Es gibt jedoch Grund zur Annahme, dass dies schon im 2. Jahrhundert n. Chr. geschah.4 Dennoch dauerte es bis ins 10. Jahrhundert, bis die erste offizielle appenzellische Kirche – und zwar in Herisau – entstand, denn das Appenzellerland galt vergleichsweise lange als Wildnis.5 Diese erstmals im Jahr 907 urkundlich erwähnte Kirchgemeinde umfasste damals die heutigen Gemeinden Heris­au, Schwellbrunn, Waldstatt und Urnäsch.6

Immer wieder gab es Menschen, die auf nötige Reformen hingewiesen haben: Namen wie Franz von Assisi, John Wyclif oder Jan Hus stehen für eine lange Reihe von Reformbemühungen während der ersten 1500 Jahre der Kirchengeschichte. Am Anfang des 16. Jahrhunderts war im deutschsprachigen Raum die geopolitische Situation dafür reif, so dass eine gründliche Reformation in der Kirchenlandschaft möglich wurde. Die reformatorischen Anstrengungen in Zürich und St. Gallen fanden bei den Appenzellern grossen Anklang. «Eine wichtige Entscheidung fiel in der Appenzeller Landsgemeinde vom April 1524, als jeder Kilchhöre die Freiheit zu eigener Entscheidung in religiösen Belangen übertragen wurde.»7 Mit dieser Entscheidung wurde ein Prozess in Gang gesetzt, der grössere Umsiedlungen in der Bevölkerung verursachte und letztlich eine Landteilung im Jahr 1597 mit sich brachte.

Das evangelisch-reformierte Kirchenmodell

Was ist Kirche? Für die Reformatoren war dies eine zentrale Frage. Sie wollten ursprünglich keine Spaltung, sondern eine Erneuerung ihrer Kirche erreichen. Hervorgegangen aus dieser Reformbewegung ist ein schlichtes Kirchenmodell, welches u.a. durch die folgenden Merkmale kennzeichnet ist:

Evangelischer Glaube

Zurzeit der Reformation wird «evangelisch»8 als Kennzeichnung der Lehre der Reformatoren verwendet, um sich damit von der römischen Kirche abzugrenzen. Später wurde evangelisch als Bezeichnung der protestantischen Bewegung benutzt.

 

Jesus Christus selbst hat seine Botschaft «Evangelium»9 genannt, denn in ihm erleben die Menschen Gottes wohlwollende Zuwendung, die versöhnend und befreiend ist. Darüber berichten uns die Evangelisten, denn mit ihren Erzählungen weisen sie darauf hin, was mit Menschen passiert, die Jesus begegnen: Sie erleben eine heilsame Wahrheit, dass Gott im Voraus Ja zu seinen Menschen sagt, bevor irgend­eine Leistung erbracht wird. Denn Gottes Liebe hängt nicht von menschlichen Verdiensten ab.

«Ein anderes Fundament kann niemand legen, welches gelegt ist: Jesus Christus» (1. Kor. 3,11). Dieses Bekenntnis des Apostel Paulus wurde zum Grundsatz des evangelischen Glaubens. Dabei sind zwei Bezugspunkte zu beachten. Der erste Bezugspunkt ist das Evangelium, welches auf besondere Weise im Leben und Wirken Jesu Christi verkörpert ist. In der theologischen Sprache wird von der Inkarnation, das heisst der Fleischwerdung, gesprochen. Gott hat sich in Jesus inkarniert und sich so zu erkennen gegeben (vgl. z. B. Joh. 1,14.18). Der zweite Bezugspunkt ist die menschliche Kultur. Menschen leben als Teil einer Gemeinschaft mit einer gemeinsamen Sprache und mit bestimmten Gewohnheiten, mit sozialen und ökonomischen Konventionen, mit bestimmten Grundüberzeugungen was Realität ist und mit bewussten oder unbewussten Überlebensstrategien. Um das Evangelium verständlich zu machen, ist immer wieder Übersetzungsarbeit zu leisten. Die Gemeinschaft der Christinnen und Christen ist eingeladen, an der Mission Gottes in dieser Welt teilzuhaben und eine Sprache zu finden, die das Evangelium in der jeweiligen Kultur zugänglich macht. Ausserdem sind nötige Formen zu entwickeln und zu pflegen, die für das Verständnis des Evangeliums förderlich sind.10

Reformierte Gemeinschaft

«Alle Konfessionen sind im ursprünglichen Sinn des Wortes relativ.»11 «Relativ» ist lateinisch und heisst übersetzt «bezogen». Die Entstehungsgeschichte verschiedener Konfessionen ist geprägt von den damaligen kulturellen Verhältnissen. Darum ist es auch nicht verwunderlich, dass sich unterschiedliche Formen und Strukturen bei den evangelischen Christinnen und Christen entwickelt haben. Lutheraner, Methodisten, Reformierte und weitere evangelische (Frei-)Kirchen berufen sich zwar gemeinsam auf das Evangelium, stammen aber aus unterschiedlichen Epochen, Regionen und Kulturen. Selbstverständlich haben sich darum «Unterschiede ergeben in den Folgerungen für die Gestalt der Kirche».12 Diese Unterschiede führten zu diversen Kirchentypen. Zwischen dem Kongregationalismus13 und dem Episkopalismus14 ist der Presbyterianismus zu finden, nach dem die Reformierten sich organisieren.

Der Presbyterianismus (von griechisch presbuteros, Ältester) ist eine Form von Kirchenverfassung, bei der die Kirche auf mehreren Ebenen durch Gremien von Ältesten und Pfarrpersonen geleitet wird. Eine Voraussetzung dafür ist die Ämterlehre des Reformators Johannes Calvin.15 Eine beeindruckende Errungenschaft der Reformation ist die neue Art der Leitungskultur: «[die] Kooperation zwischen Theologen und Nichttheologen, die völlig gleichberechtigt sind».16 Im Sinne der Gewaltentrennung ist ein ausgeklügeltes System von «checks and balances», das heisst ein System gegenseitiger Kontrolle und des Ausgleichs von Interessen, entstanden, welches dafür sorgt, dass niemand zu mächtig werden kann. Die verschiedenen Instanzen kontrollieren sich gegenseitig. Diejenigen, die an einer solchen gemeinsamen Leitung beteiligt sind, können dies nur im ununterbrochenen partnerschaftlichen Gespräch tun.

Die reformierten Kirchen haben sich für eine demokratische Struktur entschieden. Alle Synodalen, Behördenmitglieder sowie Pfarrpersonen werden entsprechend vom Kirchenvolk gewählt und stellen sich traditionsgemäss von Zeit zu Zeit der Wiederwahl. Diese demokratische Struktur bringt zum Ausdruck, dass alle Mitglieder der Kirchgemeinde gleichwertig sind und ihre Verantwortung als mündige Christinnen und Christen wahrnehmen sollen.

In diesem Sinne ist das Priestertum aller Gläubigen zu verstehen, welches für die reformierten Kirchen kennzeichnend ist. Der Apostel Paulus braucht in seinen Briefen das Bild vom Leib, um sein Verständnis der Kirche zu umschreiben.17 Zwei Aspekte sind in diesem Zusammenhang denkwürdig: «Leib Christi ist Gemeinschaft von konkreten Menschen, die auf das Evangelium hören, an seine Botschaft glauben, sie weitergeben und Jesus nachzufolgen versuchen.»18 Dabei gilt: Niemand kann alles, dafür können alle etwas! Die einen können gut mit Finanzen umgehen, andere gut kochen, Leute besuchen, organisieren, singen, leiten, beten, musizieren, unterrichten, Unterhaltsarbeiten erledigen, den Garten pflegen, Menschen in Not begleiten usw. Obwohl die Reformierten keine geweihten Priester haben, haben auch Pfarrpersonen im Priestertum aller Gläubigen eine Funktion. «Pfarrerinnen und Pfarrer sind nach reformiertem Verständnis eigens beauftragte Gemeindeglieder, die durch eine gründliche wissenschaftlich-theologische Ausbildung befähigt sein sollen, den Sinn eines Bibeltextes im Zusammenhang zu erfassen, seine Geltung für die Gegenwart aufzuzeigen, und so das Evangelium zu verkünden.»19 Und zweitens: «Einer ist euer Meister und ihr seid Geschwister»,20 sagte Jesus. Dies deutet auf das andere hin. Alle Glieder am Leib Christi sind wichtig und nötig, alle haben eine Verantwortung und eine Berufung. Niemand ist dabei der Chef, der das alleinige Sagen hat. Nur das Haupt ist einer. Er sammelt seine Gemeinde. «Sie folgen in ihrer Zusammenkunft seinem Ruf zum Zusammenkommen. Die Gemeinde entsteht dadurch und sie hat darin Bestand, dass er ihr Haupt ist. Er macht das durch sein tätiges und wirksames Wort, durch seinen Zuspruch und Anspruch, durch seine vernehmliche Zuwendung und Treue zu ihnen.»21 Die Reformierten haben sich seit jeher von einem allzu hierarchischen Kirchenkonzept abgegrenzt, um theologisch im Einklang mit dieser Vorstellung der Kirche zu leben und so auf der zwischenmenschlichen Ebene Machtmissbrauch und narzisstischen Tendenzen entgegenzuwirken. «Sicher gibt es in der von ihrem Haupt geleiteten Gemeinde auch eine menschliche Gemeindeleitung. Aber sie ist Amt in der Gemeinde, nicht über ihr. Sie ist nicht Haupt, sondern eine von vielen Funktionen im Leib dieses einen Hauptes.»22

Aus dem Bisherigen gewinnt der reformierte Grundsatz aus dem 17. Jahrhundert an Bedeutung: «Ecclesia reformata semper reformanda»,23 zu deutsch: Die reformierte Kirche ist immer wieder zu reformieren. Wer sagt aber, was gilt? Nach welchen Kriterien soll die Kirche erneuert werden? Geht es darum, ein Trendsetter zu sein, mit der Zeit zu gehen und sich den neusten Aktualitäten anzupassen? Der reformierte Grundsatz verfolgt eine andere Absicht: «Die reformierte Kirche ist immer wieder zu reformieren nach Gottes Wort [...] Im Hören darauf ist die Kirche nicht auf irgendeine Vergangenheit festgenagelt, sondern lebt sie mit Gott und unter seinem Beistand in der jeweiligen Gegenwart.»24

Wir sind Kinder unserer Zeit und geprägt vom Zeitgeist. Dies ist gut so. Um in der Gegenwart als Kirche etwas sagen zu können, ist eine gesunde evangelische Spiritualität unabdingbar. Die Reformierten bleiben auf diese Weise eine Such- und Lerngemeinschaft, welche sich der Vorläufigkeit menschlicher Erkenntnis und menschlichen Handelns bewusst ist. Sie hat sich auf die Aufklärung eingelassen und bemüht sich entsprechend um die Befreiung der Vernunft von kirchlicher, staatlicher oder ideologischer Bevormundung. Und merkt selber, wie erleichternd die Einsicht ist, dass «alle Erkenntnis Stückwerk ist»25 – Erkenntnis der Vernunft sowie Erkenntnis des Glaubens.

Eine veränderte Kirchenlandschaft

Die Evangelisch-reformierte Landeskirche beider Appenzell beschäftigte sich in den letzten Jahren vor allem mit der Erneuerung ihrer organisatorischen Strukturen, und zwar zu einer Zeit, in der die Glaubenslandschaft der Schweiz grosse Veränderungen durchlebte.26

Zwei allgemeine Beobachtungen verdeutlichen die gegenwärtige gesellschaftliche Situation: Zunächst bilden die Landeskirchen zwar zahlenmässig noch eine klare Mehrheit, aber sie haben die Deutungshoheit über Glaubensinhalte und Lebensführung in der breiten Gesellschaft verloren. An ihrer Stelle sind Auswahl- und Patchwork-Glauben getreten. Religion scheint zu einem Markt geworden zu sein, in dem das Gesetz von Angebot und Nachfrage die Verbindlichkeit in Glaubenssachen verdrängt hat. Zweitens ist eine ernst zu nehmende Sehnsucht nach Halt und Orientierung erkennbar. Spiritualität boomt in einer Welt, die trotz wissenschaftlichem Fortschritt die Antwort auf die letzten Fragen nach dem Woher, Wozu und Wohin unserer Existenz schuldig geblieben ist. «Aufklärung und Säkularisierung, das spüren wir, sind längst an ihre Grenzen gestossen.»27

Diese gesellschaftliche Entwicklung hat auch Folgen für die reformierte Kirche. «Wie immer sich die reformierten Kirchen auch verhalten: Sie werden in den nächsten Jahrzehnten kleiner und ärmer, und das Durchschnittsalter der Mitglieder wird steigen»,28 so die Prognose des Religionssoziologen Jörg Stolz. Zusammen mit seiner Kollegin Edmée Ballif hat Professor Stolz von der Universität Lausanne eine Studie im Auftrag des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes (SEK) veröffentlicht, in der die Situation der reformierten Kirche in der Schweiz genauer untersucht wurde. Ihr Fazit: Wenn die bisherige Entwicklung sich fortsetzt, wird die reformierte Kirche bis im Jahr 2050 nur noch 20 Prozent der Bevölkerung in sich vereinigen. «Wahrscheinlicher sind allerdings noch wesentlich grössere Mitgliederverluste. Die Finanzkraft der reformierten Kirchen wird mindestens proportional zum Mitgliederverlust abnehmen.»29 Diese Aussichten werden mit gesellschaftlichen Megatrends begründet, denen sich die Kirchen nicht entziehen können. Die Megatrends wie z. B. Individualisierung, Wertewandel oder religiöse Pluralisierung sind nicht aufzuhalten, sondern sind als Rahmenbedingungen strategischen Handelns zu verstehen.30 In diesem Zusammenhang sind die Entwicklungen innerhalb der Evangelisch-reformierten Landeskirche beider Appenzell der letzten Jahrzehnte zu bedenken.

Mitglieder und Kasualien

Das Bundesamt für Statistik (BFS) veröffentlichte anhand der letzten grossen Volkszählungen aus den Jahren 1980, 1990 und 2000 folgende Zahlen zum Thema Wohnbevölkerung nach Religion:31


198019902000
Total in Tausend6366.06873.77288.0
Protestantisch2865.72798.02569.1
Römisch-katholisch3030.13172.33047.9
Christ-katholisch16.611.713.3
Christlich-orthodox37.271.5131.9
Andere christliche Gemeinschaften18.98.314.4
Jüdische Gemeinschaften18.317.617.9
Islamische Gemeinschaften56.6152.2310.8
Andere Kirchen und Religionsgemeinschaften11.829.257.1
Keine Zugehörigkeit241.6510.9809.8
Ohne Angaben69.1101.9315.8

Am 19. Juni 2012 hat das Bundesamt für Statistik mit der Medienmitteilung «Ein Fünftel der Bewohnerinnen und Bewohner ist konfessionslos» für Aufsehen gesorgt.32 Landesweit sind nach wie vor die römisch-katholischen sowie die evangelisch-reformierten Landeskirchen trotz leichtem Mitgliederrückgang am stärksten vertreten.33 Mit einer Zunahme von 8,9 Prozentpunkten hat sich der Anteil der Konfessionslosen seit der Volkszählung 2000 aber fast verdoppelt. Die aktuellen Zahlen ergeben folgendes Bild:34

 

Im regionalen Vergleich gibt es jedoch grös­sere Unterschiede. Im Appenzellerland liegt die Zugehörigkeit zu einer Landeskirche über dem nationalen Durchschnitt. In Ausserrhoden sind die Reformierten traditionsgemäss stärker vertreten als in Innerrhoden:


Seit der Landesteilung im Jahr 1597 verfügt die römisch-katholische Kirche in Inner­rhoden über eine deutliche Mehrheit, welche auch 2010 noch erkennbar ist:


Im Jahresbericht der Evangelisch-reformierten Landeskirche beider Appenzell wird jeweils die aktuelle Entwicklung statistisch erfasst. Daraus können Mitgliederzahlen und die in Anspruch genommenen Kasualien wie Taufen, Trauungen oder Abdankungen der jüngeren Vergangenheit abgeleitet werden. Obwohl die Reformierten in Ausserrhoden zahlenmässig über dem nationalen Durchschnitt liegen, konnten sie sich dem nationalen Trend nicht entziehen, denn auch ihre Mitgliederzahlen waren in den letzten 20 Jahren rückläufig. Zwar gibt es lokale Unterschiede, doch haben alle Kirchgemeinden unter dem Strich Mitglieder verloren. Nur die Kirchgemeinde Appenzell, die einzige reformierte Kirchgemeinde in Innerrhoden, bildet eine Ausnahme. Das Verhältnis zwischen Aus- und Eintritten liefert nur zum Teil eine Erklärung für diese Entwicklung: Rund 45 Prozent des Rückganges sind auf Austritte zurückzuführen. Der restliche Mitgliederschwund ist der demographischen Entwicklung zuzuschreiben.

Eine kürzlich veröffentlichte Nationalfonds-Studie zur «Religiosität der Christen in der Schweiz» zeigt, dass sich die Bevölkerung bezüglich ihres Verhältnisses zur Religion in vier Grundtypen unterteilen lässt: Die Distanzierten bilden mit 64 Prozent die grosse Mehrheit. Sie haben sehr wohl religiöse Vorstellungen und praktizieren diese auch gelegentlich. Religion spielt aber im Alltag der Distanzierten keine übergeordnete Rolle. Die zweitgrösste Gruppe bilden die Institutionellen mit 17 Prozent. Sie sind aktive Mitglieder ihrer Kirche und messen ihrem Glauben eine hohe Bedeutung in der Lebensgestaltung zu. Die Alternativen sind mit 9 Prozent in der Bevölkerung vertreten. Sie sprechen eher von Spiritualität als von Religion und fühlen sich besonders von esoterischen und holistischen Vorstellungen und Praktiken angesprochen. Die letzte Gruppe, die Säkularen, sind nicht religiös. Sie werden wiederum in zwei Gruppen unterteilt: die Indifferenten und die Religionsgegner. Zusammen bilden sie 10 Prozent der Bevölkerung.35

Nach Konfession und Geschlecht setzen sich die Religionsprofile wie folgt zusammen:



Eine grosse Mehrheit der Reformierten, Frauen wie Männer, pflegt demnach ein dis­tanziertes Verhältnis zur Kirche. Gleichzeitig werden die Kasualien als der wichtigste Kontakt der (Volks-)Kirchen zu den Distanzierten, «nicht gemeinschaftsorientierten Mitgliedern»36 erlebt, denn die Kasualien bilden für viele Menschen einen wichtigen Meilenstein in der eigenen Biographie und werden als «unverzichtbare»37 Aufgaben der Kirche wahrgenommen. Die Inanspruchnahme dieser kirchlichen Handlungen stellt eine wichtige Schnittstelle dar. In einem Vergleich zwischen den letzten beiden Jahrzehnten ist auch hier eine rückläufige Tendenz bei den Reformierten des Appenzellerlandes festzustellen: Taufen (–27 %), Konfirmationen (–3 %), Hochzeiten (–34 %) sowie Bestattungen (–15 %).