Katharina hat’s gut!

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Katharina hat’s gut!
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Kurzvita:

Margot H. Weiß, geboren 1943 in Torgau/Elbe,

wohnhaft in Torgau, Ortsteil Weßnig

Erzieherin, jetzt Rentnerin

1970 – 1973 Fernstudium am Literaturinstitut Leipzig

Freie Autorin im Kindergartenfachverlag Bingen

1973 Bilderbuch „Sieben bunte Blumentöpfe“ Kinderbuchverlag Berlin

Erzählung „Des Singens nicht müde noch satt werden“ über den Kantor Johann Walter

Erzählung „Saloma“ (Zwangsarbeiter in Deutschland), Langlhofer Verlag 2008

„Was ist nur mit Lukas los“ Engelsdorfer Verlag 2012

Margot H. Weiß

KATHARINA HAT’S GUT!

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2017

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2017) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei der Autorin

Titelbild © cometcat (FOTOLIA)

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Kurzvita

Titel

Impressum

Der schönste Monat

Ein Frosch

Das Mädchen am Löwendenkmal

Nellis Oma lädt ein

Robbi unterstützt seinen Freund Marcus

Die ersten Fotos

Ein Freundschaftsband für Katharina

Nellis Mutter muss zur Weiterbildung

Was für ein wundervoller Vater

Verhexte Mathematik

Fahrt in den Zoo

Die Bienen schwärmen

Der Hausbesuch

Katharina erzählt vom Zoo

Honig schleudern

Ein rotes Mountainbike

Die Kaugummibande

Der schönste Monat

Nelli fand, dass der Mai der schönste Monat im Jahr ist. Im Garten blühten die Obstbäume und lockten mit ihrem zarten Rosa und dem leichten Duft die Bienen. Wenn Nelli ganz still war, konnte sie das beruhigende leise Summen der Bienen hören. Zufrieden beflogen sie die farbige Pracht und schlürften mit ihren winzigen Rüsselchen den süßen Nektar vom Blütengrund. Dabei kletterten sie geschickt über die Staubwedel der Blüten, die sich in den verschiedensten Gelbtönen zeigten. Die pelzigen Oberbeinchen der Bienen sahen dann bald wie gepudert aus. Einen Teil des Blütenstaubs verloren sie wieder in den Blüten und Nelli wusste, damit wurden die Blüten bestäubt und es konnten sich dadurch Früchte bilden. Wenn aber der Blütenstaub dick an den Beinchen klebte, sagte Nellis Vater erfreut: „Schau mal, Nelli, was sie für dicke Höschen tragen.“

Imker sprechen so. Nellis Vater war Imker. Aber nur in seiner Freizeit. Zehn Bienenvölker waren sein Hobby. Dafür hatte er extra eigenhändig ein Bienenhaus im Garten gebaut. Wahrscheinlich kauften die Eltern deshalb auch vor Jahren das Eigenheim hier im Dorf, damit sich der Vater seinen Lebenstraum erfüllen konnte, Bienen anzuschaffen. Als Lehrer am beruflichen Gymnasium hätte er es ja bequemer in der Stadt gehabt, brauchte nicht täglich mit dem Auto zu fahren. Nelli und ihr großer Bruder Robbi müssten nicht mit dem Bus zur Schule und zu Veranstaltungen und Nellis Mutti hätte als Kindergärtnerin auch dort Arbeit gehabt. Aber wo soll man in einer Stadtwohnung Bienen halten? Etwa auf dem Balkon? Das wäre wohl keine angenehme Nachbarschaft für die Mitbewohner.

Das Dorf, in welches sie zogen, war klein, es hatte nur hundertdreißig Einwohner, keinen Handwerksbetrieb und keinen Kaufladen. Früher gab es mal einen Konsum, aber als die DDR aufgelöst wurde, schossen die großen Einkaufsmärkte wie Pilze aus dem Boden. Waren gab es ja nun plötzlich in Massen. Die kleinen Läden mit ihren geringen und dementsprechend teuren Angeboten hatten nicht mehr genügend Umsatz und mussten schließen. Für die alten alleinstehenden Bewohner, die kein Auto besaßen, um zur nächsten Einkaufsgelegenheit zu fahren, übernahm die Gaststätte des Dorfes die Versorgung mit dem Wichtigsten. Die Gaststätte war geblieben, aber der Wirt musste viele neue Aufgaben übernehmen, um überleben zu können. Da war der kleine Verkauf, und vom Herbst bis zum Frühling kam einmal in der Woche ein guter Fleischer, der ein halbes Schwein vom Schlachthof zu würziger Wurst und anderen Delikatessen verarbeitete, was die Leute aus den fernsten Orten herbeilockte. Es war Nellis Aufgabe, jeden Freitag leckere frische Fleischwaren, die Mutti auf einem Zettel notiert hatte, zu holen. Nelli machte das sehr gern, nicht nur, weil sie die Düfte der Gewürze so mochte, die in der Luft des Schlachtraumes hingen, sondern auch, weil sie das zurückbekommene Hartgeld in ihre Sparbüchse stecken durfte.

Herrlich gelegen am Park, dessen Unterholz sich im Frühjahr mit einer schneeweißen Decke aus unzähligen Buschwindröschen schmückte, und einem gemütlichen kleinen Teich, stand die Grundschule, die vor dem zweiten Weltkrieg ein Rittergut war. Im Kindergarten in der Nähe wohnte einst der Gärtner des Gutes. Ein Glück für die jüngeren Kinder der umliegenden Orte, in dieser ruhigen grünen Umgebung lernen zu können. Von der Gaststätte wurde mittags gutes Essen geliefert, sodass für die Kinder berufstätiger Eltern kein Problem bestand, nach der Schule den Hort zu besuchen. Gleich neben dem Rittergutsgebäude stand die Kirche, denn der Rittergutsbesitzer war in der Vergangenheit stets der Patron der Kirche. Viel zu groß war die Kirche für das kleine Dorf und einige umliegende Ortschaften und nur am Heiligen Abend waren alle Bänke des Kirchenschiffes besetzt. Vor hunderten von Jahren jedoch gehörte diese Kirche einem Zisterzienserkloster und war eine Mutterkirche über heutige große Orte, die selbst Gotteshäuser besaßen. Nelli und ihre Familie hatten es noch nie bereut, in dieses Dorf gezogen zu sein. Sie fühlten sich hier wohl und Nellis Vater konnte endlich seinen Traum erfüllen, Bienen zu halten und ein Hobbyimker zu sein.

„Bienen sind wichtig für das ökologische Gleichgewicht“, betonte er oft.

Nelli wusste, dass er damit meinte, die Obstbäume zum Beispiel würden ohne die Bestäubung der fleißigen Bienen nur wenige Früchte tragen. Es sah wirklich aus, als hätten sich die Bienen nach den Blütenbesuchen Pollenhöschen angezogen, aber keine langen, sondern lustig wirkende farbige Pumphöschen, als wollten sie zu einer Faschingsveranstaltung, fand Nelli, wenn sie die Bienen beobachtete. Je nach Blütenbesuch trugen sie schwefelgelbe, blassgelbe, braungelbe, weißgelbe, zitronengelbe, orangegelbe und sogar bläuliche Höschen. Der Vater hatte Nelli erklärt, dass diese blauen Höschen vom Besuch eines Phaceliafeldes stammen. Diese Pflanze ist für die Gründüngung wichtig. Mohn schenkt den Bienen sogar schwarze Höschen und der Löwenzahn rotgelbe. Das hatte Nelli selbst schon gesehen. Mit diesem Pollen werden die Larven und Jungbienen gefüttert und ein Teil auch als Wintervorrat in den Waben des Bienenstocks eingelagert.

Zwischen dem leisen Summen der Bienen war das tiefe Brummen der Hummeln zu hören, die es scheinbar immer eilig haben. Sie lieben es wohl, von einer Blüte nur ein wenig zu naschen und schon sind sie an der nächsten. Als Nelli klein war und noch nicht in den Kindergarten ging, nervte sie manchmal die Großeltern, wenn sie das Spielzeug ständig wechselte. Kaum hatte sie die Puppe in den Puppenwagen gelegt, holte sie diese schon wieder heraus, dann wollte sie ein Bilderbuch, dann wieder die Puppe. Nur ein paar Minuten konnte sie still sitzen.

„Ach Nelli, was bist du nur für eine wilde Hummel“, klagte die Großmutter manchmal seufzend.

Ihre Wildheit konnte Nelli jetzt nicht mehr verstehen; sie war ein sehr ruhiges, zufriedenes Mädchen geworden. Vielleicht sogar ein wenig zu ruhig, denn in ihren Zeugnissen stand stets in der Beurteilung ihres Verhaltens: Nelli sollte in der Mitarbeit mehr Aktivität zeigen. Sie muss mehr aus sich herausgehen.

 

Nelli konnte damit nicht viel anfangen. Ja, gut, sie meldete sich nicht oft, dachte manchmal, die Antwort könnte falsch sein, und dann ließ sie lieber den Finger unten. Sie ärgerte sich zwar immer sehr, wenn sie es doch richtig gewusst hatte, aber das half ihr auch nicht, sich nun öfter zu melden. Wie man jedoch mehr aus sich herausgehen soll, war ihr nicht klar.

Aber was mit wilder Hummel gemeint ist, wusste sie jetzt. ‚Dabei denkt man immer, die dicken Hummeln sind behäbig‘, dachte Nelli.

Nicht nur die Blüten, die Düfte und das Summen fand Nelli im Mai so schön, sie sah auch gern dem schwarzen Amselmann zu, der auf der Walnussbaumspitze mit wahrer Inbrunst sein Lied flötete. Nelli wunderte sich immer wieder, wie aus dem kleinen gelben Schnabel solche herrlichen Töne fließen konnten.

„Ich bin gespannt, wo die Amseln in diesem Jahr nisten werden“, sagte Nellis Mutti.

Im vorigen Jahr hatten sie ein Nest unter dem Dach an der Werkstatt gebaut, aber ein Marder fand es und fraß die Eier. Nelli war so traurig darüber, dass sie weinte, als sie das zerstörte Nest und die herumliegenden Eierschalen entdeckte. Romina, ihre schwarze Katze, hatte es nicht sein können, die konnte weder so hoch springen, noch an der glatten Holzwand hinaufklettern. Das war Marderarbeit. Diese Räuber zwängten sich mit ihrem schlanken Körper durch die engsten Öffnungen im Dach.

Eines Tages, als Nelli von der Schule nach Hause kam, war die Treppe am Hauseingang recht unordentlich. Gras lag herum und ein bisschen Moos.

„Wie sieht es denn hier aus?“ Nelli schüttelte verwundert den Kopf und holte Schippe und Feger.

Als Nellis Mutti am späten Nachmittag von der Arbeit kam, war die Treppe jedoch schon wieder unordentlich.

„Nelli“, rief sie, „bastelst du etwas für die Schule?“

„Nein, wie kommst du darauf?“

„Ich dachte nur, weil auf der Treppe allerhand verstreut liegt.“

„Das kann doch nicht sein, ich habe die Treppe heute schon einmal gefegt.“

Nelli kam zur Treppe und sah erstaunt die erneute Liederlichkeit. Doch als sie nach oben schauten, entdeckten sie auf dem Brett über der Eingangstür ein Nest. Vor einigen Jahren hatte Nellis Vater für die Schwalben dieses Brett angebracht, die erfolglos versuchten, mit Lehmklümpchen ihr Lehmnest an der steilen Wand anzukleben. Einige Male bauten sie dann werfend ihr Nest über der Haustür und brüteten dort zur großen Freude der ganzen Familie.

„Schwalben bringen Glück“, sagte Nellis Oma.

Aber seit zwei Jahren ließ sich keine Schwalbe mehr blicken. Auch im Dorf sah man nur selten eine Schwalbe in Bodennähe segeln, bevor es regnet.

„Zu diesem Zeitpunkt fliegen die Mücken sehr tief“, erklärte Nellis Vater, als sie ihn einmal fragte, warum man die Schwalben auch Regenboten nennt. Nun war auch das fröhliche Zwitschern verschwunden, was Nelli immer so gern mochte. Sie glaubte stets ganz genau zu hören, dass sich die Schwälbchen unterhielten, natürlich in ihrer Schwalbensprache: „Wittwittwitt, wollen wir uns hier ein Nest bauen?“

„Ja, hier ist es gut, bauen wir ein Nest für unsere Kleinen, wittwittwitt.“

„Es liegt sicher daran, dass es keine Ställe mehr im Dorf gibt“, meinte Nellis Vater. „Ich kenne niemanden hier, der noch Kühe oder Schweine züchtet. Sogar Geflügel hat fast keiner mehr, seit es diese Vogelgrippe gibt und die Tiere während des Fluges der Wildvögel den Stall nicht verlassen dürfen. Oder hört ihr noch morgens einen Hahn krähen?“

Nelli schüttelte den Kopf. Jetzt, wo es der Vater sagte, wurde ihr bewusst, dass sie schon eine Ewigkeit keinen Hahn mehr krähen hörte. Er hatte gewiss Recht. Schwalben brauchen warme Ställe, wo sich die Mücken und Fliegen wohlfühlen, aber diese waren in den letzten Jahren verschwunden. Nur außerhalb des Dorfes gab es die großen Rinderställe eines privaten Bauern, der auch gleichzeitig eine Molkerei betrieb, in der Nellis Eltern am Wochenende Milch, Joghurt und verschiedene Arten von Käse kauften. Nelli fuhr gern mit. Sie durfte sich dann ihren Joghurt selbst aussuchen. Meistens nahm sie den mit Heidelbeergeschmack, weil darin richtige Heidelbeeren waren, so viel, dass man davon eine blaue Zunge bekam.

‚Schade um die hübschen Schwalben‘, dachte Nelli.

Aber nun brüteten über dem Eingang wieder Vögel, jedoch Amseln oder Schwalben waren es nicht. Als Nelli mit der Mutter eine Weile an der Treppe stand, kam ein Rotschwänzchen geflogen, setzte sich mutig vor den Treppenansatz, wippte erregt mit dem roten Schwanz und schien die großen Menschen mit seinem Tetetetet verjagen zu wollen. Oder schimpfte das kleine Vögelchen? Dann kam ein zweites, etwas dunkler in der Färbung des Gefieders und ließ ebenfalls ein erregtes Tetetet gegen diese riesigen Wesen da auf der Treppe ertönen. „Komm, lasst uns verschwinden“, sagte Nellis Mutter lächelnd, „damit sie weiterbauen können.“ Schnell schlossen sie die Tür hinter sich.

Nelli fühlte sich glücklich. „Ich bin so froh, dass die Rotschwänzchen bei uns bauen. Hoffentlich tut Romina ihnen nichts.“

„Das Nest ist katzensicher“, meinte der Vater. „Gefährlich kann es nur werden, wenn die Kleinen später fliegen lernen. Aber bei diesen mutigen Vogeleltern ist mir da auch nicht bange.“ Sein Blick aus den braunen Augen hinter der goldumrandeten schmalen Brille war offen und beruhigend. Nelli mochte ihren Vater sehr, und sie glaubte ihm.

Ein Frosch

Als Nelli im Morgengrauen von diesem Froschquaken geweckt wurde, dachte sie im ersten Moment, sie sei in der Stadt bei Oma. In der Nähe des alten Mietshauses, in dem Oma wohnt, fließt ein Graben vorbei, der die Vorstadt von einem wunderschönen Park trennt. Dieser Graben beherbergt nicht nur viele Fische, auch die Frösche fühlen sich dort recht wohl.

In den Frühlingsmonaten veranstalten sie jeden Abend die schönsten Froschkonzerte, findet Nelli. Wenn sie mal bei Oma schlafen durfte, öffnete sie das Fenster weit, um diesem eigenartigen Liebesgesang der Froschmännchen zu lauschen. Die Anstrengungen der kleinen Quaker erfreuten sie und sie konnte stets gut einschlafen. Das schien nicht bei jedem Menschen so zu sein. Tante Inge, die Schwester von Nellis Mutter, fand dieses Gequake nervtötend, und wenn sie zu Besuch kam, blieb das Fenster geschlossen, egal, welche Temperatur herrschte.

„Lieber ersticken, als dieses fürchterliche Gequake anhören zu müssen. Das ist ja nicht zum Aushalten“, zeterte sie.

„Dagegen ist das Straßenbahngequietsche das reinste Ohrenvergnügen“, frotzelte Robbi, als Nelli ihrem Bruder von Tante Inges Ärger erzählte.

„Besonders wenn man frühmorgens auf diese wundersame Weise aus dem Schlaf gerissen wird“, und er tippte sich mehrmals vielsagend an die Stirn. Tante Inge wohnt nämlich in Berlin direkt in der Nähe einer Straßenbahnhaltestelle. Ja, so unterschiedlich kann man sich an etwas gewöhnen.

Nellis Oma und alle Bewohner an diesem Graben müssen zwar über Brücken gehen, um in den Park oder die Stadtmitte zu gelangen, aber sie werden dafür mit einer herrlichen Aussicht auf jahrhundertealte majestätische Bäume entschädigt. Als chamäleonartiger Gürtel, je nach Jahreszeit seine Farbe wechselnd, schlingt sich der Park um die kleine Stadt. Einst, als der französische Kaiser Napoleon I. mit seinem Heer nach Russland ziehen wollte, musste der sächsische König Friedrich August, der mit ihm verbündet war, diese Stadt zu einer Festung ausbauen lassen. 1810 begann der Festungsbau, nachdem Kaiser Napoleon selbst die Pläne der Festungsbaumeister studiert hatte und damit zufrieden war. Bis 1813 wurde an der Festung gebaut. „Und sie wurde eine der bedeutendsten Festungen der damaligen Zeit“, erzählte Robbi einmal beim Abendbrot, nachdem er sich fasziniert mit der interessanten Geschichte der kleinen Stadt beschäftigt hatte. „In Deutschland war sie damals die modernste Festung überhaupt.“

„Dass eine Festung modern sein soll, kann ich mir gar nicht vorstellen“, meinte Nelli überlegend. „Da wurde doch sicher eine große Mauer um die Stadt gebaut und fertig.“

Der Bruder schüttelte den Kopf und lächelte ein wenig überlegen. Auch der Vater amüsierte sich über die Worte seiner Tochter, aber er sagte nichts dazu. Ihn interessierte, was sein Sohn über diese Zeit wusste.

„So einfach hat man sich das nicht gemacht, Nelli. Natürlich gehören Festungsmauern dazu, aber die hatten verschiedene Tore mit Zugbrücken, die über den Festungsgraben gingen, Bunker wurden gebaut, Erdwälle angelegt, die Elbbrücken mit einem Brückenkopf versehen. Tausende Schanzarbeiter und Soldaten hatten Jahre zu tun.“ Robbi unterbrach seinen Vortrag und biss in sein Schinkenbrot.

Der Vater legte das Besteck zur Seite und meinte: „Wenn ich mich recht erinnere, so las ich einmal, dass 180 Gebäude dem Festungsbau weichen mussten, die ganze damalige Vorstadt. Das waren meistens Bürgerhäuser, aber auch die mittelalterlichen Tore der Stadt, ein Waisenhaus, zwei Kirchen und ein Lazarett wurden abgerissen. Da gab es kein Schonen.“

„Wie viel Leid ist schon dadurch entstanden“, warf die Mutter leise ein. „Und sollte nicht sogar das Schloss weichen?“

„Das hat der sächsische König verhindert“, meldete sich wieder Robbi zu Wort. „Aber noch etwas sehr Wichtiges hatte ich vergessen.“ Robbi sah jetzt seine kleine Schwester an, als wären die Worte nun nur für sie. „Zu all den Festungsbauten gehörte auch ein Festungsvorfeld, das später dann bepflanzt wurde. Das heißt französisch Glacis.“

„Und das ist der Park bei Oma? Na, eben, deshalb sagt kein Mensch Stadtpark. Alle sprechen vom Glacis.“ Nelli schlug sich leicht an die Stirn. „Ich hab mich immer schon gewundert, warum der Park Glacis heißt.“

Der Bruder lachte und sah seine Schwester neckend an. „Gewundert, aber nie gefragt, kleine Wunderblume.“

Nelli war nicht böse darüber, drohte nur ein wenig mit dem Teelöffel. ‚Aber recht hatte er ja, man wundert sich manchmal über unerklärliche Dinge, holt sich jedoch keinen Rat‘, dachte sie. ‚Kleine Kinder sind da ganz anders, die fragen und fragen.‘ Sie dachte an Muttis Kinder im Kindergarten.

„Aber genützt hat auch der beste Festungsbau keinem Kaiser Napoleon“, brachte die Mutter das Gespräch wieder zurück.

Robbi nickte. „Es genügte ihm nicht, nach der französischen bürgerlichen Revolution an der Spitze Frankreichs zu stehen, nein, ganz Europa wollte er beherrschen, aber er machte es nur zu einem Schlachtfeld. Sein Feldzug im Winter 1812 in der klirrenden Kälte gegen Russland endete mit einer Niederlage, und nach der großen Völkerschlacht bei Leipzig, das war 1813, musste er sich geschlagen nach Frankreich zurückziehen.“

‚Geschah ihm recht‘, dachte Nelli.

„Aber Tausende Tote kostete die Machtgier eines Einzelnen. Österreicher, Preußen, Russen, Sachsen und natürlich seine eigenen französischen Soldaten, erschossen, verhungert, von Seuchen wie Cholera und Typhus dahingerafft, auch in unserer kleinen Festungsstadt“, sagte der Vater ernst.

„Schrecklich“, setzte Nelli hinzu, „ich verstehe einfach nicht, warum es immer und immer wieder Kriege gibt. Lernt man nicht einmal aus dem vielen Leid?“

„Auch wir Erwachsenen verstehen das nicht. Wir Menschen, die wir mit solch einer Intelligenz ausgestattet sind, dass wir Computer entwickeln können, die uns selbst erstaunen lassen, verfallen in solche Primitivität“, meinte Nellis Mutter nachdenklich.

„Apropos Computer“, setzte Robbi hinzu, „das Hamburger Schachprogramm Deep Fritz ist so faszinierend ausgeklügelt, dass der Schachweltmeister, der Russe Wladimir Kramnik, sogar einmal das Match in Bonn mit 4:2 verlor. Nach viereinhalb Stunden kapitulierte der Weltmeister gegen den Computer, der so eine unvorstellbare Rechenkraft besitzt, dass er pro Sekunde acht bis zehn Millionen Stellungen prüft. Grandios.“ In seiner Stimme klang Begeisterung. Er spielte selbst gern Schach.

„Um so unverständlicher die Gegensätze, die der Mensch mit seiner Macht ausübt,“ sagte der Vater leise. Dann aßen alle schweigend.

Mit den Namen ist das so eine Sache. Irgendetwas heißt so und so, und wenn es auch sonderbar klingt, interessiert sich keiner für den Ursprung. Es ist eben so, basta. Nelli musste erkennen, dass sie sich doch ein wenig über die „Wunderblume“ von Robbi ärgerte. ‚Na warte‘, dachte sie, ‚ich werde ihn von nun an löchern, bis es ihm zu viel wird.‘ Da war dieser Graben fast vor Omas Haustür. Schon seit ewigen Zeiten hieß er Schwarzer Graben. Nicht etwa, weil das Wasser so schmutzig ist, wie es Nelli nie anders kennengelernt hatte. Aber es wäre nicht immer so gewesen, hatte die Mutter erzählt. Das ganze Jahr über war der Graben jetzt fast zugewachsen mit Pestwurz und Teichrosen, die im Juni mit ihrem Gelb und Grün die Wasserfläche in eine Wiese verwandelten und allen Unrat, der hineingeworfen wurde, bedeckten. Nur in der schmalen offenen Mitte schwammen stets geruhsam ein paar Stockenten dahin, die Erpel in ihrem wunderschönen bunten Gefieder, die Enten in schlichtem Braun. Nelli konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass ihre Mutti hier einst als Kind badete und sogar das Schwimmen erlernte. Wenn Nellis Mutti davon erzählte, glänzten ihre Augen in froher Erinnerung. Richtige Sandbänke hätte es gegeben.

 

„Das Wasser war damals flach und ganz klar und wir Kinder sammelten dort Flussmuscheln. Leere Muschelschalen wurden mit heimgenommen und als kleine Behältnisse für alle möglichen Utensilien verwendet. Die vollen warfen wir an den gegenüberliegenden Uferrand, wo es Schlamm gab und der Kalmus wuchs. Von den ummauerten Abflussrohren zur Entwässerung der Straße, die auch heute noch wie riesige Betonwürfel alle hundert Meter am Ufer stehen, hechteten die Mutigsten in das tiefe Wasser. Das traute ich mir nie zu“, sagte Nellis Mutter und hob bedauernd die Schultern. „Bei mir wurde es immer nur ein Hineinplumpsen.“

Nelli sah ihre Mutter vor sich als Kind, wie sie diese von den Fotos her kannte, klein, dünn, etwas ängstlich. Mit angezogenen Beinen sprang dieses Mädchen in den Graben, sodass das Wasser hoch aufspritzte, und sie musste lachen. Schließlich hatte sie selbst das Schwimmen und richtiges Springen in der Grundschule im Schwimmbad beim Sportunterricht erlernt.

„Ja, lach nur“, sagte die Mutter, „ich war eben einfach zu feige für einen Hechtsprung. Aber das Baden im Schwarzen Graben war trotzdem schön. Und wenn im Sommer Überschwemmung war durch die vielen Regengüsse, erbettelten wir uns die Zinkbadewanne und paddelten dann mit unseren Händen den Graben entlang, unter den herabhängenden Weidenzweigen hindurch, herrlich“, schwärmte die Mutter. „Wir stellten uns vor, so müsste es im Spreewald sein.“

„Jaja“, meinte Oma, „die alten Zinkbadewannen hatten auch ihr Gutes. Mit den heutigen Plastwannen ginge das gar nicht.“

„Aber Oma“, sagte Nelli, „heute würde doch keiner mehr mit einer Wanne fahren, höchstens aus Jux. Jetzt gibt’s doch Schlauchboote und aufblasbare Kanus, preiswert“, fügte sie noch hinzu.

Oma erwiderte trotzdem: „Für die, die genügend Geld haben. Die anderen müssten zugucken.“

„Na, brauchen sie ja nicht. In die Brühe will ja jetzt sowieso keiner.“ Nelli lachte. „Wieso hat sich eigentlich der Graben so verändert, wenn das kein Märchen ist, was du erzählst, Mutti?“

„Wenn ich mich richtig erinnere, wurde der Schwarze Graben damals jedes Jahr gereinigt. Dann türmten sich riesige Schlammberge an den Uferrändern auf und wenn sie etwas getrocknet waren, suchten wir Kinder nach besonders großen Schalen von den Flussmuscheln. Manchmal wurde auch ein Geldstück gefunden, und ich hatte einmal besonderes Glück und zog ein silbernes Kinderarmband aus der Erde mit Zwergenanhängern.“ Verträumt lächelnd dachte die Mutter daran zurück.

„Was du seitdem viele Jahre ständig getragen hast. Sogar in der Nacht.“ Belustigt schüttelte Nellis Oma den Kopf.

„Ja, bis ich es eines Tages auch wieder verlor.“

„Schade“, meinte Nelli, aber warum heißt der Graben denn Schwarzer Graben, wenn er doch mal so klar war?“ Nelli sah ihren großen Bruder herausfordernd an. „Die Wunderblume will es wissen“, setzte sie hinzu.

Robbi lachte. „Aha“, meinte er, da hat sich wohl doch jemand ein wenig über meine Kritik geärgert?“

Ihn hatte nicht nur die Festungsgeschichte der Stadt interessiert, ihn fesselte die Vergangenheit überhaupt. Beim zukünftigen Studium war er sich noch nicht sicher, ob er lieber Archäologie oder Jura wählen sollte.

„Dieser Name stammt noch aus dem Mittelalter, als man Schwarzwasser, das war gutes Quellwasser, zum Bierbrauen brauchte. Es kam aus dem Großen Teich am Wald und wurde in die Stadt geleitet. Nun bohre aber nicht weiter und frage nicht, warum heißt das gute Quellwasser zum Bierbrauen Schwarzwasser, wenn es doch nicht schwarz ist, Nelli.“ Robbi lachte seine kleine Schwester an. „Ich weiß es nicht. Das steht nämlich nicht einmal im Brockhaus.“

Damit war das Thema abgehakt. Alles ist eben nicht zu erklären. Aber jetzt dachte Nelli wieder daran, als sie diesen Frosch mit Inbrunst quaken hörte. Sie war jedoch nicht bei Oma, sondern zu Hause, und das bedeutete, dass im Goldfischteich, den ihr Vater erst vor kurzem anlegte, ein Gast Quartier bezogen hatte.

‚Vielleicht gefällt es ihm dort so gut, dass er nun nach einer Fröschin ruft‘, dachte Nelli und fand den Gedanken so schön, dass sie am liebsten aufgestanden wäre, um die Eltern zu wecken und ihnen die Neuigkeit mitzuteilen.

Sie machte es natürlich nicht, denn Mutti musste ja um fünf schon wieder aufstehen, da sie diese Woche Frühdienst im Kindergarten hatte. Nelli wusste, dass eine viertel Stunde vor sechs Uhr schon die ersten Eltern ihre Kinder brachten. Da musste die Kindergärtnerin schon da sein, obwohl offiziell der Kindergarten erst sechs Uhr öffnete.

„Aber kommen die Mütter zu spät zu ihrer Arbeit, können sie bald mit einer Entlassung rechnen“, sagte Nellis Mutter. „Es gibt nur wenige Chefs, die den Frauen in der Zeit entgegenkommen. Am liebsten stellt man gar keine Frauen mit Kindern ein, da diese ja auch mal krank werden können und nicht immer eine Oma da ist, die sie dann behütet. So ein Risiko mag man nicht. Eine richtige Männergesellschaft ist das“, erregte sich Nellis Mutter stets bei diesem Thema.

Sie war eine sehr selbständige Frau, die sich genau wie ihr Mann in einer liebgewordenen Tätigkeit verwirklichen wollte. Nelli wusste, dass sich ihre Mutti keineswegs zu Hause langweilen würde. Sie hatte so viele Interessen, schrieb Kindergedichte, verfasste selbst Geschichten und Handpuppenspiele, die sie für ihre Erziehungsarbeit brauchte, arbeitete mit Vati an der Ortschronik und fotografierte dafür. Sie hatte sogar Spaß am Renovieren der Zimmer. Vati überließ ihr das gern. Er werkelte lieber in seiner Freizeit in der Werkstatt und kümmerte sich um die Beete und Bäume im Garten. Das war sein Ausgleich für die anstrengende Arbeit in der Schule. Und vor allem gab es ja viel zu tun bei seinen Bienen. Während er alle Arbeit an den Bienenstöcken, den Beuten, verrichtete, kümmerte sich die Mutter um die Zusatzarbeiten. Da waren die Rähmchen zu drahten und Wachsmittelwände einzulöten, damit die Bienen gezielt ihre Waben für Futter und Nachzucht bauen können, dann war Honig zu schleudern und in die Gläser zu füllen. Natürlich mussten auch Robbi und Nelli helfen, aber das meiste blieb doch an Nellis Mutti selbst hängen.

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