Gargoyles

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1. Auflage

Copyright© 2022 Gargoyles- Zwischen Engeln und Teufeln by Maria Spotlight Bennet & Toby Bellwether/ Alle Rechte vorbehalten

Impressum: E-Book/Print On Demand Vertrieb durch feiyr.com

Name des Selbstverlages: Storm&Ashes

Autor: Maria Spotlight Bennet/Toby Bellwether

Anschrift: Eschau 43, 77716 Fischerbach

Email: mariaspotlightbennet@gmail.com

Ebook ID: 20029893

ISBN: 9783986774332

Covergestaltung von Franziska Buhl

Illustrationen von pixabay.com

Wir sind die verlorenen Lichter in der Dunkelheit.

Aber wenn man uns lässt, scheinen wir heller als die Sonne.


Kampf auf Londons Straßen

Ein Regen aus Asche fiel auf die Straßen Londons. Graue Schleier rieselten in rhythmischen Abständen vom Himmel herab und überdeckten die gesamte Kulisse, trübten den Geist der Einwohner. Londons Straßen waren verflucht. Etwas Gefährliches schlich in ihnen umher, etwas, das nicht gesehen werden konnte. Und der Regen war nur ein Vorbote, dass der Fluch erneut zuschlagen sollte.

Ash saß auf der obersten Spitze des wieder erbauten Shard Wolkenkratzers und blickte hinab auf die Straßen. Die Fassade des Gebäudes, erbaut aus Dutzenden Glasfronten, weshalb das Shard auch Splitter genannt wird, fing die Lichter der Umgebung auf und ließ sie auf seinen glatten Oberflächen tanzen. Ashs violette Adleraugen waren wachsam, er konnte Lichtquellen unterhalb seines Standpunktes ausmachen; manche von ihnen bewegten sich, wiederum andere erloschen, kaum dass sie angegangen waren. Verglichen mit früher waren es weitaus weniger Lichtquellen, die dort unten tanzten, betrachtete man die Umstände, dass eine Weltmetropole wie London bei Nacht ein wahres Lichtermeer hervorzaubern konnte.

„Komm schon, wo steckst du?“, zischte Ash zwischen seinen schneeweißen Zähnen hervor. Er hielt Ausschau nach Derek, dem fliegenden Tod. Man nannte Derek nicht umsonst so. Er war bekannt dafür, seine Opfer noch im Flug zu töten und ihre leblosen Kadaver wie Müll auf die Erde fallen zu lassen. Fahles Mondlicht ergoss sich in einem Silberschein auf Ashs schwarzer Lederjacke. Eigentlich sollte unter seiner Kleidung ein Brustpanzer liegen, aber Ash hasste diese Dinger. Sie engten ihn im Kampf ein. Heute würde er sich wünschen, tatsächlich mal einen umgeschnallt zu haben. Denn bereits im nächsten Moment, als Ash sich sicher gewesen war, seinen Verfolger abgeschüttelt zu haben, spürte er einen heftigen Tritt in seinem Rücken. Und weil er sich an der obersten Spitze des Dachs festgekrallt hatte, verlor er umgehend den Halt und stürzte in die Tiefe. Er schrie nicht, kein letzter verzweifelter Versuch, die Welt unterhalb wissen zu lassen, er stürze ab, verließ seinen Rachen. Stattdessen breiteten sich Ashs Flügel im Sturz wie ein Rettungsschirm aus. Sie fingen ihn auf, gaben ihm sofortigen Auftrieb und Ash war unmittelbar kampfbereit. Sein Angreifer war dicht hinter ihm, dessen Flügel ihm wie ein Segelgleiter dienten und dafür sorgten, dass er im Sturz mit rasender Geschwindigkeit näher an Ash herankam. Derek packte seinen Gegner am Kragen, schlug ihm mit seiner eisenbehandschuhten Faust ins Gesicht, sodass Ashs Augenbraue aufplatzte. Er steckte den Schlag weg, als Wächter war er so einiges gewohnt. Sein Kopf neigte sich nach hinten, nur um dann mit geballter Kraft nach vorne zu schnellen und dem Angreifer eine Kopfnuss zu verpassen. Derek verlor den Halt an Ash, dieser nutzte den Moment und machte eine Schraubdrehung, ehe er auf die Straße geknallt und vor ein fahrendes Auto gefallen wäre. Ashs Erfahrung im Kampf kam ihm noch jedes Mal zugute. Er rauschte in eine dunkle Gasse hinein, wo er seine Flügel einzog und sich kurz darauf unter die Menschenansammlung mischte. Verdammt, Londons Straßen waren auch schon mal belebter, dachte er bei sich. Diese verfluchten Sterblichen und ihre atomaren Waffen! Na ja, für jetzt sollte es ausreichen, um ihn zu tarnen. Er zog sich die Stoffkapuze an seiner Lederjacke über und hoffte, irgendwie in der Menge unterzugehen. Schnellen Schrittes rannte er über die Straße, der Ascheregen hatte indessen nachgelassen. Sein Wunsch, sich unbemerkt davonschleichen zu können, wurde zunichtegemacht, als er einen hämmernden Schmerz an seiner linken Schulter spürte. Dieser Bastard von Derek hatte ihm einen Wurfspeer in den Rücken geworfen und Ash konnte nicht anders, als zu schreien. Der Schmerz in seiner Schulter betäubte ihn fast, sodass Ash zu torkeln begann und einen Passanten anrempelte, der, mit seinen vielen Tüten beladen, zu Boden ging. Gemüse und Obst kullerten heraus und verteilten sich in alle Richtungen, eine Milchtüte platzte auf und ergoss weiße Flüssigkeit. Ash griff nach hinten und zog den Speer aus seiner Wunde. Er ließ die Waffe klirrend zu Boden fallen und eilte weiter davon. Sein Angreifer bahnte sich ebenfalls durch die Menge, Derek war dabei rücksichtslos und wo immer ihm jemand im Weg stand, schubste er denjenigen achtlos zur Seite. Ash musste fort von hier. Ihm war klar, er konnte es heute nicht mit dem fliegenden Tod aufnehmen. Er hatte nur eine Chance, er musste zurück zur Westminster Abbey Church. Der Wächter ließ die verblüffte Menge hinter sich, von denen keiner eine Ahnung hatte, was um sie herum geschah und die allesamt mit schreckgeweiteten Augen und perplexen Gesichtsausdrücken auf dem Straßenzug standen. Ash duckte sich und schlängelte sich hindurch. Eine Weile kroch er am Boden entlang wie ein Hund. Er nutzte den kleinen Pulk Menschen als Tarnung, als er die wie dumme Schafe dreinblickenden Idioten passiert hatte, sprang er auf die Beine und rannte los. Sein Weg führte ihn in eine dunkle Gasse, wo wenigstens keine menschlichen Augen mehr auf ihn gerichtet waren, sein Verfolger es aber leichter hatte. Dampf stieg aus den Abflussdeckeln empor und bot Ash zumindest zeitweise einen minimalen Schutz. Zwischen den Mülltonnen bahnte er sich seinen Weg hindurch, stieß dabei ungeschickt gegen eine, die ihren gesamten Inhalt auf den Boden erbrach. Der fliegende Tod war dicht hinter ihm, das hörte Ash an den schweren Stiefeln, die mit drohender Geschwindigkeit hinter ihm wie ein herannahendes Bataillon über den Grund stampften. Als Ash um die Ecke bog, konnte er sie sehen, die Umrisse seines letzten Rettungsankers. Dann spürte er erneut einen höllischen Schmerz in seiner Schulter. Derek hatte ihn erreicht, hatte ihm seine Finger in die Stelle gebohrt, wo er ihn zuvor mit dem Speer gezeichnet hatte. Als Nächstes machte Ash die Bekanntschaft mit der Wand hinter ihm, mit dem Gesicht voran. Seine andere Augenbraue platze auch noch auf und er spürte Blut hinabtropfen. Verflucht, Westminster Abbey war so nahe, das konnte nicht sein Ende sein. Er wich der Faust des Wächters aus, die er wie ein Katapult auf sich zurasen kommen sah; sie schlug in die Mauer hinter ihm, zerbrochene Backsteine bröckelten hinab. Ash versuchte nun etwas, was er während seines Trainings öfters geprobt und verfeinert hatte. Es war auch bekannt als der Bruce Lee Kick und er landete einen Treffer im Gesicht des anderen. Seinen kurzen Vorteil nutzend, rannte Ash die Straße weiter aufwärts. Er war verwundet, das ließ ihn weniger schnell vorankommen und sein Angreifer war wieder nur wenige Meter von ihm entfernt. Jetzt konnte er schon die Umzäunung der Kirche sehen, konnte buchstäblich das Metall der Gitterstäbe auf seiner Zunge schmecken. Derek streckte seine Hand aus, um Ash noch im letzten Moment zu packen und ihn kurz vor dem Ziel zu erwischen. Obwohl es ihm widerstrebte und er kaum mehr Energie hatte, breitete Ash seine Flügel aus, nicht ohne erneut einen schlimmen Schmerz zu verspüren. Er schlug dem anderen Wächter mit seinem rechten unverwundeten Flügel ins Gesicht, woraufhin dieser nach hinten taumelte. Ash stieß sich vom Boden ab, vollzog zwei Flügelschläge und landete strauchelnd auf der sicheren Seite der Umzäunung. Er war in Sicherheit. Hinter ihm hoben sich die Zwillingstürme des Vordereingangs der Kirche wie zwei göttliche Statuen in der Finsternis ab. Der Wächter war noch immer da, funkelte ihm durch die Gitterstäbe entgegen und ließ seinen Unmut über sein Versagen ein Zeuge auf seinem Gesicht werden.

„Für dieses Mal magst du entkommen sein, Bürschchen, aber das nächste Mal wirst du nicht mehr so viel Glück haben. Und dann wird es mir ein Vergnügen sein, dir deinen Schädel einzuschlagen“, zischte Derek düster.

Ash ließ ihn hinter sich, er humpelte auf die Kirche zu. Noch einmal drehte er sich um, sein Verfolger war nach wie vor da und beobachtete ihn wie ein Löwe seine Beute. Das Mondlicht fiel auf dessen aschblondes, schulterlanges Haar und in seine Augen; es ließ sie wie Katzenaugen aufleuchten. Ash war diesem Brutalo entkommen, doch vielleicht hatte Derek recht. Das nächste Mal würde Ash sein Glück vielleicht verlassen. Und während er über seinen miserablen nächtlichen Streifzug nachdachte, setzte erneut ein Regen aus Asche ein.


Ash

Das Licht der Neonröhren durchflutete das Badezimmer und verlieh dem Raum eine sterile Atmosphäre. Warme Wassertropfen prasselten auf Ashs Körper nieder. Die einzige Gelegenheit Wasser in einem normalen Niederschlag zu spüren, war tatsächlich unter der Dusche. Ash wollte nur noch vergessen, aber sein schmerzender Rücken ließ das nicht zu. Er öffnete die Türen der Dusche, der heiße Dampf entwich und heftete sich sofort an den Badezimmerspiegel. Mit seiner rechten Hand wischte er über die gläserne Oberfläche und machte so sein Spiegelbild wieder sichtbar. Sein Gesicht war vom Kampf gezeichnet. Allerdings begannen die Wunden bereits zu heilen. Dennoch sah er wie nach einem Boxkampf aus und genauso elend fühlte er sich auch. Wie lange ging schon dieses Katz-und Mausspiel zwischen ihm und Derek, dem Wächter des gegnerischen Klans der Gargoyles? Diese Frage konnte er nicht beantworten, denn er und Derek hatten sich schon so oft bis aufs Blut bekämpft, dass er es nicht mehr zählen konnte. Ash befreite seine Flügel auf dem Rücken. Das Bad war sehr geräumig, andernfalls hätte er mit seinen mächtigen Schwingen viele Dinge umgestoßen. Sein linker Flügel wies an der Oberkante eine tiefe Verletzung auf. Es würde noch ein bis zwei Tage dauern, bis die Verwundung vollständig kuriert wäre. Ash betrachtete seine Flügel und sich selbst im Spiegel. Er stand nackt davor und wirkte wie ein von Gott gesandter Engel. Nur dass seine Schwingen keineswegs denen eines göttlichen Wesens glichen, wohl eher denen eines Dämons. Sie waren ledern, an ihren oberen Spitzen ragten gebogene Knochen wie die Hörner eines Teufels heraus. Ash konnte sich über sein Aussehen eigentlich nicht beklagen, denn er war ein bildschöner Mann. Sein Körper hatte die Perfektion erreicht, indem er prächtige Muskeln aufwies, gekrönt von einer nahezu makellosen Haut. Die vielen Wunden, die er sich schon zugezogen hatte, sei es im Kampf oder während des Trainings gewesen, hatten keine Narben hinterlassen. Eine beschleunigte und exzellente Heilungskraft wohnte den Gargoyles inne. Allerdings gab es kein Heilmittel gegen gebrochene Herzen oder einen zertrümmerten Schädel. Nach seinem Aussehen hätte sich so manch einer die Finger geleckt. Viele seines Volkes bewunderten ihn, das weibliche Geschlecht innerhalb seiner Reihen vergötterte ihn und seinen Körper. Aber die Flügel ruinierten in seinen Augen immer wieder das Gesamtbild. Es war, als hätte ein Künstler, dem bereits ein perfektes Bild gelungen war, es durch einen bestimmten Farbverlauf zerrüttet. Schuld daran war der Fluch, der dem Volke der Gargoyles auferlegt worden war. Ashs Blick wanderte auf die Uhr. Verdammt, schon so spät, dachte er. Geschwind zog er seine Flügel wieder ein, schlüpfte in neue Kleidung, und machte sich auf den Weg, dem Rat von seinem nächtlichen Streifzug zu berichten.

 

Der Krieg und seine Folgen

Schon einmal waren die Supermächte Russland und Amerika sich in der Vergangenheit nicht grün gewesen. Wer sich in der Geschichte auskennt, weiß, dass diese Zeit auch als Kalter Krieg bezeichnet wird. 1989 erklärte man diese Ära für beendet, aber der Russe konnte und wollte den Amerikanern nach wie vor nicht trauen. Die Welt hatte seither noch einiges mehr an Schrecklichem erlebt. Das Schlimmste sollte am 30. November 2030 stattfinden.

General Stanislav war mit einer wichtigen Mission vom russischen Präsidenten beauftragt worden. Er zitterte, als er den Umschlag durch die dunklen Gänge der ehemaligen militärischen Anlage GO-42 trug. Er befand sich unterhalb der Moskauer U-Bahn, der Station Taganskaja. Seit dem Kalten Krieg war diese zu einem Museum verkommen. Was niemand wusste, ein Teil von ihr war nach wie vor aktiv und dorthin würde der General den Befehl des Präsidenten liefern. General Stanislav, gekleidet in eine kakigrüne Uniform, an der all seine Abzeichen des Militärs hingen, strich wieder und wieder nervös über die Krempe seiner Mütze, und folgte den beiden Soldaten, die vorausgingen und ihm die Tür zum unterirdischen Bunker öffneten. Drinnen vernahm er das typische Geräusch der vielen Monitoren, wie sie klackerten, piepsten und diese für Maschinen typischen Töne von sich gaben. Die vielen Schaltknöpfe leuchteten blau, rot, grün und weißlich. Ihr Lichtspiel legte sich auf das Gesicht des Generals, als er sich dem leitenden Befehlsinhaber des Bunkers, der vor dem größten Monitor saß, näherte.

„У меня срочное сообщение от президента- Ich habe eine dringende Botschaft des Präsidenten“, sagte Stanislav kühl, fast schon zu abwesend für die eigentliche Angst, die er spürte. Er übergab den Umschlag an den obersten Leiter der militärischen Basis. Darin befand sich der Befehl zum Untergang der Welt. General Stanislav dachte an seine Familie, an seine Frau und seine Tochter. Er sah ihre lieblichen Gesichter vor sich, seine Tochter, wie sie Klavier spielte, seine Frau, die mit der blau-weißen Schürze in der Küche stand und Pelmeni kochte (das Rezept hatte sie von ihrer Großmutter, eine biestige Alte, die Stanislav nie hatte leiden können). Was sie wohl dazu sagen würden, könnten sie ihn jetzt sehen? Das spielte jetzt keine Rolle mehr, ebenso wenig, dass er nie wieder die köstlichen Gerichte seiner Frau essen könnte. Stanislav hatte seinem Präsidenten die Treue geschworen, auch wenn dies bedeutete, dass er soeben einen schwerwiegenden Fehler beging. Der Umschlag wurde geöffnet, die Botschaft vernommen. Neben der Schaltfläche mit den vielen Knöpfen war ein Kästchen, dessen Deckel nur mit einem Schlüssel aufgeschlossen werden konnte. Darunter befand sich ein großer roter Knopf. Der oberste Leiter zog einen Schlüsselbund von seiner Hose ab, öffnete den Deckel des Kästchens, tippte auf der Schaltfläche des Computers das Ziel ein und drückte dann den roten Knopf.

Die erste Bombe hatte Washington getroffen. Weitere Sprengkörper waren von beiden Seiten im Wechsel gestartet und hatten Großstädte wie New York, Kiew, Los Angeles, Moskau, Seattle und Berlin weitestgehend zerstört. Der Einsatz chemischer Waffen hatte einen Großteil der Erde unbewohnbar gemacht. Mitunter waren sechs Atombomben gezündet worden und ihre Strahlung hatte sich wie ein unsichtbarer Schleier auf den Globus gelegt. Um sich an Russland für den Beginn eines Krieges zu rächen, verfolgten die Amerikaner den General Stanislav und töteten ihn, seine Frau und seine Tochter. Aus dem einstigen Kalten Krieg war ein Superkrieg geworden, der mehr als die Hälfte der Erdbevölkerung auslöschte. Die Überlebenden waren fortan die Bewohner einer in Trümmer liegenden Welt. Ein letztes Bündnis aus den Mächten Englands, Deutschlands und Frankreichs beendeten schließlich nach zwei Jahren den Krieg und riefen zum Waffenstillstand aus, bevor die Erde gänzlich zerstört worden wäre. Ein Friedensvertrag wurde aufgesetzt und man einigte sich darauf, nie wieder eine atomare Waffe oder eine ähnliche zu zünden. Doch wie sollte das Leben weiter gehen, jetzt, da atomare Strahlung auf der Erdoberfläche die Herrschaft übernommen hatte? Unterirdische Bunker waren die Antwort gewesen. Für sehr lange Zeit war die Menschheit gezwungen gewesen, in unterirdischen Siedlungen zu hausen, um ihrem unsichtbaren Gegner, der Strahlung, zu entkommen. Ganze fünf Dekaden lang hatten sie sich in ihren untertage Bunkern versteckt gehalten. Erst als die Strahlungswerte gesunken waren, kamen die Menschen wieder über Tage und fingen an, ihre kaputten Städte aufzubauen, was ein weiteres Zeitfenster von fünfzig Jahren kostete. Die Trümmermenschen, wie sie sich nannten, arbeiteten Hand in Hand, vergaßen den Schrecken von einst und versuchten, ihrer zerstörten Vergangenheit neues Leben einzuhauchen, sofern es denn möglich war. Vieles konnte nicht mehr repariert werden, was hauptsächlich die Natur betraf. Denn die Strahlung strafte die Sünder, indem sie sich wie ein Gift in ihre Atmosphäre setzte und ihnen einen Ascheregen brachte. Kaum jemand aus der Neuen Welt konnte sich daran erinnern, wann es zuletzt richtig geregnet hatte. Obwohl sich die Population erholt hatte, ein Leben wie zuvor würde es nie wieder geben. Der Mississippi trocknete durch den ausfallenden Niederschlag komplett aus. Der Amazonas minderte seine Länge um mehr als die Hälfte und Tiere wie Elefanten, Löwen, Tiger und Bären waren ausradiert worden. Der Fischbestand hatte sich drastisch verschmälert, ganze Bienenvölker verschwanden, woraufhin die Bestäubung der Pflanzen ausblieb. Das Leben der Menschheit hing am seidenen Faden und trotzdem hatten sie es geschafft, zu überleben. Ein Wille, der nur bei den Stärksten vorhanden ist. Für jedes Problem gab es eine Lösung, außer für den Ascheregen, denn er würde erst enden, wenn ein weiterer Fluch gebrochen wäre.

Die Grimm und die Pearce

Ash ging es nach seiner heißen Dusche deutlich besser. Seine schwarze Lederjacke mit der Stoffkapuze war ruiniert. Verdammt, das war seine Lieblingsjacke gewesen und dieser elende Derek hatte sie zerrissen. Beim nächsten Mal müsste er sich, genau wie dieser Drecksack Derek in eine komplette Rüstung schmeißen. Dem Wächter graute davor, vor den Rat treten und seine Niederlage kundtun zu müssen. Wie viele des Pearce Klan hatte er schon getötet? Sechsundvierzig? Ja, das kam hin. Aber Derek, der wollte einfach nicht verrecken. Bereits zweimal war es Ash gelungen, den Pearce Sprössling stark zu verwunden, dass er hätte sterben müssen. Aber dieser Gargoyle war aus zähem Holz geschnitzt und ihm jedes Mal um Haaresbreite entkommen. Sein erbitterter Kampf mit Derek war eine Ehrensache, denn dieser war der Sohn des Anführers der Pearce. Und Ash war … na ja, er war vieles. Und genau deshalb wurde auch vieles von ihm verlangt.

Er schritt durch den unterirdischen Tunnel, seine violetten Augen konnten wie die einer Katze perfekt bei Dunkelheit sehen. Hier unten roch es modrig. Wem einmal der Keller durch einen Sturm überflutet worden war, der kannte den Geruch. Er stieg einem sofort in die Nase, kitzelte einen, trieb dort sein widerwärtiges Spiel. Und doch war der Geruch leichter zu ertragen als der von Scheiße oder Erbrochenem. Ash steuerte auf die große Holztür zu. Sie war mit vielen Schnitzereien verziert. Von oben nach unten trug sie zwölf Symbole, jedes davon repräsentierte ein Mitglied des Rates. Am oberen Ende stand das Zeichen, welches Ash am meisten fürchtete. Es zeigte eine Schlange, die einen Adler fraß und es war das Symbol seines Vaters. Viktor war das Klanoberhaupt der Grimm. Seine Regeln und seine Bestimmungen waren das oberste Gebot für alle. Ash legte seine Hand um den Türgriff und drückte zaghaft die Klinke nach unten. Drinnen wurde er bereits ungeduldig erwartet. Er betrat den Raum, der in seiner Aufmachung stark an ein römisches Auditorium erinnerte. Vier mit goldenen Blättern verzierte Säulen trugen das kuppelförmige Dach, welches pechschwarz und mit güldenen Sternen bemalt war. Stand man darunter, hatte man stets das Gefühl, in den Nachthimmel zu blicken. Die halbrunden Sitzbänke bildeten den hinteren Teil des Raumes. Dort, nach Rang und Stand geordnet, saßen die zwölf Ältesten der Grimm und blickten mit kalten Augen auf Ash hinab. Ashs Vater Viktor saß seinem Rang entsprechend ganz oben. Der Wächter trat in die Mitte. Sein Kopf war nach unten gerichtet, und genau als Ash im Mittelpunkt stand, schlug er seine Augen wieder auf und sah es, das Bild, welches auf den Verhörkreis gemalt worden war und das er zutiefst hasste, denn die Szene darauf war einer der Gründe, weshalb er hier war. Das Gemälde porträtierte in einem verblüffend echt wirkenden Akt seinen Vater Viktor und Orgun, der Ranghöchste der Pearce, die sich bis aufs Blut bekämpften, während um sie herum Waffen flogen, Äxte Schädel spalteten, ein regelrechtes Blutbad stattfand, weil aus einstigen Freunden erbitterte Feinde geworden waren. Auslöser dieser Misere war der Tod von Ashs Mutter gewesen. Die Grimm und die Pearce hatten einst friedlich miteinander koexistiert. Beide Klans der Gargoyles hatten sich ihr riesiges Reich geteilt, doch dann wurde Orgun habgierig und verlangte von Viktor, ihm seine Schätze auszuhändigen. Als dieser sich weigerte, entführten die Pearce Viktors Frau Lavendia und töteten sie. Seither befanden sich die beiden Klans im erbitterten Krieg gegeneinander. Was einst als Racheakt begonnen hatte, wurde schnell zum Territorialkrieg, denn beide Seiten kämpften seitdem ums Überleben und um die Stadt London.

Ash blickte auf, als einer der zwölf Ratsmitglieder sich räusperte. Balthasar, er saß zwei Ränge unter Ashs Vater, richtete das Wort an ihn. Der Gargoyle mit dem Gesicht wie das eines Uhus, mochte auf viele eher unscheinbar wirken. Spätestens, wenn seine tiefe Stimme durch die Hallen dröhnte, wusste man, er war nicht dezent, er war einschüchternd.

„Nun, Ash, wie lautet dein Bericht? Hast du Derek dieses Mal schlagen können?“

Ashs Antwort ging ihm nicht leicht über die Lippen, er schämte sich für sein erneutes Versagen.

„Tut mir leid, euch enttäuschen zu müssen. Aber Derek ist entkommen.“

Ein Murmeln schlich durch die Menge wie eine hungrige Raubkatze. Unbehagen setzte sich auf Ashs Schultern. Seine Augen wanderten zu dem Mann hin, der wie immer das letzte Wort hatte. Viktors elektrisierende blaue Sehwerkzeuge waren mit einer eisigen Kälte auf seinen Sohn gerichtet. Sein inzwischen ergrautes Haar war mit einem feuchten Gel in straffen Zügen nach hinten an seinen Kopf geglättet worden. So hatte er es bereits in jungen Jahren getragen, nur, dass es damals noch schwarz gewesen war.

 

„Er ist dir nicht entkommen, du bist geflohen“, spuckte der Anführer verächtlich aus, „glaube nicht, ich wüsste nicht um deine Lügen Bescheid. Diese Kirche und alles was sich darunter verbirgt ist mein Zuhause. Es spricht mit mir und ich weiß, dass du wieder über die Umzäunung gesprungen bist, um deine Haut zu retten. Du bist geflohen wie ein Feigling!“

Der Wächter ließ die Rüge seines Vaters über sich ergehen, jedes seiner Worte strafte seine Erfolge aus der Vergangenheit, von denen Viktor offensichtlich alle vergessen hatte oder sie nicht mehr beherzigen wollte. Ashs Augen wanderten nun zu dem Rang unterhalb seines Vaters. Von dort blickte ein smaragdgrünes Augenpaar auf ihn herab. Nicht gar so wutbrodelnd wie die seines Vaters, aber er konnte in ihnen auch keinerlei Willen sehen, dem jüngeren Bruder zur Hilfe zu kommen. Dean war dem Gesetz nach Viktors Thronfolger. Er würde in ein paar Jahren die Herrschaft übernehmen und konnte es innerlich kaum noch abwarten, bis er dieses Amt endlich tragen konnte. Allerdings war Viktor nach wie vor aktiv und er dachte im Traum nicht daran, abzudanken und seinen Sohn das Steuer zu übergeben.

„Vater, mein Misserfolg heute Nacht soll sicherlich nicht als eine Ausrede dienen. Aber Derek ist ein Hüne, er hat mich hinterrücks mit seinem Speer verletzt. Seinetwegen ist mein linker Flügel ramponiert und ich bin mal wieder mit einem Menschen kollidiert.“

„Die Menschen können uns nicht sehen, wie du weißt“, sagte Dean, seine Stimme klang schulmeisterlich „alles, was wir zurücklassen, ist Verwunderung.“

„Und der Glaube, dass London verflucht sei“, hielt Ash entgegen, „fast jeden Tag steht in irgendeiner Zeitung ein Bericht über einen Angriff aus dem Nichts. Die Menschen mögen uns vielleicht nicht sehen können, aber dafür können sie uns spüren.“

„Weshalb es umso wichtiger ist, dass wir den Krieg mit den Pearce beenden, indem wir sie vollständig vernichten. Nur so erlangen wir unsere Macht zurück und London wird dann uns gehören“, schmetterte Dean Ash entgegen.

Sein Bruder hatte bei seinem Rang leicht Reden. Als Wächter oblag die Aufgabe, den Vorderrungen des Rates nachzukommen, natürlich bei Ash und all den anderen, die diese Position innehatten. Und wie viele hatte er bereits durch den gegnerischen Klan verloren? Wie vielen hatte er schon beim Sterben zusehen müssen? Nicht zuletzt Elaine … er sah plötzlich ihr mit Blut verschmiertes Gesicht vor seinem geistigen Auge. Sah, wie der letzte Lebenshauch sie verließ und sie in seinen Armen starb. Die Frau, die er so sehr geliebt hatte. Und als er den Kummer hinunterschluckte, spürte er stattdessen etwas anderes in sich, blanker Zorn.

„Der Rat hält sich wie immer aus allem fein heraus, was Dean! Ihr könnt nur Befehle erteilen. Ihr, die ihr dort oben sitzt und spöttisch auf uns Wächter herabblickt. Aber keiner von euch hat eine Ahnung, was es bedeutet, tagtäglich sein Leben außerhalb der Sicherheitszone geben zu müssen."

DAS REICHT!“, donnerte Viktors Stimme und erzeugte ein Echo, das Gehorsamkeit aber keine Rebellion verlangte.

„Hüte deine Zunge, mein Junge. Ein jeder hier im Rat hat schon mal als Wächter gedient. Wir wissen, was für Aufgaben wir euch aufbürden und wir wissen ebenso, welche Verluste wir dabei in Kauf nehmen müssen. Es ist eine Ehre, als Wächter dienen zu dürfen. Wenn du eines Tages hier oben sitzen willst, dann solltest du härter trainieren und endlich deiner Pflicht nachkommen.“ Viktor lehnte sich zurück, seine kaltherzigen Augen waren weiterhin auf seinen Sohn gerichtet. „Bring uns Dereks Kopf, und wenn du es vermagst, dann bringst du Orguns Kopf gleich mit.“

Viktor schlug auf das Pult vor ihm, die Sitzung war beendet. Alle anwesenden Gargoyles enthüllten ihre Flügel und rauschten von ihren Sitzen hoch. Ash hörte das Schlagen ihrer Flügel, das wie ein Schwarm von Fledermäusen in einer untergehenden Sonne klang. Viktor hatte gesprochen und ihr blinder Gehorsam war das Fundament auf dem der Thron des Anführers stand. Noch nie hatte jemand gewagt, Viktors Befehle infrage zu stellen, Bedenken zu äußern oder gar zu rebellieren. In Ashs Augen waren diese Ratsmitglieder allesamt dekadente Säcke, die sich nur an ihren Reichtümern laben konnten und hofften, dass die Ratssitzungen nicht allzu lange dauerten. Die geflügelten Bestien flogen einer nach dem anderen an Ash vorbei und verließen den Saal. Im letzten Rauschen, das der Wächter an sich vorbeiziehen spürte, streifte ihn seines Vaters Verachtung und die Gleichgültigkeit seines Bruders. Ash blieb alleine zurück. Sein Blick war auf den Boden gerichtet, auf das Gemälde in der Mitte. Das hätte er nicht sagen dürfen, verdammt, wieso konnte er sein vorlautes Mundwerk nicht halten? Sein Vater hatte so vieles für die Grimm getan. Aber auch ihm war es nie gelungen, Orgun zu vernichten. Er hatte ihm im Kampf ein Auge ausgeschlagen, aber seinen Kopf hatte Viktor nie als Trophäe mit nach Hause bringen können. Wieso also verlangte er es jetzt von Ash, wenn er wusste, mit welchen Waffen Orgun zu kämpfen pflegte? Der Wächter ließ den Ratsaal hinter sich. Er ging in die Bibliothek, wohin er sich gerne flüchtete, wenn er alleine sein wollte, denn in diesen Teil ihres unterirdischen Reiches kamen nur die wenigsten und jene, die überhaupt antanzten, schenkten ihm keine Beachtung, worauf er abzielte. Zwischen zwei Meter hohen dunklen Eichenschränken, die außer etlichen Schriftstücken der Zeit noch zentimeterdicken Staub beinhalteten, verkroch er sich; er fühlte sich bei dem schummrigen Licht an den Wänden wohl und dem Geruch des in Leder gebundenen Papiers. Ein Schriftstück hatte es Ash schon in seiner Kindheit angetan. Die Geschichte der Gargoyles. Der Legende nach waren die Gargoyles verflucht worden, niemals von einem Menschen gesehen werden zu können. Stellenweise war Ash dankbar dafür, immerhin war er so was wie ein Engel, nur mit den Flügeln eines Teufels. Auch das war ein Teil ihres Fluchs. Ash ging zu dem Buch, welches er immerzu aufschlug, wenn er nach hier unten kam. Es lag ordentlich wie immer aber geschlossen auf dem kleinen Altar in der Mitte des Raumes und bildete quasi eine Art Heiligtum, das die Augen beim Hereingehen auf sich lenkte, während die anderen Bücher aus Frust, nicht beachtet zu werden, vor sich hinseufzten. Seine Finger blätterten zu der Seite, an der die Geschichte der Grimm und der Pearce aufgeschrieben worden war. Wie hatte es nur so weit kommen können? Immerhin waren sie vom selben Schlag. Warum also Krieg führen? Wegen Habsucht? Hätte Viktor lieber seine Schätze hergegeben, dann würde Ashs Mutter Lavendia noch leben und keiner müsste leiden. Wieder spürte der Gargoyle Zorn in seiner Brust. Nur ein einziges Mal möchte er von seinem Vater gelobt werden. Möchte anerkannt werden für seine Taten. Er opferte viel, um den Klan der Grimm vor feindlichen Angriffen zu schützen. Ja, und sogar Derek, er kannte diesen Bastard seit seiner Kindheit, hatte viele Stunden mit ihm verbracht. Derek war älter als Ash, er hatte ihm vieles beigebracht, weshalb es den beiden wohl schwer viel, sich gegenseitig zu töten. Und Orgun, er hatte mit Viktor gelacht, hatte Brot und Wein mit ihm geteilt. Doch dann waren aus Freunden plötzlich Feinde geworden. Was als gemeinsames Schicksal begonnen hatte, war durch das Streben nach mehr Reichtum geopfert worden wie ein Lamm in einem heidnischen Ritual. Mehr als zweihundert Jahre waren seit der Ermordung seiner Mutter vergangen und Ash konnte nur auf ein Leben in Dunkelheit zurückblicken. Krieg und Zerstörung begleiteten ihn seither wie zwei Wachhunde und würden ihn immer daran erinnern, welchen Rang er innerhalb des Klans hatte. Er und Derek waren in ihrer Jugend beide zu Wächtern ausgebildet worden. Der einstige Grundgedanke hinter diesem Posten war simpel gewesen. Als Wächter hatte man dafür zu sorgen, dass die Menschen den Gebieten der Gargoyles nicht zu nahe kamen. Die erste Legion an Wächtern hatte goldene Rüstungen getragen, die von dunkelblauen Ornamenten gekrönt waren. Ihre Helme mit den schmalen Sehschlitzen boten schon damals optimalen Schutz für den sensiblen Kopfbereich. Diese Rüstungen verrotteten inzwischen in den Kellergewölben des Grimmklans. Ihre Kampftechniken hatten sich ebenfalls weiterentwickelt. Zumeist bewaffnet bis an die Zähne, kämpften die Wächter inzwischen nicht mehr dafür, von den Menschen in Ruhe gelassen zu werden, sondern sorgten dafür, dass die Zahl des gegnerischen Klans immer weiter schrumpfte. Es war eine Blutfehde, deren Schrecken nicht enden wollte und die indessen viele Gesichter angenommen hatte. Ashs sowie Dereks Aufgabe lag demnach darin, Ausschau nach dem Feind zu halten, ihn kalt zu machen und weitere Gebiete Londons zurückzufordern. Denn nach Lavendias Tod hatten die beiden Klans sich innerhalb der Stadt in alle Richtungen verteilt. Manche Verstecke waren bekannt, wiederum andere galt es noch zu entdecken. Das war der Punkt, an dem die Wächter ins Spiel kamen, denn der Krieg zwischen den Grimm und den Pearce war auch ein Territorialkrieg. Erst letzten Monat hatten Ash und sein Team einen kleinen, stillgelegten U-Bahn Schacht von den Pearce befreien können. Doch vier Wochen zuvor hatten sie ihren Außenposten unterhalb des Museums of Art verloren. Und vor neun Jahren da war es geschehen. Ash spürte wieder die Kälte in seinem Herzen aufkommen, den Kummer, der ihn drohte zu zerbrechen. Elaine. Jeder Buchstabe in ihrem Namen schmerzte ihn so sehr. Er hatte sie geliebt, doch dann war sie in seinen Armen gestorben. Der Trupp der Wächter hatte den Pearce eine Falle gestellt, die sich gegen sie gewandt hatte. Und wieder sah Ash ihren sterbenden Körper vor seinem geistigen Auge. Er blätterte schnell weiter, um sich abzulenken und kam zu den beiden fehlenden Seiten. Jemand klappte ihm das Buch vor der Nase zu; es war Dean.