Nachtfunke 2

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Nachtfunke 2
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Jessica Strang

Neuenhofstr. 105

32479 Hille

www.tagtraeumer-verlag.de

E-Mail: info@tagtraeumer-verlag.de

Text: ©Marion Hübinger

Buchsatz: André Ferreira – www.skill-tree.net

Lektorat/ Korrektorat: Veronika Carver

Umschlaggestaltung: Juliane Buser

www.jb-grafikdesign.de

Bildmaterial/ Illustrationen: © Shutterstock.com

© Canstockphoto.de

Illustrationen: © Lyotta - Dreamstime

ISBN: 978-3-946843-96-2

Alle Rechte vorbehalten

© Tagträumer Verlag 2021


Kapitel 1

Fino

Der See liegt wie ein Juwel zu unseren Füßen. Nichts hat uns auf diesen Anblick vorbereitet. Urplötzlich ist die Senke hinter einem Hügel aufgetaucht. Und mitten darin das schillernde Wasser. Irritierend schön. Von einer Leuchtkraft, die das Licht des Tages noch verstärkt. Die Sonne steht flach am Himmel, wärmen kann sie längst nicht mehr. Im Hintergrund höre ich die anderen laut aufatmen, seufzen und befreit lachen. Voll bepackte Männer. Frauen am Rande der Erschöpfung, die die Kinder mit letzter Kraft hinter sich hergezogen haben. Alte mit schwachen Atemzügen. Ihr Erstaunen ist beinahe greifbar. Unser Durst kann endlich gestillt werden.

Ich verharre an der Seite meiner Gefährtin, nehme diesen einen Moment des ehrfürchtigen Dankes tief in mich auf. Die letzten Tage haben wir uns über die Berge geschleppt, wobei die Hoffnung auf eine neue Wasserquelle immer weiter schrumpfte. Eine Hoffnung, die selbst mich hatte verzweifeln lassen und in der Ferne reißende Flüsse halluzinieren ließ. Am Ende waren es jedes Mal Rinnsale. Vertrocknete Flussläufe, denen die Hitze vergangener Tage das Kostbarste geraubt hat.

»Alles wird gut«, flüstert mir Elin ins Ohr.

Ich wende den Kopf und sehe in ihre schmalen Augen, deren goldbrauner Glanz irgendwann verloren gegangen ist, und trotz allem von Zuversicht sprechen. Die Entbehrungen des langen Marsches sind auch in Elins Gesicht deutlich zu lesen. Ihre ausgeprägten Wangenknochen treten noch stärker hervor, die weißblonden Haare hängen wild und struppig herunter, die Lippen sind von der allgegenwärtigen Trockenheit genau wie meine eigenen eingerissen. Dennoch war sie nie schöner. Die Seherin der Fens lässt mein Herz jeden Tag aufs Neue erzittern. Wie ein erster zarter Lichtschweif am Horizont. Wie eine leuchtende Fackel in der Finsternis.

Am Ende habe ich dich gefunden, Feuerfrau. Auch wenn mein Dorf zu Asche zerfallen musste, um dir zu begegnen.

»Hmm ...«, brumme ich gedankenversunken vor mich hin.

Die Erinnerung an mein Dorf schmeckt bitter. Nach Verlust und Tod. Ich habe sie mir auf den Rücken geladen, in jener Nacht, in der das sinnlose Morden begann und der feindliche Stamm unser Dorf zerstörte. Meine größte Befürchtung bestätigte sich, als uns die Thuns selbst in jenem abgelegenen Tal, in dem die Fens lebten, aufspürten. Aus Furcht vor Vernichtung und neuem Blutvergießen haben wir uns gemeinsam auf den Weg gemacht. Fort von den vertrauten Tälern der Moragen. Fort von dem, was wir – die Fens und Laxis - einst Heimat nannten. Weil Kaino, der Kriegsgott, auf seinen Schwingen des Verderbens in unsere Täler vorgedrungen war und uns in einen Krieg gezogen hat, den wir nicht hatten abwenden können.

Die Zeit des Großen Friedens endete von einem Tag auf den anderen. Und fast mein ganzer Stamm wurde ausgelöscht.

»Glaub mir, Fino, dies ist ein guter Ort.«

»Ich hoffe es so sehr«, erwidere ich, weiß aber, dass meinen Worten die nötige Überzeugungskraft fehlt. Sind wir wahrhaftig angekommen?

Meine Gedanken fliehen erneut zurück. Anfangs war ich guten Mutes und trieb alle voran, Männer, Frauen wie Kinder. Sie trotzten der Mühsal, einen Bergkamm nach dem anderen zu überwinden, in die Täler hinabzusteigen, nicht wissend, was uns dort erwarten würde. Sie weinten laut, sie wimmerten, stumm sprachen die Augen von Trauer und Kummer. Ihre Tränen hinterließen keine Spuren. Irgendwann wurde das Weitergehen zum täglichen Überlebenskampf, sogar für mich. Auf dem unebenen Gelände spürte ich den dumpfen, bisweilen stechenden Schmerz in meiner Hüfte. Ich ertrug ihn still, solange ich dadurch mein frisch verheiltes Bein entlasten konnte. Trotzdem hat sich die Verzweiflung auch in meinen Kopf eingenistet. Eine stumpfe Axt war mehr wert als meine hohlen Worte, mit denen ich den Menschen Tag für Tag neue Hoffnung zu geben versuchte.

Wenn sich nur die Enge in meinem Hals verflüchtigte.

Dieser Ort kann unsere Rettung sein.

Die Verantwortung der Entscheidungen lastet dennoch auf mir. Für das Jetzt und das Morgen. Für jeden Einzelnen. Wie einst für meine Krieger.

Wirst du meine Krieger künftig anführen, Fino von den Laxis, so wie ich es dich gelehrt habe?

Ja, ehrwürdiger Kanoa, ich werde deine Axt und dein Speer sein. Möge ich ein ehrwürdiger Nachfolger sein.

Ausgerechnet jetzt höre ich die Worte meines Lehrers und Ältesten der Laxis. Wie sehr er mir fehlt. Meine Antwort liegt noch nicht lange zurück und dennoch fühlt es sich an, als sei es in einem anderen Leben gewesen.

»Komm, Fino, es gibt viel zu tun.« Elin streicht über den Widder an meinem Oberarm, als wüsste sie von meinem inneren Kampf.

Ich schlucke. Mein Krafttier, das kurz vor meiner Wahl zum Kriegeranführer dort eingeritzt worden ist, bezeugt, wofür ich geboren wurde. So wie Elins Eule für ihre Weisheit und Sehergabe steht, und auf Kanoas Schulter der Bär als Zeichen des Beschützers und weisen Lehrers zu finden war, steht mein Widder für Willenskraft und Erfolg. Was lässt mich ausgerechnet jetzt zögern?

»Bin ich ein guter Anführer, Elin?«

Ich spüre an meiner Seite, wie ein Ruck durch Elins Körper geht.

»Was soll das für eine Frage sein, Fino?« Die Strahlen der sinkenden Sonne verhängen sich in Elins Hinterkopf, umgeben sie mit einem Licht, das mich schaudern lässt. »Du bist der beste Anführer, den es jenseits und diesseits der Moragen gibt.«

»Was ist mit Dragon und Telman? Sie haben meinen Platz an deiner Seite von Anfang an in Frage gestellt. In Telmans Blicken steckt so viel Wut. Ich kann verstehen, wenn er mich ablehnt, immerhin habe ich allen viel abverlangt und ...«

»Vergiss die beiden. Telman ist ungestüm wie ein junger Hirsch, der das Rudel am liebsten selbst zusammenhalten würde. Er kennt seinen Platz. Und Dragon ...«, Elin zieht eine Augenbraue hoch, »du kannst ihm vertrauen, auch wenn es für dich nicht danach aussieht.«

Sobald Elins Freund aus Kindertagen zwischen uns zur Sprache kommt, beschleunigt sich mein Puls, ohne dass ich es beeinflussen kann. Dragons und mein Start war nicht der Beste. Selbst wenn er seit unserem Aufbruch alles daran gesetzt hat uns zu unterstützen, ist die Tatsache, dass er sich mir von Anfang an überlegen gefühlt hat, nicht von der Hand zu weisen.

»Was ist mit denen, die wir zurücklassen mussten?« Nachdenklich knete ich meinen verspannten Nacken. »Immer, wenn ich gedacht habe, eine richtige Entscheidung zu treffen, habe ich neues Verderben über die Menschen gebracht, die mir wichtig sind.«

»Ein Kriegsgott braucht keinen Grund, um den Tod zu fordern.«

Wie stolz ich auf sie bin. In der Stimme meiner Gefährtin höre ich ihre ureigene Stärke heraus. Ohne Elin, ohne ihre Weitsicht und Besonnenheit, wären wir nie so weit gekommen. In den Nächten, in denen ich schweißgebadet aufwache, sind es ihre trostvollen Worte, die mich einhüllen wie ein Kind. Ich war noch nie derart mitgenommen. Mein Vater hat mich gelehrt, welche Folgen Schwäche nach sich zieht. Stockhiebe, Nächte allein und zitternd vor unserer Hütte, die unermüdliche Jagd in den Bergen nach Wild, obwohl mich meine Beine kaum mehr tragen konnten. Vielleicht sollte ich dankbar für die Zähigkeit sein, in dieser rauen Bergwelt überleben zu können.

»Es ist immerhin ein Anfang«, sage ich und streife die Düsternis wie eine zweite Haut ab.

Elin lacht und schubst mich von der Seite. »Na endlich, ich dachte schon, du freust dich nie.«

»Wer freut sich nicht?« Der Schmied tritt zu uns und reibt sich die klammen Hände. »Wir haben es geschafft, Fino. Endlich Wasser. Und das reichlich. Wenn der See kein Grund zur Freude ist, dann weiß ich auch nicht weiter.«

»Du hast recht, Schmied.« Ich bemühe mich um eine überzeugende Mimik und lege die rechte Faust auf die linke Seite meiner Brust. »Wir haben es geschafft.« Zumindest bis hierher.

»Sehe ich genauso. Ich hoffe nur, dass mein Feuer es nicht zu schwer haben wird. Der Wind zieht über den Kamm wie eine Horde ungestümer Wildpferde.«

»Du kannst es wohl kaum erwarten, wieder über dem Feuer zu arbeiten, was?« Elins Bruder Aso, der ebenfalls zu uns aufgeschlossen ist, klingt ausgelassen.

Elin nickt ihm zu. »Arbeit und eine Aufgabe sind genau das, was wir brauchen.«

Ein Strahlen tritt in ihr Gesicht. So als hätte sie eine plötzliche Eingebung, eine Vision. Zu unser aller Überraschung wendet sie sich um und sieht über die Reihen der Wartenden.

»Hört mich an, Fens und ihr Letzten der Laxis. Dieser Ort wird uns freundlich empfangen. Schon heute Abend werden wir zusammen sitzen, zu essen haben und uns an einem Feuer wärmen. Wir können nicht viel unser Eigen nennen, aber dies wird unsere dringlichste Aufgabe sein. Seid stolz darauf, dass ihr es so weit geschafft habt.«

Lauter Jubel brandet auf. Fäuste werden auf die Brust geschlagen, Frauen stampfen auf die Erde und ihre Kinder hüpfen schreiend herum. Ich verschränke meine Finger mit Elins. Es ist alles gesagt.

 

Inmitten dieser Unruhe schultert der Schmied sein Gepäck. »Ich gehe als Erster, nur damit das klar ist. Wenn sich am See nichts rührt, strecke ich die Faust in die Höhe.«

Verwundert blicke ich zu diesem großen bärtigen Mann, dessen Unerschütterlichkeit ich am meisten schätze. »Du wirst auf keinen Fall allein da runter gehen.«

»Das sehe ich genauso«, eröffnet uns Elin und winkt Dragon, den besten Späher der Fens, zu sich. »Dragon und auch du, Aso, ihr werdet den Schmied zum See begleiten.«

Der Schmied gibt ein lautes Schnauben von sich.

»Geduld, mein Freund, der erste Eindruck kann trügen«, mahne ich ernst.

Aufgebracht fährt sich der Schmied über den vollen Bart. »Alles wirkt friedlich. Einen besseren Ort wird es kaum geben.«

»Ich bin mir sicher, dass du uns in deiner Vorstellung bereits hier siedeln und endlich wieder die Glut anfeuern siehst.« Ich schenke dem treuen Laxis ein Lächeln.

»Ist es nicht endlich an der Zeit, Fino?« Er sucht meinen Blick, bevor er weiterspricht. »Mit jedem Schritt, den ich gegangen bin, habe ich mein Leid hinter mir gelassen. Zu wissen, dass ich meine Tochter niemals aufwachsen sehen werde, schmerzt. Trotzdem denke ich an all die Kinder, die in den Wiesen herumspringen und das Lodern der Flammen mit großen Augen bestaunen werden, und an all die heldenhaften Geschichten, die wir uns am Feuer erzählen werden.«

Eine Schmiede, Werkzeug, neue Waffen, um der Fremde nicht vollkommen wehrlos gegenüber zu stehen ... wie leicht sich dieses Bild heraufbeschwören lässt. Dieser Ort verspricht viel. Die Felsen umrahmen den See von drei Seiten. Sie bilden einen natürlichen Schutz vor möglichen Gefahren. Wobei ich sowohl an wilde Tiere als auch an Fremde denke. Wellenartig setzen sich die Felsen dahinter fort, hier und da etwas schroffer. Auf einigen Hügeln haben sich Bäume und Buschwerk festgewachsen, andere sind lediglich von Flechten oder Gras überzogen. Die Senke lässt sich von hier oben bestens einsehen. Nichts deutet darauf hin, dass ein anderer Stamm in der Nähe lebt.

In die Menschen um uns herum kommt plötzlich Bewegung. Sie rücken näher zusammen. Ich höre ein helles Kinderlachen in meinem Rücken. Leises Diskutieren. Die Leute beginnen sich zu regen. Vielleicht spinnen sie ihre Träume genau wie der Schmied.

»Bruder, dir gebührt gemeinsam mit dem Schmied und Dragon die Aufgabe zu prüfen, ob wir uns an diesem Ort sicher fühlen können«, ergreift Elin in feierlichem Ton das Wort und legt die Hand auf Asos Schulter.

»Ich danke dir für das Vertrauen, Schwester«, erwidert Aso und seine Augen leuchten vor Stolz. »Möge Irsa, die Göttliche, uns ihren Segen geben und unser Vorhaben schützen.«

Elins Bruder trug bisher keine wirkliche Verantwortung für den Stamm, darum tut Elin gut daran, ihm diese Aufgabe zu übertragen. Dennoch höre ich das leise Zittern in ihrer Stimme.

»Seid trotzdem vorsichtig.«

»Lass das unsere Sorge sein, Elin. Dieser Ort schreit förmlich danach, dass wir hierher gehören.« In Dragons Gesicht klebt ein überhebliches Grinsen, als er mir einen Blick zuwirft.

Ich ziehe die Augenbrauen zusammen. Seit wir auf der Flucht sind, ruht sich Dragon darauf aus, dass er mich aus den Fängen der Thuns befreit und meine Leute gerettet hat. Darum hält er sich insgeheim wohl auch für den besseren Beschützer für Elin. Das reibt er mir allzu gern unter die Nase, sobald Elin nicht in der Nähe ist. Mir ist klar, dass ich diesen Zwist baldmöglichst aus dem Weg räumen muss. Doch jetzt geht es um die Sicherheit unserer Leute. Alles andere kann warten.

Nervös verfolge ich jeden Schritt der drei Männer. Hügel um Hügel, über Gestein, niedriges Gestrüpp und trockenes Gras. An einer Felskante rutscht Dragon aus und muss sich mit der Hand abstützen, um nicht zu fallen. Immer wieder suche ich mit den Augen dabei ihr Ziel, den See. Dunkelblau und unergründlich liegt er in der Senke. Noch immer streicht der Wind über mein Gesicht, zerrt an den Haaren, die kaum noch mit den Händen entwirrbar sind, an der spannenden Haut, trocken wie Pferdefell, das dem Staub für eine Ewigkeit ausgesetzt wurde. Meine Lippen sind rissig, in meinem Mund formt sich der eine Gedanke: Wasser.

Der See ist fast in Reichweite der drei Männer, als sie plötzlich stehen bleiben. Mein Atem stockt. Bitte lass es kein schlechtes Zeichen sein.

»Was haben sie entdeckt?«

Elin drückt meine Hand. »Sie sind vorsichtig, das ist alles.«

»Mir gefällt nicht, dass sich der Schmied von den anderen trennt.«

»Du bist hier, Fino, und sie entscheiden selbst, was zu tun ist.«

»Was, wenn es eine Falle ist?« Es fällt mir schwer zuzusehen, wie der Schmied hinter einem Hügel aus meinem Blickfeld verschwindet. Vermutlich will er sich dem See von der anderen Seite nähern.

»Sie prüfen die Umgebung, so wie du es wolltest.«

Elins Worte treffen mich. Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen widme ich meine Aufmerksamkeit wieder dem Geschehen. Dragon und Aso steuern ebenfalls auf den See zu. Sie verschmelzen regelrecht mit der Umgebung. Dennoch klopft mein Herz so laut, als wäre ich an ihrer Stelle. Es ist die Stimme des Anführers, die ich höre. Was habe ich hier oben verloren? Ich hätte mit ihnen gehen sollen! Der Widder pulsiert.

»Vielleicht hat man uns längst entdeckt. Wir hätten besser in Deckung gehen sollen.« Den Krieger in mir im Zaum zu halten, kostet mich viel Mühe.

»Du wolltest mir vertrauen. Fino. Wir sind hier nicht in Gefahr«

»Ich weiß.«

Ich werfe einen schnellen Blick zu Elin. Ihr erhobenes Haupt, die Zuversicht in ihrer Haltung, mehr denn je beweist sie, dass sie zu Recht die Auserwählte und Führerin der Fens geworden ist. Ihre seherischen Fähigkeiten allein würden schon genügen, doch ich erkenne noch so viel mehr in der Frau, die mein Bran zum Leben erweckt hat. Stärke. Klugheit. Und die Weitsicht, die hinter ihren Entscheidungen liegt.

Sie ist die Frau an meiner Seite, die nicht ins Wanken gerät, wenn ich mich an sie lehne.

Eine tiefe Sehnsucht erfüllt jede Pore meines Körpers.

»Wie lange dauert es denn noch?«

Der empörte Ruf eines Mannes reißt mich aus den Gedanken. Ihm folgen weitere Stimmen, als hätte die Glut plötzlich Feuer gefangen.

»Wir wollen auch zum See.«

»Meine Kinder haben Durst.«

»Da unten ist nichts, das sieht selbst ein Blinder!«

Die Ungeduld der Wartenden in meinem Rücken ist beinahe greifbar. Wie ein Geschwür unter der Haut, das immer größer wird und aufzuplatzen droht. Die Leute sind bereit, ihre letzten Kräfte zu mobilisieren.

»Wir warten ab.« Ich bemühe mich, ruhig und bestimmend zu klingen. »Wir müssen sicher sein, dass uns keine Gefahr droht.«

»Was soll da unten schon gefährlich sein?«

Abrupt drehe ich mich um. Telman. Sein Übereifer hat mir gerade noch gefehlt.

»Wir haben es bis hierher geschafft, weil niemand einfach losgestürmt ist«, sage ich mit deutlichem Ernst in der Stimme.

»Bis hierher, du sagst es«, schnaubt Telman. Sein finsterer Blick könnte eine Gewitterwolke heraufbeschwören.

Die Hand auf meiner Schulter bremst meine Erwiderung aus.

»Du wirst unsere Entscheidung nicht anzweifeln, Telman. Sonst bist du der Erste, der ins Wasser steigt«, sagt Elin mit einer noch nie dagewesenen Entschlossenheit.

Ein Raunen geht durch die Menge. Ich weiß von Elin, dass die wenigsten Fens schwimmen können und tiefe Gewässer meiden. Niemals würde einer von ihnen freiwillig in den See gehen. Trotzdem steigt mein Unmut über Telman. Kraftvoll presse ich die Kiefer aufeinander.

Ein paar Männer schlagen Telman gutgemeint auf den Rücken. Er quittiert es mit einem Tritt auf den Boden, wobei Gras und Erde nur so wegspritzen. Der dunkelhäutige Hüne kann gut Reden schwingen. Das hat er unterwegs immer wieder bewiesen. Wenn er der Meinung war, dass wir an einer Wegscheide eine andere Richtung einschlagen sollten. Oder er nach einer Pause verlangte. Er hat viele Freunde unter den Fens. Solche, die die Sprache der Fäuste besser verstehen. Was wir am wenigsten brauchen, ist ein Aufrührer. Doch er drängt sich trotzdem immer weiter an den Bergkamm, und viele andere mit ihm.

Plötzlich ertönt ein Schrei, laut und ungestüm.

»Was ist ...«

»Seht nur, der Schmied!« Elins Arm schnellt nach vorn. Ihre Finger weisen in Richtung See.

Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Keinesfalls jedoch, dass nur einen Augenblick später ein Ruck durch die Menge geht und die Ersten losstürmen. Allen voran Telman. Und es folgen immer mehr. Gleich einer losgetretenen Gerölllawine rennen sie den Berg hinunter. Jubelnd, schreiend und lachend. Sie stören sich nicht daran zu stolpern, lassen ihre schweren Lasten einfach liegen. All das beobachte ich, noch bevor ich endlich selbst in die Senke blicke. Dorthin, wo der Schmied vereint mit Aso und Dragon steht und seine Faust in die Höhe streckt.

Ein Aufatmen. Ich lockere meine Kiefermuskeln. Bis in den Nacken spüre ich die Anspannung.

»Und? Sollen wir auch gehen?«

Elins Frage kommt einem Weckruf gleich. Ich führe meine Faust zur Brust. Zum Zeichen, dass es wahr geworden ist. Dass wir einen Ort gefunden haben, der mehr sein kann als eine Zuflucht. Ich kann die Erregung im Spiel ihrer Mimik sehen. Trotzdem entscheide ich anders.

»Wir müssen zuerst nach deiner Großmutter sehen.«

»Ich wollte nicht ...«, Elin senkt die Lider und spricht nicht weiter. Für einen kurzen Moment herrscht stummes Einvernehmen zwischen uns. Sie lehnt den Kopf an meine Stirn. Ich spüre die Eule in ihrem Nacken. Ihr Krafttier ist stark. Elins Gabe reicht nicht ganz an die von Asya heran, doch sie hat uns in manch bangen Momenten zur Vernunft gebracht. Jetzt ist es an mir, Besonnenheit zu zeigen.

»Du hast recht«, durchbricht meine Gefährtin ihr Schweigen. »Lassen wir die anderen voraus gehen. Wir haben sie lange genug angeführt.«


Kapitel 2

Fino

Bei Asyas Anblick wird mein Herz schwer. Die alte Frau, die nicht nur die Wunden des erbitterten Kampfes gegen meinen ärgsten Feind, sondern auch die meiner Seele mit ihrem großen Wissen geheilt hat, lehnt keuchend an einem Felsen. Myra sitzt daneben und spricht leise zu ihr, während sie ihr sanft über die weißen Haare streicht. Nicht weit entfernt entdecke ich Gundo, Myras Gefährten. Er ist umringt von ein paar Männern, die gestikulierend auf ihn einzureden scheinen. Sie alle haben sich in den letzten Tagen abgemüht, Asya bis an diesen Ort zu tragen, nachdem deren Kräfte immer mehr am Schwinden waren. Der Blick der Alten ist glasig. In letzter Zeit waren ihre Worte oft verworren, als müsse sie sich selbst durch das Dickicht ihrer Gedanken wühlen.

»Wie geht es ihr?«, fragt Elin leise.

Ich zucke zusammen, als Myra zu uns hoch sieht. In ihren großen rehbraunen Augen liegt unendlich viel Traurigkeit. Die Schwester meines besten Freundes Inde ist jung, die Geschehnisse haben sie allerdings schneller reifen lassen als ein Samenkorn die Erde durchstößt. Nicht mehr lange, dann wird sie selbst Mutter.

»Wir können nicht viel für sie tun, Fino«, sagt Myra und macht dabei Platz für Elin. »Das Atmen fällt Asya immer schwerer.«

»Bei den meisten, die in der Höhe mit Luftproblemen zu kämpfen hatten, ist es mit der Zeit besser geworden.« Ich kratze mich verzweifelt am Hinterkopf. »Warum nicht bei ihr?«

»Sie ist alt.« Myra steht auf. Sie schlingt die Arme um sich und sieht in die Ferne. »Asya sagt, dass ihr Herz nicht mehr hinterher kommt. Es verliert seine Kraft.«

»Nicht jetzt«, fluche ich so laut, dass mir Elin einen mahnenden Blick zuwirft.

Wie viele Sonnenläufe ist es her, dass wir uns auf den Weg gemacht haben? Dreimal hat sich der Mond bereits gefüllt, jetzt ist nur eine schmale Sichel zu sehen. Tag um Tag haben wir zu Irsa, der Göttin, gebetet haben, uns den Ort aus Asyas Vision finden zu lassen. Längst habe ich aufgehört sie zu zählen. In meinen dunkelsten Momenten habe ich bereut, keinen anderen, keinen besseren Ausweg gewusst zu haben. War Flucht wirklich die beste Entscheidung? Eine Flucht über die unwegsamen Bergriesen der Moragen, nicht wissend, was dahinter auf uns warten würde? Nur um zu erkennen, dass sich eine Bergkette nach der anderen aneinanderreihte. So hoch, dass wir die Waldgrenze viele Male hinter uns lassen mussten. So gefährlich, dass ich nie aufhören durfte, um das Leben der mir anvertrauten Menschen zu bangen.

 

Sieben Opfer hat der Berg zu sich gerufen. Schwäche und Alter haben zugelassen, dass wir drei der ältesten Fens betrauern mussten. Drei weitere, deren Schritte zu unachtsam gesetzt worden waren. Mitanzusehen, wie Onaki, Enya und die kleine Isa die Felsen hinabstürzten und uns jede Möglichkeit der Hilfe genommen war, ließ uns der Verzweiflung näher rücken. Auch Elins Mutter hat es nicht geschafft. Meine Gefährtin verliert nie ein Wort darüber. Die Unversöhnlichkeit der beiden hielt bis zuletzt an. Hinzu kam der offen ausgetragene Hass auf mich. Am Ende war Sare ein Fehltritt zum Verhängnis geworden. Damit hat sie die mühsam unterdrückte Wut auf ihre Tochter und auf ihr eigenes ungerecht empfundenes Schicksal mit in die Tiefe genommen.

Oh Irsa, du Göttliche, sag, sind wir am richtigen Ort angekommen?

Mit vielem haben Elin und ich gerechnet, als wir uns mit dem Rat der Seherinnen und Asya berieten und unsere Leute darum baten, noch einen weiteren, vielleicht einen letzten Berg zu erklimmen. Mit schroffen Felshängen, die uns den Weg versperrten und uns zu einem kräftezehrenden Umweg zwangen. Weil sich das Tal, in dem wir unser Lager aufgeschlagen hatten, als zu schmal und unwirtlich erwiesen hatte. Niemand von uns hatte in seinen kühnsten Träumen daran gedacht, Wasser im Überfluss zu finden.

»Es ist nicht gerecht.« Eine einzelne Träne rollt über Myras Wange. »Asya hat es so weit geschafft. Ich wünschte, ich hätte noch etwas von den Kräutern aus unserer Höhle.«

»Du kannst nichts dafür, Myra.«

Behutsam lege ich einen Arm um ihre Schulter und lenke sie ein paar Schritte weg. Weg von dem Krankenlager und den anderen Seherinnen, deren Mienen wachsam auf ihre Anführerin gerichtet sind. »Du hast dein Bestes getan. Ich weiß doch, wie viele Pflanzen du unterwegs gesammelt hast und ...«

»Aber ich weiß noch lange nicht genug über diese fremden Kräuter«, unterbricht mich Myra aufgewühlt.

Wie müde sie aussieht. Habe ich ihr angesichts ihres Zustandes zu viel zugemutet? Noch sieht man erst eine kleine Wölbung, doch die Art und Weise, wie sie ihre Hände in abwesenden Momenten auf den Bauch legt, zeigt, wie sehr sie sich mit dem Gedanken vertraut macht, ein Kind auszutragen. Was, wenn sie sich überfordert hat, als sie vorschlug, sich um Elins Großmutter zu kümmern?

»Jetzt kannst du dich ausruhen und anderen die Pflege überlassen.«

Myra schüttelt energisch den Kopf. »Das meinst du nicht im Ernst, Fino! Ich lasse Asya nicht im Stich!«

»Schon gut.« Ich hebe die Hände.

Wir gehen ein paar Schritte nebeneinander her. Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, dass mich Myra schwer verletzt aus den brennenden Trümmern einer unserer Hütten gezogen hat. Während die Thuns in unser Dorf eingefallen waren und es mordend in Brand gesteckt hatten, war ich Pollis, dem Sohn ihres Anführers, in einem fast aussichtslosen Kampf gegenübergetreten. Am Ende hatte ich ihn besiegt. Doch zu welchem Preis? Myra hatte mich gestützt, als wir die Toten unseres Dorfes beklagten, hatte meine Entscheidung zu fliehen nicht in Frage gestellt, und dabei doch ihre ganze Familie verloren. Wie tief muss sich der Verlust in ihr Herz eingebrannt haben. Ihr Herz, das jetzt für zwei schlägt. Verzeih mir Inde, mein Freund. Ich weiß, dass deine Schwester bereits viel zu viel Leid für ihr junges Leben gesehen hat.

»Du bist eine großartige Heilerin geworden, Myra. Inde wäre stolz auf dich, wenn er dich jetzt sehen könnte. Deine Familie, sie alle ...«, ich gerate ins Stottern.

Schon auf unserer Flucht aus dem brennenden Dorf war ich daran gescheitert, die richtigen Worte zu finden. Solche, die den Verlust weniger schmerzhaft machen könnten.

Es ist schön, wenn du von ihm sprichst. So bleibt er in den Erinnerungen lebendig.

Myra hatte bei diesen Worten geweint und mich gleichzeitig gebeten, sie nicht zu schonen.

»Er fehlt mir. Seine Launen. Die Neckereien. Inde hätte sich jeden Tag beschwert, dass es nichts als jämmerliche Gräser und verschrumpelte Beeren zu essen gibt.«

Um Myras Mundwinkel zuckt es. »Mich würde er bestimmt damit aufziehen, dass ich mal wieder mit dem Kopf durch die Wand möchte. Du kennst seine freche Zunge.«

»Und wie«, ich lache befreit auf, »sie hat ihm so manchen Ärger eingehandelt.«

»Ob Inde sich gut mit Gundo verstanden hätte, wenn sie mehr Zeit miteinander verbracht hätten, was meinst du?«

»Sicher! Und deine Mutter erst! Sie wäre so froh über dein Glück, Myra.«

Gundo ist ein guter Mann. Und dazu ein Laxis. Ein Leben lang wird er für jeden sichtbar die Brandnarben des Überfalls auf unser Dorf auf seinem Körper tragen. Was ihn anfangs daran zweifeln ließ, ob er Myra seine Gefühle gestehen sollte. Doch er fand in Zeiten der Trauer die richtigen tröstenden Worte und gab Myra den Halt, den sie brauchte, um so etwas wie eine Zukunft zu sehen. Ich bin dankbar, dass sich die beiden gefunden haben. So wird der Stamm der Laxis nicht untergehen.

»Myra, geh mit Gundo zusammen an den See. Elin und ich kümmern uns um Asya.« Ich drücke Myra die Hand und weise mit dem Kopf in die Richtung. Dorthin, wo sich diejenigen, die den See erreicht haben, gegenseitig in die Arme fallen, ans Wasser stürzen und ihren Durst stillen. Ich hoffe für Myra, dass sich Freude in ihrem Herzen breit machen kann, wenn sie diesen besonderen Moment mit Gundo teilt. Sie hat es mehr als verdient, glücklich zu sein.

»Vielleicht finde ich dort unten auf dem feuchten Boden neue Kräuter.« Myra spricht leise, mehr zu sich selbst. Sie dreht ihr Gesicht in den Wind und schließt für einen Moment die Augen.

»Du hast alles versucht, Myra. Asya hat keinen Weg gewusst, wie wir ihr helfen können. Sie ist eine Seherin, vergiss das nicht.«

Ich höre ein Aufschluchzen. »Es ist, als ob Asya für all diejenigen steht, für die ich nicht da sein konnte. Ich möchte sie nicht gehen lassen.«

»Das verstehe ich.«

»Wenn ich wenigstens wüsste, wie meine Mutter oder Inde sterben mussten ...«

»Quäl dich nicht, Myra.« Ich fasse die junge Frau an den Schultern und rede eindringlich auf sie ein. »Ich weiß, wovon du sprichst. Der Tod ist Teil des Lebens, schon immer. Sobald wir uns an einem sicheren Ort niederlassen, werden wir unserer Toten gedenken. Und einen Ehrenstein in der Mitte des Dorfes aufstellen.«

Myra wirft mir einen seltsamen Blick zu. »Du glaubst nicht, dass es hier sein wird?«

Ein Frösteln legt sich auf meine Arme. So sehr ich es mir wünsche, mit den anderen in Jubel auszubrechen, es gelingt mir immer noch nicht. Obgleich dieser Ort so viel mehr verspricht, als wir alle erhofft haben. Irgendetwas tief in mir sträubt sich.

Mein Schweigen deutet Myra auf ihre Weise. »Was sagt Elin dazu?«

»Sie weiß es nicht.«

»Dann sprich mit ihr!«

»Es ist nur ein Gefühl, Myra.« Ich versuche, die richtigen Worte zu finden. «Als läge ein schwerer Stein auf meiner Brust. Dabei bin nicht ich derjenige mit der Sehergabe.«

»Und genau darum musst du mit Elin sprechen. Vielleicht kann sie dir mehr Antworten geben.«

»Meinst du, dass Asya diesen Ort in ihrer Vision gesehen hat?«

»Möglich ist es«, sagt Myra ausweichend. Sie zieht die Brauen zusammen, während sie in die Senke blickt. »Der Berg ist wie ein Fremder, das Tal eine Vertraute. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich lieber in einem Tal leben.«

»So geht es mir auch, Myra. Wir haben schon immer in der Ebene am Fluss gelebt, dort war unser Zuhause. Ich weiß nicht ...«, ich stocke, »ob wir für ein Leben am Berg geschaffen sind.«

»Dann lass es uns ausprobieren, Fino.« Myra wendet sich um. »Ich gehe jetzt mit Gundo nach unten. Alles andere wird sich fügen.«

Wie weise sie ist, die kleine Schwester meines besten Freundes. Für einen Moment bleibe ich am Grat stehen, allein mit meinen Gedanken. Warum habe ich mich Myra anvertraut? Hätte ich meine Bedenken nicht eher mit Elin teilen sollen? Innerlich winde ich mich gleich einer Schlange um eine ehrliche Antwort. Myra ist eine Laxis. Jeder Stein in unserem Dorf war ihr genauso vertraut wie mir. Myra hat verloren, was auch ich verloren habe. Die Heimat. Die neu zu finden wir seit heute hoffen können.