Buch lesen: «Schachtelhalm - eBook»

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Schachtelhalm


Marianne Ruoff

Schachtel

halm

Drachenmedizin aus der Urzeit Mit vielen Rezepten und Anwendungen



Die in diesem Buch beschriebenen Anwendungen und Heilwirkungen sind nach bestem Wissen und mit größtmöglicher Sorgfalt geprüft. Autorin und Verlag übernehmen jedoch keinerlei Haftung für etwaige Nebenwirkungen oder Schäden irgendwelcher Art, die sich direkt oder indirekt aus dem Gebrauch der hier vorgestellten Informationen ergeben. Es ist in jedem Fall ratsam, vor jeder Heilanwendung eine Fachperson beizuziehen.

© 2019

AT Verlag, Aarau und München

Lektorat: Diane Zilliges, Murnau

Fotos: Marianne Ruoff, sofern nicht anders angegeben

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

E-Book ISBN 978-3-03902-022-5

www.at-verlag.ch

Der AT Verlag, AZ Fachverlage AG, wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

INHALT

Vorwort

Überlebenskünstler aus der Urzeit

Eine Zeitreise mit unvorstellbaren Dimensionen

Fünfzehn Male Massenaussterben – er überlebt

Wiederauferstehung in der Volksmythologie

Das Volksmärchen vom Schachtelhälmchen

Der Schachtelhalm und das Goldene Zeitalter

Urzeit und Zukunft: Schachtelhalme und Silizium

Silizium im Körper

Takt und Struktur

Grün, geschachtelt, gerade: Schachtelhalmarten erkennen und nutzen

Ackerschachtelhalm, Equisetum arvense L.

Sumpfschachtelhalm, Equisetum palustre L.

»Im Sumpf trägt man hohe Gummistiefel«

Ist Sumpfschachtelhalm giftig?

Riesenschachtelhalm, Equisetum telmateia Ehrh.

Winterschachtelhalm, Equisetum hiemale L.

Bunter Schachtelhalm, Equisetum variegatum Schleich.

Schlamm- oder Teichschachtelhalm, Equisetum fluviatile L.

Waldschachtelhalm, Equisetum sylvaticum L.

Praktische Hinweise für die Nutzung der Schachtelhalme

Stängelscheiden der verschiedenen Schachtelhalmarten

Wann und wie richtig sammeln?

Das Trocknen der Kräuter

Pilzbefall bei Schachtelhalmen erkennen

Verwechslungsmöglichkeiten

Noch ein paar Worte zu Dosierung und Unbedenklichkeit

Heilwirkungen der Schachtelhalme

Inhaltsstoffe des Ackerschachtelhalms

Siliziumgehalt in Ackerschachtelhalm-Zubereitungen

Heilwirkungen auf den Körper

Haut

Einschub: Verkohlen als Arzneizubereitungsform

Für die Füße

Schönes Haar, kräftige Nägel

Mund und Rachen

Zähne

Niere und Blase

Magen und Darm

Zum Blutstillen

Leber und Galle

Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus)

Knochen und Muskeln

Augen

Frauen- und Männerheilkunde

Weitere körperliche Heilwirkungen

Heilwirkung für die Psyche

Chaotische Zustände ordnen

Sterbebegleitung

Drachenmedizin im Land des Drachens

Wirkungen auf das Gehirn

Heilwirkung auf Tiere

Hunde mit Hauterkrankungen

Tierseuche Surra

Medizin für Pferde

Der Schachtelhalm in der Kosmetik

Wohltuend für Haut und Bindegewebe

Erfrischende Schachtelhalm-Deovariationen

Küchenrezepte süß und salzig

Erfrischende Grüngetränke heiß und kalt

Weitere gesunde Köstlichkeiten

Essbare Sporenkolben

Essbare junge grüne Triebspitzen

Essbare Wurzelknollen

Allgemeines zum Verzehr von Schachtelhalmen

Schachtelhalme im Haushalt

Nützliche Helfer im Haus

Schachtelhalm für den Garten

Weitere Möglichkeiten der Nutzung

Drachenmedizin aus der Urzeit

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Dank

Die Autorin

Stichwortverzeichnis


Den Ahnen gewidmet


Wie lieblich schallt durch Busch und Wald

des Waldhorns süßer Klang!

Der Widerhall im Eichental

hallts nach so lang, so lang.

Und jeder Baum im weiten Raum

dünkt uns wohl noch so grün;

es wallt der Quell wohl noch so hell,

durchs Tal dahin, dahin.

Und jede Brust fühlt neue Lust

beim frohen Zwillingston;

es flieht der Schmerz aus jedem Herz

sogleich davon, davon.

Text Christoph von Schmid, Melodie Friedrich Silcher

Quelle: www.lieder-archiv.de

Dieses »Ahnenlied« hat mein Großvater Karl Ruoff mit seiner Okarina im Wald oft gespielt. Er hat die Liebe zur Natur in mir geweckt und mir manches über Pflanzen und Tiere vermittelt. Das Lied trägt für mich eine reiche Symbolik: Das Waldhorn bedeutet den eigenen Lebenston, der im früher heiligen Hain der Eichen widerhallt. Die Eiche galt als Baum der Ewigkeit, der immergrünen Kraft, auch Symbol des Goldenen Zeitalters oder Sitz der Ahnengötter. Es ist das Echo der Ahnen, der Ewigkeit, ein Zwillingston des Dahingehens und Wiederkehrens, wie der Lebensfluss. Dieses Ahnen-Echo macht froh, da es sich über den Tod hinwegsetzt, so, wie es auch der Schachtelhalm mit seiner Geschichte tut.

VORWORT

»Es rauscht in den Schachtelhalmen,

verdächtig leuchtet das Meer.

Da schwimmt mit Tränen im Auge

Ein Ichthyosaurus daher.«

Joseph Victor von Scheffel (1854)

Es sind schon einige Jahrzehnte her, da zogen wir auf einen abgelegenen alten Hof im Allgäu. Eine Priorität war es, die mit zähen Wildkräutern und Brennnesseln überwucherte Wildnis urbar zu machen und einen Selbstversorgergarten anzulegen. Das wilde Gestrüpp samt Wurzeln wurde zum Kompost aufgehäuft. Mit genügend Masse erhitzt sich ein solcher Komposthaufen, sodass sämtliche Wurzelsprossen und Samen absterben und schließlich zu gutem Dünger verrotten. Über die Handvoll Ackerschachtelhalm-Rhizome, die ich mit in den Haufen warf, machte ich mir keine Gedanken – die Hitze, die zersetzenden Pilze und Kompostbakterien würden sie, wie das andere Pflanzenmaterial, verdauen. Im nächsten Jahr brachte ich den Kompost auf den Acker. Bald merkte ich, dass plötzlich hier und da frisch und munter Schachtelhalmpflänzchen hervorsprossen. Es war, als sagten sie mir: »Deine lächerliche Kompostierung kann mir nichts antun. Mich gibt es schon seit über vierhundert Millionen Jahren; ich habe alle Klimaextreme überlebt. Ich war schon da, als deine Vorfahren als primitive Lurche aus den Ursümpfen krochen. Und nun wirst du mich nicht wieder los, denn meine Speicherknollen befinden sich anderthalb Meter unter der Erdoberfläche. Die kann man zwar gut essen, aber da müsstest du fleißig schaufeln …«

Ich kenne Gärtner und Bauern, die die Wuchsfreudigkeit dieses Urzeitgewächses fast in den Wahnsinn treibt. Die Rhizome sind schwarz, oft sieht man sie beim Umgraben oder Pflügen nicht, und jedes Wurzelstückchen wird, ähnlich wie die Queckenwurzel, zu einer neuen Pflanze. Und da die Pflanze so tief wurzelt, helfen auch keine Herbizide.

Mich konnte der Schachtelhalm jedoch nicht ärgern. Er war nämlich, wie es die Indianer sagen würden, einer meiner »pflanzlichen Verbündeten«. Ich kann mir auch kein Frühjahr vorstellen, ohne dass ich die saftigen, blass beigebraunen, chlorophylllosen Sporentriebe sammle und sie in ein köstliches Rührei oder Pfannengericht schnipsle. Schon die Römer schätzten dieses Wildgemüse. Die Triebe sind ein Gruß des Frühlings; sie erscheinen vor den grünen Wedeln.

So richtig kennen lernte ich den Schachtelhalm in dem zwei Hektar großen biodynamischen Gemüsegarten in der Schweiz, wo ich Gärtner war. Der Gärtnermeister, Manfred Stauffer, weichte ganze Schubkarren voll Schachtelhalmwedeln in Tonnen mit Regenwasser ein und ließ sie zu Jauche vergären. Diese Jauche stärkt in verdünnter Form die Widerstandskraft der Pflanzen, vor allem gegen Pilzerkrankungen. Auf der Oberfläche der Jauche bildete sich eine grobe, kristalline, kieselhaltige Schicht. »Zinnkraut steckt voller Kieselsäure, Silizium«, dozierte der Gärtnermeister, »wenn man die Pflanze verascht, bestehen bis zu siebzig Prozent der Rückstände aus reinem Silizium. Kiesel vermittelt Lichtkräfte; dank der Kieselsäure können die Lichtkräfte tiefer in die Pflanzenphysiologie eingreifen. Parasiten und Pilze mögen kein Sonnenlicht, daher kann der Schachtelhalm diese vertreiben.« Bei Stängel- oder Wurzelhalsfäule der jungen Keimlinge im Saatbeet, besprühte Stauffer die Pflänzchen mit einer Schachtelhalmabkochung, der er kurz nach dem Kochen noch eine Handvoll Kamillenblüten hinzugab. Das wirkte sofort.

Ein anderes Mal erklärte der Gärtnermeister: »Der Schachtelhalm ist eine Saturnpflanze. Saturn ist der äußerste, am weitesten entfernte sichtbare Wandelstern; er ist das Tor zum Fixsternhimmel. Er vermittelt die archetypischen Kräfte des Himmels. Dabei hilft ihm die Strahlkraft des Siliziums. Der entfernteste Planet des sichtbaren Makrokosmos wirkt in die tiefsten Schichten des Mikrokosmos – des Menschen – hinein, bis in die Knochen. Saturnpflanzen, wie auch der Beinwell oder der Vogelknöterich, sind Kieselpflanzen. Deswegen ist eine Abkochung von Schachtelhalm einer der besten Knochenheiler!«

Was der Gärtnermeister da erzählte, kam mir eher mystisch oder esoterisch vor. Aber eigentlich beruhten seine Aussagen auf den astrologisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen der Gelehrten der Renaissance. Diese hatten ein schlüssiges, phänomenologisches Erklärungsmodell, das sich auf die planetarischen Einflüsse und deren Signaturen bei den Pflanzen bezog. Mit diesem System konnten die damaligen Ärzte, Apotheker und Gärtner gut arbeiten.

Was die Knochenheilkraft des Ackerschachtelhalmsuds betrifft, habe ich im Laufe der Jahre viel Erfahrung sammeln können. Ohne Zweifel unterstützt die innerlich eingenommene Equisetum-Abkochung bei der Granulation und Wiederkalzifizierung gebrochener Knochen. Das wurde auch in klinischen Versuchen mit Ratten bestätigt.

Als meine Mutter, die in Illinois lebt, sechsundachtzig Jahre alt war, rief sie mich an und sagte, sie wäre hingefallen, hätte sich Speiche und Elle des Unterarms gebrochen und trage nun einen Gipsverband. Ob es da irgendein Kraut gebe, das die Heilung unterstützen könne? Da es in den USA praktisch unmöglich ist, Heilkräuter zu bekommen, schickte ich ihr eine Apothekerpackung Equisetum. Sie trank fleißig jeden Tag das Schachtelhalm-Dekokt, und als der Arzt den Gips abnahm und sie untersuchte, sagte er der alten Dame: »Das ist ja erstaunlich, wie gut und schnell die Fraktur verheilt ist – wie bei einem jungen Menschen!« Was sie dem Arzt nicht sagte, war, dass ihr der Schachtelhalm dabei geholfen hatte, denn Heilkräuter gelten in Amerika allgemein als entweder unwirksam oder gefährlich und giftig.

Auch bei Schleimbeutelentzündung kann Schachtelhalm helfen. Als wir im trüben, feuchtkalten Spätherbst auf unseren abgelegenen Berg zogen, war es absolut notwendig, für den Winter Holz zu sägen. Eine Motorsäge konnte ich mir damals nicht leisten, also arbeitete ich wie ein Wahnsinniger mit einer Schwedensäge und Axt. Nach einiger Zeit schwollen die Ellbogen schmerzhaft an, dann auch die Unterarme, und die Finger sahen aus wie Bockwürste. Aus war es mit Arbeiten. An einem der folgenden Tage wanderten wir ins Tal hinab, um bei einem Bauern etwas Milch für unser Kleinkind zu holen. Als mich die Bäuerin sah, rief sie aus: »Das isch Schleimbeutelentzündung, das hett mei Mann au g’hett. Er hat sogar im Krankenhaus dafür operiert werden müssen!« Nun hatte ich wenigstens einen Namen für das Leiden, war aber sonst nicht klüger. Was sollte ich tun? Als Erstes betet man, hofft auf Hilfe aus der geistigen Welt und dass einem die richtigen Eingebungen kommen. Heilkräuter hatten wir noch keine sammeln können, aber wir hatten einen Sack voll getrockneten Schachtelhalm. Wir machten heiße Umschläge mit dem Kraut, und nach einigen Tagen war die Schwellung weg und die Ellbogen wieder in Ordnung. Was ich damals noch nicht wusste, war, dass man bei Schleimbeutelentzündung üblicherweise Kaltpackungen zur Linderung anwendet.

In der Antike, etwa bei Dioskurides, dem Arzt und Kräuterkundigen des 1. Jahrhunderts, galt Equisetum vor allem als blutstillendes Mittel. Dass da etwas dran ist, habe ich öfter bei Schnittwunden erfahren, etwa als mich beim Sägen ein gezackter Fichtenast erwischte und mir einen Hautlappen vom Finger riss. Schachtelhalmabsud stillte die Blutung, und Schafgarbe und Spitzwegerich ließen die Wunde verheilen, ohne dass ich sie nähen lassen musste. Der Universalgelehrte Albertus Magnus erwähnt übrigens ebenfalls die blutstillende Wirkung des cauda equi (Pferdeschweif).

Auch als Milzmittel verwendete man das Kraut, da die Milz in der astrologischen Kräutermedizin dem Saturn zugeordnet ist. Der Gallier Marcellus Empiricus (4. Jh.), der ein Werk über die keltische Volksheilkunde hinterließ, nennt die herba hippuris (Equisetum) als Mittel für Milzkranke. Später ging das Wissen um diese Pflanze allmählich verloren. Für Hildegard von Bingen ist der Katzenzagel – so nennt sie den Schachtelhalm – kaum noch der Rede wert: »Er entsteht aus den schlechten Säften der Erde und vermittelt dem Menschen, der ihn isst, keine Kraft. Doch wenn ihn jemand auf solche Weise zubereitet, dass Fliegen von ihm kosten, dann tötet er sie mit seiner Schlaffheit und seinen üblen Säften.«

Es war Kräuterpfarrer Sebastian Kneipp, der diese alte Heilpflanze der Vergessenheit entriss. Er benutzte die Abkochung als Hilfsmittel bei der gefürchteten Lungenschwindsucht (Tuberkulose), an der er als Student selbst gelitten hatte. Die Kieselsäure hilft die Tuberkulose-Herde abzukapseln. Bei Gicht und Rheuma, setzte Kneipp den Zinnkraut-Tee – den Aufguss, nicht die Abkochung (Dekokt)! – als Mittel zur entschlackenden Durchspülung ein.

Auch für offene Beine und bei krebsigen Geschwüren soll, nach Kräuterpfarrer Kneipp, die Schachtelhalmabkochung helfen. Da könnte etwas dran sein. Sonnenlicht ist, wie der Physiker Hans-Peter Dürr zeigte, »die ordnende Kraft in lebenden Organismen«. Eine Funktion des Siliziums ist es, den Zellen Lichtenergie zu vermitteln; Lichtenergie wurde messbar gemacht durch die Photonen-Forschung des Physikers Fritz-Albert Popp. Im Vergleich zu gesunden Zellen enthalten Krebszellen wenig Silizium und wenig Lichtenergie (Photonen).

Neuere Studien zeigen, dass der harntreibende Schachtelhalm-Tee auch Aluminium aus dem Körper ausleiten kann. Das Leichtmetall wird normalerweise problemlos ausgeschieden, aber es ist häufig in Deodorantien, im Kochgeschirr, in Alufolie und – falls die sogenannten Verschwörungstheoretiker recht haben – in den Kondensstreifen (Chemtrails) von Flugzeugen enthalten. Aluminium in Nanodosierung kann Gedächtnis- und Sprachstörungen hervorrufen und könnte möglicherweise ein Faktor bei der Alzheimer-Demenz sein.

Nun will ich aber nicht weiter über die Heilkraft des Schachtelhalms sprechen, denn das tut die Autorin, die Ärztin Marianne Ruoff, eine kompetente und erfahrende Phytotherapeutin, in diesem Werk ausführlich für uns.

Ich bin sehr froh, dass sich Marianne Ruoff des Schachtelhalms angenommen hat, denn diese Pflanze ist ein wahrer Gigant, was seine Heilkraft betrifft. In Mitteleuropa verwendet man vor allem den Ackerschachtelhalm (Equisetum arvensis) als Heilmittel, alle anderen Schachtelhalmarten gelten als giftig. Zwar wusste ich aus der Literatur, dass die Indianer und Sibirier häufig auch den Winterschachtelhalm und andere Equisetum-Arten als Heilpflanze benutzten, aber was die Praxis betraf, hatte ich meine Vorbehalte. Diese Bedenken hat Marianne Ruoff mit ihrer gut recherchierten ausführlichen Arbeit zerstreuen können. Überhaupt hat sie mir diesen »pflanzlichen Verbündeten« in diesem Buch noch näher bringen können.

Wolf-Dieter Storl, Ethnobotaniker


ÜBERLEBENSKÜNSTLER AUS DER URZEIT


Sumpfschachtelhalme durchwachsen im Frühjahr das Eis.


Spielzeugnachbildungen von Panzerfischen, Naturhistorisches Museum Basel.

EINE ZEITREISE MIT UNVORSTELLBAREN DIMENSIONEN

Die Schachtelhalme führen auf dem Weg zu ihren Ursprüngen unwillkürlich auf eine Zeitreise, die spannender nicht sein könnte: Man gleitet hinein in Erdzeitalter mit sciencefictionartigem Charakter, Monsterelementen und klimatischen Zuständen, deren Dimensionen die Vorstellungskraft zu sprengen scheinen. Man zieht vorbei an Kontinenten, Tier- und Pflanzenwelten, die längst im Sog der Zeit verschwunden sind. Tief hinein geht es durch Eiszeiten und Heißzeiten, zu Urpflanzen und Urwesen aus weit zurückliegenden Epochen der Erdgeschichte. Zu riesigen Dinosauriern, denen die saftig-grünen Schachtelhalme während der gesamten Saurierära als Futterpflanze zur Verfügung standen.1 Doch noch einmal 160 Millionen Jahre weiter zurück als die Dinosaurierzeit, an einigen Erdkatastrophen und Szenen des Massensterbens vorbei hin zum Urmeer führt die Reise, bis man schließlich bei den Zeitgenossen der ersten Schachtelhalme landen. Das war ungefähr vor sagenhaften 419 Millionen Jahren, als die Erde fast ausschließlich von Wasserlebewesen bewohnt war.

Und schwups, taucht man ein in das warme Urmeer. Im türkisfarbenen Licht der Unterwasserwelt schwimmen Scharen seltsamer Fische, wogen riesenhafte bunte Blumentiere, Schwämme, Algen, Wasserpflanzen, Plankton und Kopffüßer gemeinsam im Takt der Wellen. Dieses pralle, vielgestaltige, bunte Leben findet sich auch am Meeresboden, wo unter anderem rätselhafte Gliederfüßer und Seeschnecken krabbeln und kriechen.

Forscher bezeichnen das Geburtszeitalter der Schachtelhalme als Zeitalter der Fische, so artenreich und zahlreich müssen diese Meeresbewohner damals gewesen sein. Markante Vertreter waren die bis zu zehn Meter langen Panzerfische (Placodermi), sie besaßen einen Kiefer und gehörten zu den Wirbeltieren. Ihr durch Knochenplatten geschützter Kopf und Rumpf wirkte wie eine Ritterrüstung. Sie schwammen in einer Vielfalt von mindestens hundert unterschiedlichen Arten im Urmeer. Manche davon müssen gefürchtete Jäger gewesen sein.

Auch bis zu zweieinhalb Meter lange Stachelhaie (Acanthodii), die den heutigen Haien ähnlich sahen und am Vorderrand ihrer Flossen einen stützenden und wohl auch wehrhaften spitzen Stachel besaßen, bevölkerten in großen Mengen und vielen Arten das Urmeer. Quastenflosser (Coelacanthiformes) dagegen besaßen mit Knochen und Muskeln versehene kräftige Brust- und Bauchflossen, die in ihrem Bau den Gliedmaßen von Landtieren sehr ähnlich waren. Ganz besonders ausgestattet waren die mit den Quastenflossern verwandten Lungenfische (Dipnoi), konnten sie doch sowohl im Wasser wie auch außerhalb davon atmen: Sie hatten Lungen und Kiemen. Ihre Erbsubstanz stand nach genetischen Forschungen den stammesgeschichtlichen Wurzeln aller Wirbeltiere nahe. Deshalb geht man heute davon aus, dass Lungenfische die Vorfahren der ersten landbewohnenden Wirbeltiere, der Säugetiere bis hin zum Menschen sein könnten.

Die Mannigfaltigkeit des damaligen Urmeers wurde geschmückt von einer Armada von bunt schillernden Kopffüßern, zu denen Ammoniten, Perlboote und Geradhörner gehörten. Dazwischen wuchsen vielgestaltige Wasserpflanzen, bunte Blumentiere wie Korallen, farbenfrohe Seeanemonen, zarte Seelilien und Schwämme. Plankton mit Algen und Kleinstlebewesen standen an der Basis der Nahrungspyramide. Der Boden war außerdem belebt durch bis zu zwei Meter lange Seeskorpione und dreilappige Trilobiten – das sind panzerbewehrte Gliederfüßer, deren Aussehen an Kellerasseln erinnert.

Mit zunächst ungefähr zweihundert Arten begannen in diesem Zeitalter die Ammoniten, sich weltweit massenhaft auszubreiten. Ammon war die griechisch-römische Bezeichnung für den ägyptischen Sonnengott Amun-Re, der mit Widderhörnern dargestellt wurde, die den spiralig gewundenen und ähnlich gerillten Ammoniten sehr ähneln. Sie entwickelten eine unglaubliche Vielfalt an wunderschönen Formen und zierlichen Oberflächenmustern aus Wülsten, gespaltenen und ungespaltenen Rippen, Rillen, dornigen oder knotigen Anhängseln und erreichten später Dimensionen von gigantischen 30 000 bis 40 000 Arten.

Manche waren nur einen Zentimeter groß, viele wurden größer, bis dreißig Zentimeter und mehr. Vermutlich gab es kleinere Ammonitenmännlein und größere Ammonitenweiblein. Wie heutige Muscheln und Schnecken besaßen sie ein schützendes Gehäuse mit schöner perlmuttschimmernder Oberfläche. In dieses Gehäuse zogen sie bei Gefahr die weichen Fangarme und den Kopf zurück. Ihr papageienähnlicher Schnabel konnte mit seiner Raspelzunge die Nahrung aus Plankton, Schneckenlarven und kleinen Krebstieren fein zerkleinern.

Hai-Fossil, Urweltmuseum, Holzmaden.


Versteinerte Ammoniten, links mit geschliffener Oberfläche, rechts mit erhalten gebliebener Perlmutteroberfläche.


Versteinerte, ca. 500 Millionen alte Trilobiten aus der Sammlung des Naturhistorischen Museums Bern.

Rekonstruktion eines Ammoniten, Urweltmuseum, Holzmaden.

Neben den Ammoniten gab es die mit ihnen verwandten Nautiloideen, mit geraden, hornförmig gebogenen bis zu spiraligen bunten und ebenfalls perlmuttschimmernden Gehäusen. Manche der mit insgesamt 900 Gattungen bezifferten Nautiloideen hatten die 70 Millionen Jahre zuvor auftretende Kaltzeit nicht überlebt, andere starben während des hier beschriebenen Erdzeitalters des Devon zunehmend aus, wieder andere vermehrten sich in späteren Zeitaltern massenhaft, wie die im Jura 200 Millionen Jahre später auftretenden Belemniten, deren versteinerte Gehäuse im Volksmund »Donnerkeile« genannt werden. All diese Lebewesen waren Zeitgenossen der ersten Schachtelhalme.

Es war eine Zeit, in der sich die Erde schneller drehte als heute, ein Tag dauerte nur zweiundzwanzig Stunden. Die Sonne schien nicht ganz so hell, und auch die Luft war anders: Sie enthielt einiges mehr an Kohlendioxid und nur etwa sechzehn Prozent Sauerstoff.2 Dieser Sauerstoffgehalt entspräche heutzutage dem einer dünnen Höhenluft auf 2600 Metern über dem Meeresspiegel. Dem Menschen hätte dies zu schaffen gemacht, doch es dauerte noch ungefähr 393 Millionen Jahre oder fast sieben Erdzeitalter, bis die ersten menschenartigen Wesen, die Hominiden, erschienen.

Im beginnenden Zeitalter des Devon, der Zeit der ersten Schachtelhalme, war es deutlich wärmer als heute, um durchschnittlich drei bis sechs Grad. 73 Millionen Jahre zuvor hatte ein nicht ganz geklärtes plötzliches Ereignis zu einem Massenaussterben von 85 Prozent der Lebewesen durch eine Eiszeit geführt. In den darauffolgenden Zeitaltern des Silur und nun auch im Devon waren die Temperaturen wieder gestiegen und die Eisschilder der Erde größtenteils geschmolzen. In den Lüften, den Wolken und den Gewässern zirkulierte eine viel größere Wassermenge, sodass die Meeresspiegel ungefähr 150 Meter höher standen als heute. Die Polkappen waren nur mit wenig Eis bedeckt.


Rekonstruktion eines Belemniten, Urweltmuseum, Holzmaden.

Die mehrheitlich gebirgsfreien Urkontinente von Laurussia, auch Euroamerika genannt, Siberia, China und Gondwanaland boten an ihren Ufern ausgedehnte Flachwassergebiete. Gondwanaland, der größte Urkontinent, lag am Südpol und besaß ein kleines polares Eiskäppchen. Der Name »Gondwana« stammt aus dem indogermanischen Sanskrit und bedeutet »Land der Gond«, eine Gruppe indischer Ureinwohner. Aus Gondwana entwickelte sich aber erst ungefähr 270 Millionen Jahre später Indien, Madagaskar, Afrika, Arabien, Südamerika, Neuguinea, Antarktika und Australien.

An Land gab es noch keine Tiere und nur ein paar wenige sehr einfach strukturierte Gefäßpflanzen – das sind Pflanzen, die wasser- und nährstofftransportierende Gefäße im Inneren besitzen, sie werden auch Urfarne genannt –, dazu vermutlich Moose. Doch das sollte sich nun ändern. Denn das Urprinzip des Lebens ließ wieder einmal etwas bislang nie Dagewesenes entstehen, um das vom Urmeer freigegebene jungfräuliche Land zu begrünen. Die Voraussetzungen waren dafür geradezu perfekt.

Obwohl noch so gut wie keine Landpflanzen existierten, hatten die im Urmeer üppig vorhandenen Algen und Wasserpflanzen über Millionen von Jahren langsam eine Zunahme des Luftsauerstoffs und die Ausbildung einer schützenden Ozonschicht bewirkt. Somit hatte sich die zuvor sehr starke und für Landbewohner schädliche UV-Einstrahlung auf der Erdoberfläche langsam so weit abgeschwächt, dass ein Leben an Land nun möglich wurde. Hinzu kam viel Platz, es gab riesige unbesiedelte Landstriche mit Flachwassergebieten. Zudem existierten keine Fressfeinde, denn bisher war tierisches Leben nur im Meer entwickelt. Warme Temperaturen und ausgiebige regelmäßige Regenfälle trugen ebenfalls zu besten Klimabedingungen bei.

Doch was noch viel wichtiger war: Die Pflanzenwelt benötigt große Mengen Kohlendioxid, um zusammen mit Licht und Wasser Substanz zu erzeugen, während nebenbei Sauerstoff entsteht. Das Kohlendioxid war in der damaligen Atmosphäre in riesigen Mengen vorhanden. Der CO2-Gehalt der Luft war fünfzehn Mal höher als heute und deutlich höher als im Urmeer. Auf Pflanzen wirkt dies als starker Wachstumsbeschleuniger, wie Forschungsergebnisse belegen.3 Auch in der heutigen Pflanzenzucht wird CO2-Begasung als Dünger angewendet. Für Pflanzen wäre der heute viel diskutierte CO2-Anstieg kein Grund zur Besorgnis, ganz im Gegenteil.

Sicher trugen diese äußerst vorteilhaften Klimabedingungen dazu bei, dass sich aus an Land gespülten Algen größere und komplexere Landpflanzen entwickeln konnten, die sich zunehmend rasch und bald in großen Massen vermehrten und eine neue Ära der Erdgeschichte begründeten: Die Schachtelhalme und Farne waren geboren.

Man vermutet heute, dass ihre Vorfahren und überhaupt die Ahnen aller Landpflanzen aus der Gruppe der Armleuchteralgen (Charales) abstammen, einer Grünalgenart.

Die Schachtelhalme jedenfalls begannen durch die Entwicklung wasserführender Gefäße, erstmals ein Leben außerhalb des Wassers möglich zu machen. Durch diese Neuentwicklung waren sie nicht mehr auf das Schwimmen im Wasser angewiesen, sondern konnten das lebensnotwendige Nass entlang der Pflanzenstängel auch vom Gewässer weg transportieren. Zusätzlich benutzten sie ähnlich manchen Algen ein ungewöhnliches Bauprinzip: Sie bauten kleinste Kieselkristalle in ihre Zellwände ein und erlangten so eine Festigkeit, die ihnen ein aufrechtes Wachstum an Land ermöglichte. Bis heute enthält außer Bambus keine andere Landpflanzenart so viel Kieselsäure wie sie. Auch in diesem Sinne (nicht nur aufgrund ihres Alters) kann man die Schachtelhalme als lebende Fossilien bezeichnen, sie haben sich wortwörtlich »versteinert«.

»Armleuchteralge, Chara horrida L. J. Wahlstedt), Biologische Station Hiddensee, Universität Greifswald.

Zunächst waren sie noch klein, später nur einen Meter hoch. Und wie auch die bereits etwas früher aufgetauchten Bärlapparten und die damit verwandten Farne verstreuten sie Sporen für die Vermehrung und Verbreitung mithilfe des Wassers und nun auch der Luft. Erst ungefähr 160 Millionen Jahre später entwickelten andere Pflanzen Blüten zur Vermehrung durch Insektenbestäubung. Doch auch Insekten entstanden erst am Ende des Devonzeitalters, über 50 Millionen Jahre nach den ersten Schachtelhalmen.

Die Befruchtung benötigte lediglich einen feuchten Untergrund, in dem die Sporen männliche und weibliche Vorkeime (Prothallien) bildeten. Aus den männlichen Prothallien schwärmten dann frei bewegliche, begeißelte Spermatozoiden aus und schwammen im Wasser zu den aus den weiblichen Vorkeimen gebildeten Eizellen, um diese zu befruchten. Hierfür boten die damaligen weit verbreiteten Flachwassergebiete und Sümpfe ideale Voraussetzungen.

Bis heute vermehren sich Schachtelhalme wie auch Farne und Bärlappe ganz unabhängig von Insekten nach diesem über vierhundert Millionen Jahre alten Muster. Vielleicht hat die Beibehaltung dieses uralten Prinzips zum Überleben so mancher Katastrophe beigetragen?

Ohne Konkurrenz oder Fressfeinde konnten sich Schachtelhalme, Farne und Bärlappe ungehindert ausbreiten und bildeten mit der Zeit ganze Urwälder. Auch ihre Größe erreichte gigantische Dimensionen, bis zu dreißig Meter hohe Schachtelhalme wurden in Ablagerungen des späteren Devon und Karbons gefunden.

Nach und nach bildete sich aus diesen Pflanzen verrottendes organisches Material am Boden, das wiederum als Dünger und Nährstoff für weitere Pflanzen und Tiere diente, sodass gegen Ende des Devon bereits Milben, Hundertfüßer, Tausendfüßer, Skorpione sowie Spinnen in diesem neuen Humus herumkrabbelten und die ersten Samenpflanzen entstanden waren.

Vielleicht hat dieser saftig grüne, üppige Urwald, der nun von den Ufern winkte, vom Wasser aus so unheimlich appetitlich ausgesehen, dass er einige Meeresbewohner dazu anspornte, den mühsamen Weg an Land auf sich zu nehmen. Jedenfalls kroch am Ende dieses markanten Zeitalters ein allererster Vierfüßer namens Ichthyostega an Land, der sechs Zehen oder Klauen besaß und sich wie eine Eidechse oder ein Krokodil fortbewegt haben muss. Er hinterließ Spuren, die sich durch Zufälle versteinerten und im heutigen Schottland gefunden wurden. Dennoch waren die Zeitgenossen der ersten Schachtelhalme an Land in ihrer Vielfalt noch spärlich, ganz im Gegensatz zum damaligen Leben im Wasser.

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