Buch lesen: «SkyDancing Tantra», Seite 2

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Kapitel 1
Enthüllungen einer Jungfrau

Zum ersten Mal in meinem Leben tanzte ich in den Armen eines Prinzen. Aber es war nicht mein Prinz. Das Orchester spielte einen Walzer, und die Geigen umwarben die Tänzer mit romantischen Crescendi. Aber diese Romanze war nicht meine Romanze.

Die Kulisse war exquisit. Vergoldete Spiegel zierten die Wände des eleganten Ballsaals und reflektierten die herumwirbelnden Tänzer. Hunderte von weißen Rosen und Orchideen in prunkvollen Marmorvasen schmückten jede Ecke des Raumes. Mein Begleiter, Prinz Hubert de Polgnac, ein junger Mann Mitte zwanzig, hielt mich fest um die Taille gefasst, als er mich wiegenden Schrittes auf die Tanzfläche führte.

Er hatte eine hohe Stirn, eine aristokratische Nase und widerspenstige braune Locken. Seine blauen Augen strahlten und er zeigte ein schelmisches Lächeln, als wolle er ein Geheimnis lüften. Er flüsterte mir zärtliche Worte zu. Ganz offensichtlich war er verliebt.

Ich war fast achtzehn Jahre alt, eine wohlerzogene, attraktive Debütantin in einem langen, eleganten Kleid mit sich bauschenden Röcken von Christian Dior.

Ich führte das goldene Leben einer jungen Dame der höheren französischen Gesellschaft, die dazu erzogen worden war, reich zu heiraten. Meine Bestimmung war es, mich mit einer guten Familie mit Ruhm, Ansehen und den entsprechenden monetären Mitteln zu verbinden. Meine Mutter, selbst eine Contessa und eine Grande Dame, hatte dafür gesorgt, dass ich auf diese Rolle bestens vorbereitet war.

Als ich mich umsah, bemerkte ich, wie magisch, wie perfekt dieser Abend war, und doch schien alles so unwirklich. Ein mysteriöser Teil in mir fühlte sich komplett fehl am Platz. Mein Magen krampfte sich zusammen – ein vertrautes Gefühl, als ob etwas in mir wollte, dass ich weglaufe, als ob ich auf der falschen Bühne stünde, mich im falschen Stück befände.

Egal wie gut ich die Rolle spielte, meine Seele gehörte nicht hierher. Insgeheim gehörte mein Herz dem anderen Paris, dem Paris der Nacht mit seinen dunklen Gassen, in denen Prostituierte ihre Reize feilboten, Betrunkene sich stritten und Künstler der Muse hinterherjagten. Natürlich zeigte ich in dieser High-Society-Umgebung mein anmutigstes Lächeln, insgeheim aber sehnte ich mich danach, aus dem goldenen Käfig auszubrechen.

Meine Flucht hatte bereits begonnen. Heimlich führte ich ein Doppelleben. Um Mitternacht bat ich höflich um Erlaubnis, „nach Hause zu gehen“. Leider rief Hubert seinen Chauffeur und stieg selbst mit in das Auto ein. Ich gab dem Chauffeur eine andere Adresse – und fuhr nicht nach Hause. Das wusste natürlich niemand.

Ich sagte, ich sei bei meiner Tante zu Besuch.

Das war eine glaubhafte Ausrede. Von jungen Debütantinnen wurde erwartet, dass sie ein ehrenhaftes, jungfräuliches, wohlbehütetes Leben im Schoße ihrer Familien führten. Diejenigen, die eine gute Partie machen wollten, hielten sich an die Spielregeln. Aber mich interessierte das nicht. Ich hatte andere Pläne.

„Meine Eltern haben uns morgen Abend zum Abendessen ins Maxim eingeladen“, sagte Hubert und nahm meine Hand. „Bist du frei?“

„Ja“, sagte ich, „ich würde mich freuen.“

Das Maxim war das eleganteste Restaurant in ganz Paris. Warum diese Einladung? Was wäre, wenn es ein erster Schritt in Richtung eines Heiratsantrags wäre?

Einen solchen Antrag konnte ich keinesfalls annehmen, aus einem einfachen Grund: Ich war in jemand anderen verliebt: in Richard, meinen verrückten, wilden, unkonventionellen amerikanischen Maler und Flamencogitarristen. Jede Faser meines Wesens begehrte ihn. Eine Berührung seiner Hand jagte mir Schauer über den Rücken. Zwischen uns prickelte es immens. Doch er gehörte weder zu meiner Welt noch war die Leidenschaft, die er in mir entfesselte, in ihr erlaubt.

Der Chauffeur hielt vor dem Gebäude an der 52 Avenue Foch. Ich hatte Glück, denn dies war eine der schönsten Alleen in Paris. Es handelte sich offensichtlich um eine gute Adresse. Die Geschichte mit meiner Tante war durchaus überzeugend. Nach einer platonischen, aber zärtlichen Umarmung verließ ich den Prinzen und ging durch die imposante Haustür des Gebäudes in Richtung Aufzug. Ich stoppte und sah mich um. Die Straße draußen war leer. Huberts Auto war weg. Auf Zehenspitzen schlich ich zu einer Tür auf der Rückseite der Eingangshalle mit der Aufschrift „Porte de Service“ und trat in ein schmales, graues, eher schmutziges und unansehnliches Treppenhaus, das zu den Quartieren der Diener hinaufführte.

Die Treppe bis in den siebten Stock hochzusteigen ohne Aufzug, war eine gewisse Herausforderung. Ich trug ein langes weißes Ballkleid und ich musste unbedingt vermeiden, dass auch nur der kleinste Fleck auf die wogenden Falten des langen Rockes gelangte. Nichts durfte mein Geheimnis verraten.

Ich ging bereits ein großes Risiko ein. Ich sollte um Mitternacht zu Hause sein. Vater wartete wahrscheinlich schon auf mich, um sicherzugehen, dass ich pünktlich war. Unvorstellbar, ich käme zu spät nach Hause in einem weißen, beschmutzten Kleid.

Die Röcke raffend stieg ich die Treppe hoch, langsam und ohne das leiseste Geräusch. Mit jeder Stufe, die ich erklomm, schlug mein Herz schneller.

Wie immer beschlich mich das dumpfe Gefühl, „der Oger“, mein mächtiger, patriarchalischer Vater, der Hüter meiner Jungfräulichkeit, der wie ein Falke über die Aktivitäten seiner Tochter wacht, während er selbst viele Nächte damit verbrachte, Mädchen in meinem Alter zu verführen, schliche direkt hinter mir.

Ich war mir der Heuchelei der Welt, in der ich aufgewachsen war, schmerzhaft bewusst. Ich erlebte sie zu Hause, beobachtete, wie meine Mutter, die aufrechte, perfekt elegante Contessa, die Stellung hielt und die Ehre der Familie bewahrte, während mein Vater tagsüber die Rolle des tadellosen Diplomaten spielte, nur um bei Nacht zu einem wild Feiernden und Frauenhelden zu werden. Ich beobachtete, wie meine stolze, stille, pflichtbewusste Mutter nachts allein dasaß, die schnurrende Katze auf ihrer Brust, während mein Vater durch das Pariser Nachtleben tanzte. Das war der Moralkodex, nach dem sie lebten. So sollte es in einer Welt sein, die von mächtigen Aristokraten geprägt war. War ich bereit, dem Club beizutreten?

Mit jedem Schritt die Hintertreppe hinauf schien es mir, als würde ich die Tyrannei meiner gesellschaftlichen Klasse und die Unterdrückung des Patriarchats ein Stück weiter hinter mir lassen. Ja, ich hatte wie ein Gefangener in meinem eigenen Zuhause gelebt, nicht gesehen oder geliebt, für das, was ich war, sondern für das, was ich in der Schule leistete, wie ich mich anzog, wie perfekt ich die Rolle der „guten Tochter“ spielte und wie ich meine Aufgaben erfüllte. Das Leben bis dahin bestand aus einer langen Reihe von Regeln und sorgfältig erlerntem Verhalten, die als unsichtbarer Kodex der gesellschaftlichen Ordnung befolgt werden mussten. Ich kannte noch keine andere Welt, aber ich wusste, dass ich in dieser Welt nicht mehr gefangen sein wollte.

Vor mir lag das Unbekannte, das Versprechen auf ein neues Leben. Ich wurde von dem Gefühl getrieben, dass ich mich beeilen musste, dorthin zu gelangen, dass dieser Moment von größter Bedeutung war. Mit jeder Stufe, die ich erklomm, schien ich eine neue Welt voller Freiheit und Leidenschaft zu erobern.

Schritt für Schritt kletterte ich empor, die graue, verborgene Welt derer, die so hart arbeiteten, um dem Willen anderer zu dienen, hinter mir lassend. Ich umschlang mein Cinderella-Kleid und fühlte einen Schauer der Angst. Vielleicht würde ich am Ende einen hohen Preis für meine Freiheit bezahlen. Würde ich auf die Straße geworfen und dazu gezwungen werden, an einem solchen Ort zu leben, in einem winzigen Dachzimmer, ohne Geld?

Noch eine Stufe. Dann endlich, stand ich vor Richards Studentenwohnung. Ich öffnete die Tür und da stand er. Als ich ihn ansah, überflutete mich eine so große Freude, dass ich kaum aufrecht stehen konnte. Ihn zu sehen, war wie direkt in die Sonne zu blicken.

„Ich fühlte, dass du kommst!“, sagte er, öffnete seine Arme weit und umarmte mich. Ich bin nach Hause gekommen, sagte ich mir. Ich kann meine Sorgen ruhen lassen und die Herrlichkeit auskosten, geliebt, bewundert, angenommen zu werden, und ich kann all das von Herzen zurückgeben.

Richards winzige Wohnung war ein umgebautes Dienstmädchenzimmer – klein, aber hell. Ich war schon oft dort gewesen, um seine Gesellschaft zu genießen, seinen leidenschaftlichen Flamenco-Serenaden zuzuhören und mich in seinen Armen auszuruhen. Bis dahin hatten wir geflirtet und uns geküsst, aber ich hatte mich nicht ausgezogen und er hatte meine Grenzen respektiert.

Jedes Mal, wenn ich bei ihm zu Hause war und mich in seine Arme kuschelte, wuchs die Sehnsucht in mir nach Freiheit und Aufbruch. Aber auch die Angst vor dem Zorn meines Vaters. Warum konnte ich nicht das Beste aus beiden Welten haben: nach außen hin die wohlerzogene Debütantin und hinter den Kulissen eine ungehemmte Frau? War die Verkostung verbotener Früchte nicht das ultimative Abenteuer?

Ich spürte es gewiss in jenem Moment, als ich Richards Geruch einatmete: eine Mischung aus Farbe, Tabak und dem Schweiß eines Mannes, der vom Leben begeistert war. Sein Geruch war so sinnlich. Er öffnete seine Arme, ließ mich los und trat ein paar Schritte zurück.

„Lass mich dich ansehen“, sagte er.

Ich setzte das „hübsch-lächelnde“ Gesicht auf, das ich beim Ball zur Schau gestellt hatte, drehte mich herum und präsentierte mein Kleid. Warum fühlte ich mich in seiner Gegenwart so erhitzt und schüchtern? Bei den anderen fühlte ich mich nie so. Ich versuchte ihn mir im Smoking, als meine Begleitung auf dem Ball vorzustellen. Wie gerne hätte ich ihn dort an meiner Seite gehabt, anstatt mich zwischen zwei Welten hin- und hergerissen zu fühlen. Aber er hatte weder den Namen noch die familiäre Herkunft, das Geld oder die Manieren. Dafür war er sexy und so viel amüsanter.

„Du bist wunderschön“, sagte er. „Eine majestätische Jeune File Bien Rangée.1

Er knickste, lachte und gab mir einen Kuss, der durch meinen Körper direkt in meine Lenden fuhr.

Er bot mir Wein an. Ich bat um Wasser. Er hieß mich hinzusetzen, spielte Gitarre und sang Flamenco-Serenaden, während er mir tief in die Augen sah. Ich sang mit ihm. Nach und nach begannen wir ein Duett im Flamenco-Stil, mit leidenschaftlichem Klagen und Stöhnen, wie zwei spanische Liebhaber, die sich aus der Ferne nach einander sehnen.

Wir waren wie zwei Instrumente, die sich vor einem Konzert auf die richtige Tonhöhe einstimmen. Jedes Mal, wenn wir einen gemeinsamen Ton erreichten und ihn auf eine Melodie ausdehnen konnten, wurden unsere beiden Stimmen eins, unsere Energien wurden freigesetzt in dieser spielerischen Vereinigung unserer Seelen. Richard war so aufgeweckt und leidenschaftlich, ich fühlte mich erregt und sehnte mich danach, ihn zu berühren.

Ich hatte ihm noch nicht gesagt, dass ich spätestens um Mitternacht zu Hause sein musste und es bereits zu spät war. Als ob er meine Gedanken oder mein Herz lesen könnte, legte er seine Gitarre beiseite und nahm meine Hand.

„Kannst du heute Nacht bleiben?“, fragte er.

Ich war überrascht. Er wusste, dass ich nach Hause musste. Das war bisher immer der Fall gewesen. Doch plötzlich erschien mir diese neue Idee unwiderstehlich reizvoll. Eine Nacht weg von zu Hause, jenseits von Regeln, jenseits von Grenzen.

„Vater würde mich umbringen“, sagte ich.

„Er muss es nicht wissen“, antwortete er.

„Was meinst du damit?“

„Nun, geh den Weg zurück, auf dem du hergekommen bist“, antwortete er.

„Das könnte funktionieren“, sagte ich. „Wir haben auch zu Hause eine Dienstbotentreppe. Ich könnte sie benutzen.“

Nach weiterer Diskussion einigten wir uns auf ein Szenario, bei dem ich um 6:00 Uhr morgens zu Hause sein würde. Nicht auszudenken was passieren würde, wenn ich aufflöge. Inshallah, wie man im Nahen Osten sagt: „Ich legte es in die Hand Gottes.“

Dann entspannte ich mich. Er nahm mich in seine Arme, aber das Korsett meines Kleides war straff und eng. Also fing er an, den Reißverschluss zu öffnen, während er mich küsste. Ich ließ es zu. Langsam, Kuss um Kuss, Liebkosung um Liebkosung, öffnete er geschickt mein Kleid vollständig und zog es bis zu meiner Taille herunter. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich so nah bei einem Mann stand, während ich so spärlich gekleidet war. Wir zeigten in meiner Familie unsere Zuneigung nicht durch körperliche Berührungen. Meine Eltern umarmten sich nicht vor mir. Jetzt weckte dieser Kontakt eine solche Sehnsucht in meinem Körper, als wäre ich mein ganzes Leben lang durstig gewesen und hätte es nicht gewusst.

Als seine Hände über meine Haut glitten, fegte seine sanfte Berührung Jahre der Verunsicherung hinweg. Seine Zärtlichkeit heilte das Gefühl, „vor Gericht“ zu stehen, beobachtet und bewertet von meinem Vater, dem Familienanwalt. Auch von meiner Mutter wurde ich selten umarmt oder berührt – sie hatte schon längst jeglichen körperlichen Kontakt aufgegeben. Ich war traurig, weil ich bei meinen Eltern lebte. Ich liebte sie, und es war diese Liebe, die es so schmerzhaft machte, bei ihnen zu sein. Meine Seele fühlte sich in ihrer Gesellschaft erstickt. Die Emotionen konnten nirgendwo hin: Ich wusste nicht, was ich mit ihnen machen, wie ich sie ausdrücken sollte.

Durch das Streicheln von Richards Hand wurde all dies gelöscht, geheilt, wieder in Ordnung gebracht. Ich ertrank in Richards lächelnden Blick. Da war so viel Akzeptanz in seinen Augen, dass ich das Gefühl hatte, dass nichts Böses im Herzen dieses Mannes lauern könnte. In seinen Armen war ich sicher. Ungeachtet der Vorhaltungen, die mir zu Hause drohten, konnte ich nur meinem Herzen und meinem Körper folgen, und beide wurden zu ihm hingezogen, näher, tiefer, alle Gedanken, alle Belange der Zukunft hinter sich lassend. In diesem Moment war das alles, was zählte.

„Ich liebe dich“, flüsterte er.

„Ja“, sagte ich, „und ich liebe dich.“

Diese Worte. Wir hatten sie in jedem Lied gehört, im Radio, im Kino. Aber jetzt gehörten sie uns. Sie meinten: „Du bist derjenige, mit dem sich meine Seele und mein Körper verbinden wollen.“

Die Freude, die sich in meinem Herzen ausbreitete, ließ mich entspannen und jeden letzten Rest von Zögern vergessen. Als ich meinen Kopf zum Fenster, neben dem Bett, auf dem wir lagen, drehte, sah ich einen runden silbernen Mond hereinscheinen.

„Heute Nacht ist Vollmond“, flüsterte Richard, seine Lippen näherten sich meinen. „Es ist unsere Nacht.“

Ich konnte seinen Atem schmecken. Seine Lippen legten sich an meine und sein Mund öffnete sich, genau wie meiner, und unsere Zungen trafen sich und wir tranken tief voneinander. Meine Wirbelsäule begann zu zittern und zu beben, als der Kuss einen elektrischen Reflex auslöste und ein Stromstoß meinen Rücken hinunter bis zu meinem Kreuzbein jagte. Jetzt wusste ich, dass es kein Zurück mehr gab. Ich hatte mein ganzes Teenagerleben lang auf diesen Moment gewartet und über die Umstände, die Zeit und die Art und Weise fantasiert, wie ich eine Frau werden würde.

Nun würde ich endlich auf diese so genannte kostbare Jungfräulichkeit verzichten, kostbar zumindest in den Augen meines Vaters, da er es liebte zu wiederholen: „Denk immer daran, bleibe Jungfrau, bis du heiratest, sonst verlierst du den Respekt der Männer.“ Was für ein lästiger Zustand, dieses Bemühen, eine Jungfrau zu sein, um die Anerkennung anderer zu erlangen. Wozu sollte ich schließlich den Respekt eines anderen brauchen? Ganz sicher war meine Selbstachtung genug.

Mit jedem köstlichen Kuss erwachte in mir etwas Unbekanntes und Mächtiges. Jede Liebkosung war eine Offenbarung, eine Befreiung. So wie Richard das Kleid von meinem Körper gestreift hatte, so durchbrach seine liebevolle Berührung den Schutzpanzer, der mein Herz abschnürte, heilte es und löste den Knoten in meiner Seele.

Plötzlich ein Zögern. Ich wusste, warum: Bis jetzt hatte ich einem anderen Mann gehört. Meinem Vater. Es war mein Vater, der mich mit sechzehn Jahren in das Pariser Nachtleben eingeführt hatte. Es war mein Vater, der mich zum Tanzen in die Diskotheken mitgenommen hatte. Wenn wir seine Freunde trafen, wies er mich an, ihn bei seinem Namen Boris zu nennen. Er wollte nicht, dass jemand wusste, dass ich seine Tochter war. Er mochte es, wenn die Leute dachten, ich wäre seine Freundin. Darin lag etwas Ungesundes und Einschüchterndes, und im Laufe der Jahre war Vater ungewöhnlich beschützend und besitzergreifend geworden, als wäre ich „sein Eigentum“, fast eine zweite, jüngere Frau.

Richard fuhr fort, mich auszuziehen. Ich erkannte, dass ich das gleiche Kleid trug, das ich auf meinem ersten Debütantinnenball getragen hatte, als Vater, mürrisch und schlecht gelaunt, seine „jüngere Frau“ offiziell in die Gesellschaft und in die Gesellschaft anderer Männer entlassen musste.

Es war eine prestigeträchtige Angelegenheit gewesen. Sie hatte im Palais de Versailles stattgefunden, der prächtigen Residenz von König Ludwig dem XIV., le Roi Soleil, dem „Sonnenkönig“. Als wir im majestätischen Innenhof von Versailles ankamen, stiegen wir aus der Limousine und traten auf einen roten Teppich. Wir schritten zwischen zwei Reihen Ehrengardisten hindurch, die im vollen Ornat auf ihren Pferden saßen. Das Schwert in der Hand (sabre au clair) salutierten sie der, zu dieser raren Gelegenheit komplett versammelten besseren Pariser Gesellschaft, „tout Paris“. Schließlich wurde ich Prinzessin Marie de Bonaparte, der Urgroßnichte Napoleons höchstpersönlich, vorgestellt und knickste.

In gewisser Weise waren es dieses Debütantinnenleben, dieser Abend, dieser Moment des Betretens des verheißungsvollen Landes der High Society, die Richard zusammen mit dem langen Ballkleid langsam von meinem Körper abstreifte. Der Kaiserin wurden die Kleider ausgezogen, ihre Nacktheit wurde langsam enthüllt.

Richard ließ sich Zeit. Ich mochte diese Langsamkeit. Ich konnte seinen Respekt spüren. Er wusste, dass ich noch Jungfrau war. Er wollte die Dinge nicht überstürzen. Ich konnte mir die Zeit nehmen, die ich brauchte, um jeden Schritt zu erspüren und meinen Körper daran zu gewöhnen. Oh, mein Körper stand in Flammen. Ich wollte ihn. Ich wollte ihn sofort. Ich wollte ihn schon seit Monaten. Mein Problem bestand darin, dass ich, als die Intensität unserer Erregung zunahm, in einige ziemlich unangenehme, aber aufschlussreiche Rückblenden verwickelt wurde, als ob seine Küsse die Erinnerung an einige der traumatischsten Ereignisse meines Lebens wachriefen. Vielleicht war unser Paarungsritual wie ein Seelentrip, eine Katharsis.

Ich stürzte mich tiefer in das Auf und Ab unserer Liebkosungen. Dann streichelte er meine Brüste, küsste meine Brustwarzen. Es war das erste Mal, dass jemand das tat. Lustschauer liefen meinen Bauch hinab. Ich atmete tiefer, ließ mich treiben und ließ es geschehen. Alles fühlte sich gut an, aber ich hatte Angst und war aufgeregt. Ich konnte spüren, wie sich mein Körper ausdehnte, verlangte, sich öffnete.

Dann zogen sich die Schlingen der Angst enger um mich zusammen und alles verkrampfte sich. Doch da umschloss er meine Brüste mit seinen Händen und flüsterte: „Ich liebe dich“, und wieder ließ mein Körper los, ließ sich davontragen von einem Strom heißer, fließender Energie. Das Herz schlägt schneller, das Blut rauscht, die Atmung geht stoßweise. Jede Zelle vibrierte und tanzte, als ob sie mit Strom aufgeladen wäre, und pulsierte vor Erwartung.

Dann zog Richard seine Kleider aus und schmiegte sich nackt an mich. Ich spürte seine Haut an meiner, seinen Geruch und sein Geschlecht, hart an meinem linken Oberschenkel. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es sich in mir anfühlen würde. Plötzlich war ich zurückhaltend. Was ist, wenn es wehtut?

„Lass uns langsam machen“, flüsterte ich. Richard hielt mich fest. Ich erlebte eine weitere meiner schmerzhaften Rückblenden.

„Warte mal, ich habe Angst“, flüsterte ich.

„Es ist okay“, antwortete er. „Ich bin hier. Ich liebe dich. Alles ist in Ordnung. Wir müssen nicht weitergehen. Es gibt nichts zu tun, nichts, wohin wir gehen müssten.“

Ich gehe von der Schule nach Hause. Ich bin ungefähr elf Jahre alt. Es ist gegen fünf oder sechs Uhr abends, und der Herbst geht in den Winter über. Das Tageslicht verblasst schnell. Ich spüre jemand in meinem Rücken. Ich gehe schnell um die Ecke und betrete mein Haus. Ein Mann folgt mir. Ich steige in den Aufzug und drücke den Knopf für den vierten Stock, aber bevor der langsame, alte Fahrstuhl sich in Bewegung setzt, ist der Mann da, drückt die Aufzugstür auseinander und tritt ein. Die Fahrt nach oben beginnt. Ich schaue auf den Boden und tue so, als wäre alles in Ordnung. Der Mann lässt seinen Aktenkoffer fallen, öffnet seinen Mantel, öffnet seinen Hosenschlitz und holt seinen Penis heraus.

Zweiter Stock: Sein Geschlechtsteil ist hart und zeigt bedrohlich auf mich. Ich bin wie versteinert. Der Aufzug ist klein, geeignet für maximal drei Personen. Ich drücke mich in eine Ecke, aber ich kann nicht weiter zurückweichen.

Dritter Stock: Er kommt näher, keuchend, mit einem irren Ausdruck in seinen dunklen Augen. Ich merke, dass das Einzige, was mich jetzt noch retten kann, darin besteht, jemand auf meine Lage aufmerksam zu machen. Ich beginne, aus tiefster Kehle zu schreien, so laut, dass der Perverse zusammenzuckt. Meine Schreie hallen ununterbrochen durch den Aufzugsschacht.

Vierter Stock: „HILFE! VERGEWALTIGUNG! AU SECOURS! A LʼAIDE!“ (Zu Hilfe!) Jetzt ist der Bann gebrochen, der Mann hat Angst. Der Aufzug hält an, er stürzt hinaus und ich laufe die letzte Treppe hinauf zu unserer Wohnung, betend, dass er mir nicht folgt. Das tut er nicht. Ich läute an der Tür, als gäbe es kein Morgen.

Meine Mutter kommt, erzürnt über den Lärm. Ich rase ins Wohnzimmer und breche zusammen. Mein Herz schlägt. Ich bin so verängstigt, schwitzend, steif gefroren. Noch ein paar Minuten und sein steifes Ding hätte mich umbringen können. Was für eine Waffe! Zu denken, dass es das ist, was Jungs mit Mädchen machen. Wie seltsam. Ich brauche Schutz. Vater wird mich beschützen. Er kommt rein.

„Was ist los hier?“, verlangt er zu wissen. Ich kann noch nicht sprechen. Schließlich erzähle ich. Ich weine. Ich bin mir so sicher, dass Vater mich jetzt endlich festhalten und mir Trost, Zuflucht und Sicherheit bieten wird.

Zu meinem Erstaunen lächelt er, als ob er von der Geschichte amüsiert wäre. Er wischt sie fast beiseite. Er tut so, als wäre es keine große Sache. Ich fühle mich ungeliebt, unverstanden, wieder allein. Es gibt niemanden bei mir zu Hause, der sich um mich kümmert.

Vorsichtig rückte Richard näher und die Rückblende verblasste. Als er mich festhielt, fühlte ich, dass ich endlich den Schutz erhielt, den ich nie bekommen hatte. Ich tauchte aus der Trance auf und behielt die unangenehme Erinnerung für mich. Ich erkannte, dass meine einzige Hoffnung, diese alten Traumata zu heilen, darin bestand, mich dem Vergnügen dieses Moments hinzugeben und mein Herz offen zu halten. Vergiss alles andere. Vertraue. Atme. Unbeabsichtigt stolperte ich über einen Weg der Heilung, den ich später als Teil meiner Arbeit weiterentwickeln würde und der zu einem der Eckpfeiler meines gewählten Handwerks werden würde: das Vergnügen zu begrüßen, tief zu atmen und den Empfindungen zu erlauben, das Denken zu vergessen.

Als Richard und ich sanft begannen, uns zu liebkosen und zu streicheln, entführte uns das Verlangen jenseits allen Denkens, ließ uns die Vergangenheit weit hinter uns lassen. Richard schob sich zwischen meine Oberschenkel, kniete dort nieder und sah mich anbetend an. Unter seinen Blicken dahinschmelzend, öffnete ich meine Arme und zog ihn zu mir. Er lag auf mir, sein starker, erigierter Penis gegen meinen Schambereich pressend. Als er meinen Körper mit Küssen bedeckte und meine Atmung tiefer und wilder wurde, brach ein Damm und eine Hitzewelle strömte hinab zwischen meine Beine, bis dahin, wo alles feucht wurde und wartete. Er berührte mich an dieser Stelle, und ich wollte ihn so sehr, dass nichts mich davon abhalten konnte, mich zu öffnen.

In der Intensität unserer Bewegungen verwischten sich die Emotionen, die Angst, die Sehnsucht, die Aufregung. Dafür erwachte etwas anderes in mir, eine so neue Empfindung, dass ich sie nicht begreifen konnte, ein Gefühl, leicht nach oben gehoben zu werden, über meinen Körper zu schweben.

Richard war zärtlich doch stark erregt. Sein Geschlecht kam immer näher, schob sich tiefer zwischen meine Beine. Etwas gab in mir nach, dort unten, Tränen flossen, und sein Penis schob sich tiefer und brannte wie eine Klinge, die die Vergangenheit durchschneidet. Was mich bis zu diesem Moment gefesselt hatte, wurde zu einem Damm, der brach und die Lebens- und Liebessäfte zum Fließen brachte, und die Unbesiegbarkeit unserer Freiheit kam zum Vorschein, die auf dem Grund meines Seins ruhte.

Wieder küsste und streichelte Richard mich und die Lust und das Vergnügen wuchsen und wuchsen. So vereinigten wir uns. Immer tiefer und tiefer drang er in mich. Ich wusste nicht, wo ich endete und er begann, wer er war, außerhalb von mir. Er wurde ich, wir verschmolzen, wild, größer werdend als das Leben, sich ausdehnend, anschwellend, pochend, zusammen atmend. Mein ganzer Körper kribbelte, Zellen pulsierten, flüssiges Licht durchströmte golden meine Glieder, während ich immer höher und höher stieg, angefüllt mit so viel Liebe und erotischer Lust. Eine wilde Energie rief, weinte, lachte, sang die Kraft des Orgasmus, das Lied des Lebens. Es war so heilsam, endlich wild zu sein.

Dann hob ich ab. Etwas noch nie Dagewesenes geschah. Ich verlor die Kontrolle, war vollkommen überwältigt, es war, als würde ich in den Weltraum katapultiert. Mein ganzes Wesen begann sich aufzulösen. Ich befand mich inmitten eines Strudels von Chaos, Aufregung, Lust, Erzittern und Erbeben, Schreien, eines nahenden Höhepunktes, bis plötzlich das Leben wie eine Flutwelle durch uns hindurchbrandete und wir den Höhepunkt erreichten.

Zeitgleich fiel alles von mir ab, als wäre ich ein schöner Ballon, der in den Himmel schwebt und leise über die Erde gleitet, leicht, weit weg – von allem.

Unerwartet herrschte eine intensive Stille, als ob der sexuelle Orgasmus ein Katapult gewesen wäre, um Energie und Bewusstsein über Zeit und Raum hinaus in ein Reich glänzender Strahlkraft und des Friedens zu schleudern. In diesem Moment war von dem „Ich“, das ich vorher gekannt hatte, nichts mehr übrig. Alle Gefühle von Schmerz und Trauma, alle Konflikte und Sehnsüchte hatten sich in Luft aufgelöst. Es existierte dort keine Person, die „Margot“ oder einen anderen Namen hätte tragen können. Dieses „Ich“ war verschwunden und war zu reiner Weite geworden. Mein Bewusstsein war irgendwie über alles hinausgetragen worden, was ich in diesem Leben je gekannt oder geschmeckt hatte.

„Es“ navigierte in einem leuchtenden Feld, in dem alle Dinge zu einem Ganzen miteinander verbunden waren. Kein Wesen war von irgendeinem anderen getrennt, auch nicht der Himmel von der Erde. Ich berührte und schmeckte und badete in jenem unendlichen Geist, der nie geboren wurde und nie sterben wird. Ich transzendierte die Zeit. Der Orgasmus hatte mich über den Körper hinaus in das Reich des reinen Bewusstseins projiziert, und ich wusste ohne jeden Zweifel, dass meine wahre Natur Freiheit war – und diese Freiheit existierte jenseits der Regeln der Gesellschaft, der Gebote meiner Eltern, jenseits dessen, was ich in der Schule gelernt hatte, oder jeder anderen Erfahrung. Ja, meine wahre Natur war reines, unberührbares, unveränderliches Bewusstsein, das Teil der göttlichen Schöpfung war, ein Geheimnis, im Wesentlichen nicht benennbar.

Erstaunlicherweise brauchte ich einen Orgasmus, um dorthin und noch darüber hinaus zu gelangen.

In diesem gesegneten Moment wusste ich, dass ich eins war. Dass ich Gott bin. Ein immenses Gefühl der Dankbarkeit breitete sich in meinem Herzen aus, als ich in den Armen meines Geliebten lag. Diese Weite, dieses leuchtende Gewahrsein erfüllte mich mit Freude und der Leichtigkeit einer Wahrheit, die immer da gewesen, aber vergessen worden war. Ich hatte das Licht berührt, das ich war, bevor ich mich in diesen Körper inkarnierte, zu dem ich nach dem Verlassen dieses Körpers zurückkehren würde. Ich wusste es damals und würde es nie wieder vergessen.

Für eine Weile ruhten wir uns aus, bis das schrille Klingeln von Richards Wecker unsere Schläfrigkeit durchbrach und mich daran erinnerte, dass es Zeit war, in mein bisheriges Leben zurückzukehren. Mein Leben vor der Befreiung, vor der „Entjungferung“. Die neue „Frau“ musste zurückgehen und die Jungfrau spielen.

Langsam stand ich auf und zog mein Kleid an. Es würde komisch aussehen, wenn ich um 5:00 Uhr morgens in einem Ballkleid durch die Straßen wandern würde, also brachte mich Richard zur Taxistation. Eine letzte Umarmung und ich war auf mich allein gestellt. Ich würde das nächste Manöver perfekt durchführen müssen. Ich erreichte die Eingangstür meines Elternhauses und folgte unserem Plan. Ich nahm die Dienstbotentreppe und raffte mein weißes Kleid hoch, damit es nicht beschmutzt wurde. Leise, langsam, heimlich drehte ich den Schlüssel im Schloss und hoffte, betete, dass niemand mich hörte. Zum Glück funktionierte es. Ich war in Sicherheit!

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Altersbeschränkung:
0+
Veröffentlichungsdatum auf Litres:
22 Dezember 2023
Umfang:
371 S. 3 Illustrationen
ISBN:
9783946959694
Verleger:
Rechteinhaber:
Автор
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