Buch lesen: «Fröhliches Morden überall»
Margit Kruse
Fröhliches Morden überall
Weihnachtskrimi
Zum Buch
Eiszapfenstreich Margareta Sommerfeld und ihr Partner, Kommissar Thomas Scheffel, beschließen, über die Feiertage ins verschneite Winterwunderland zu reisen. Da Thomas’ Vater plötzlich verstorben ist, fühlt er sich verpflichtet, sich um seine Mutter zu kümmern. Und auch Waltraud, Margaretas Mutter, hängt durch. So beschließen die beiden Verliebten, ihre Mütter mitzunehmen. Ein gemütliches Ferienhaus ist schnell gefunden. Die kleine Auszeit entpuppt sich jedoch als keine gute Idee, denn beide Damen haben ihren eigenen Kopf. Nach einem Streit am Silvesterabend will Thomas’ Mutter den Gottesdienst besuchen. Von dort kehrt sie jedoch nicht zurück. Am späten Abend wird sie an einem abseits gelegenen Bauernhof gefunden. Erstochen … Thomas kann nicht glauben, was passiert ist. Gemeinsam mit Margareta macht er sich auf die Suche nach der Wahrheit. Sollte eine Frau aus der Nachbarschaft, die seiner Mutter sehr ähnlich sieht, dran glauben? Oder war die ermordete Eleonore gar nicht die trauernde Witwe, für die man sie hielt? Margareta bringt die örtliche Polizei, die lange Zeit im Dunkeln tappt, zur Verzweiflung.
Margit Kruse wurde 1957 in Gelsenkirchen geboren. Bekannt wurde sie vor allem durch ihre Revier-Krimis »Eisaugen«, »Zechenbrand«, »Hochzeitsglocken« und »Rosensalz«. Sie ist ein echtes Kind des Ruhrgebiets. Seit 2004 ist die Gelsenkirchenerin als freiberufliche Autorin tätig. Neben etlichen Beiträgen in Anthologien hat sie bislang zahlreiche Bücher veröffentlicht. Labrador Enja ist stets dabei, wenn sich Margit Kruse auf Recherche-Tour begibt. Besonders der Hauptfriedhof ihres Heimatortes hat es der Autorin angetan. Margit Kruse ist Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Christine Braun
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Helgi / photocase.de
ISBN 978-3-8392-6910-7
Vorbemerkung
Dieser Roman spielt größtenteils in Bödefeld im Hochsauerland. Viele Gebäude und Einrichtungen sind real. Der Bauernhof sowie das Ferienhaus, zwei meiner Handlungsorte, sind jedoch Fantasiegebilde von mir. Es handelt sich hier um nichts weiter als um einen Roman, die Personen sind erfunden, der Plot ist fiktiv.
Prolog
Mein Blick geht zum Altar der Pfarrkirche St. Cosmas und Damian in Bödefeld. Ein prunkvoller Altar, rechts und links flankiert von zwei herrlich beleuchteten Weihnachtsbäumen. Eine feuchte Kälte schlägt mir entgegen. Ich durchschreite den Mittelgang des Kirchenschiffes aus dem Jahr 1911 und gehe bis vorne zum Altar. Unschlüssig setze ich mich in die erste Reihe. Für den kleinen Ort eine recht große Kirche. Sie sollte mit den fünf Ausgängen viel Platz für die Wallfahrer zum Kreuzberg schaffen, die um die Jahrhundertwende noch zahlreich vorhanden waren. Die barocke Ausstattung sorgt für eine ganz besondere, ehrfürchtige Atmosphäre.
Was hoffe ich, hier zu finden?
Vergebung?
Ich habe es nicht gewollt. Das sagt sich so einfach. Dabei habe ich es bis ins kleinste Detail geplant.
Und dann kam alles anders. Ganz anders.
Ich habe immer nach Gottes Glauben gelebt, bin so erzogen worden. Und jetzt sitze ich hier und heule mich beim Herrn aus. Ich halte den Kopf gesenkt. Tränen tropfen auf den glänzenden Boden. Mein Jammern und Klagen hallt in dem großen Raum wider.
»Ein Mensch, der uns verlässt, ist wie eine Sonne, die versinkt. Aber etwas von ihrem Licht bleibt immer in unserem Herzen zurück. Herr, gib ihr die ewige Ruhe und vergilt ihr alle Güte und Liebe, die sie uns zukommen ließ.«
Ich lege den kleinen Zettel ins Gesangbuch zurück, dorthin, wo ich ihn gefunden habe, und schüttle verneinend den Kopf. Ich will nicht, dass Licht von der Toten in meinem Herzen zurückbleibt. Wozu? Vergessen will ich sie. Einfach nur vergessen, nachdem ich mir hier die Absolution von Gott geholt habe. Ist es wirklich so leicht?
Zum Mörder bin ich geworden aus purer Verzweiflung. Das muss Gott doch verstehen.
Verstehen und verzeihen?
Kann ich mit der Schuld weiterleben?
Ich schaue ein letztes Mal zu dem prunkvollen Altar. Mutter Marias Blick durchbohrt mich und sagt mehr als tausend Worte.
Nichts wird mir vergeben werden, das wird mir plötzlich klar.
Nichts!
1.
Margareta wischte zum zigsten Mal über die beschlagene Windschutzscheibe, um nach draußen sehen zu können. Was für eine blöde Karre besaß Thomas bloß? Angeblich war die Klimaanlage seines Passats in Ordnung. Konnten die Scheiben dann dermaßen beschlagen? Oder kam das daher, dass die beiden alten Damen hinten im Fond des Wagens so viel laberten? Ihre geschminkten Schnäbel gaben keine Ruhe.
Thomas auf dem Fahrersitz neben ihr stöhnte und starrte auf das Navi. Er tat gerade so, als führe ihr Weg ins tiefste Bayern, fernab jeglicher Zivilisation. Dabei ging es nur ins Hochsauerland, genauer gesagt, nach Bödefeld, einen Ortsteil von Schmallenberg. Ein winziges Bergdörfchen mit etwas mehr als 1.000 Einwohnern. Ein niedlicher Kirchturm, schwarz-weiße Schiefer- und Fachwerkhäuser, ein durchs Örtchen plätscherndes Flüsschen. 135 Kilometer vom Ruhrgebiet entfernt. Margareta kannte die Strecke im Schlaf, so oft war sie diese bereits gefahren. Mal war sie nur für einen Tag, mal für ein ganzes Wochenende dort gewesen. Als Kind hatte sie längere Urlaube im Hochsauerland verbracht.
Waltraud beschrieb gerade jeden einzelnen Aufenthalt im Sauerland äußerst ausführlich, was keiner der Anwesenden hören wollte. Eleonore hingegen machte alles nieder, konnte alles besser, war schon an ganz anderen Orten gewesen. An Orten, wo was los war, wo es Tanzlokale gab, wo die Post abging.
Thomas stöhnte erneut auf. Anstatt Margaretas Tipps, die Fahrstrecke betreffend, anzunehmen, glotzte er wie gebannt auf sein Navi, sein Allerheiligstes.
Was für eine Schnapsidee, die alten Damen in den Urlaub mitzunehmen. Da hatte sie wohl der Teufel geritten, als sie der spontanen Idee von Thomas, dem Ersten Hauptkommissar des KK 11 im Polizeipräsidium Buer, zugestimmt hatte. Wieso war sie an dem Abend so rührselig gewesen? Hatte sie zu viel getrunken?
Thomas’ Mutter Eleonore war seit einigen Monaten Witwe, jedoch längst nicht so trauernd und hilflos, wie Thomas es darstellte. Mit ihr war nicht gut Kirschen essen, und Margareta mochte sie nicht, diese bissige Alte. Ihr Pessimismus, den Eleonore täglich mehrfach auslebte, wurde nun auch noch belohnt. Als der Vater noch lebte, hatte Thomas ständig über seine Mutter geschimpft und es irgendwann tatsächlich geschafft, dem Elternhaus zu entfliehen, in dem er während langer Krankheit Unterschlupf gesucht hatte. Er hatte sich eine Wohnung in der Hertener City gemietet. Dort kreuzte die Alte jedoch dreimal die Woche auf, hatte sogar einen eigenen Wohnungsschlüssel erbettelt, putzte die Wohnung, brachte dem Sohnemann etwas zu essen und bügelte seine Hemden. Natürlich steckte sie auch die Nase in seine Post. Bei Bedarf beantwortete sie diese gleich. Seit ein paar Wochen rannte sie dem Pfarrer Ansgar Morgenrot der katholischen St.-Johannes-Gemeinde die Kirche ein, schloss sich dort der Seniorenstube an und machte alle wuschig.
Da war Margaretas Mutter Waltraud anders. Zwar auch eine Nervensäge par excellence, aber sie ließ sich noch gut in die Schranken weisen. Nach einem endgültigen Zerwürfnis mit ihrem Gelegenheitsliebhaber Sepp, dem Bandleader einer Altherrencombo, war sie in Depressionen verfallen. Margareta hatte zugestimmt, Eleonore mit ins Sauerland zu nehmen, wenn auch Waltraud dabei sein dürfe. Die beiden ungleichen Frauen hatten sich erst heute im Auto kennengelernt. Ein Vortreffen hatte Margareta strikt abgelehnt. Sie wusste, warum.
»Ist denn da genug Platz in dem Haus, mein Junge? Du weißt, ich wohne nicht gerne eingepfercht«, kam es von hinten mit schriller Stimme. Selbstverständlich sprach sie nur Thomas an. »Und Schnee liegt auch nicht. Du hast gesagt, im Sauerland liege zu Weihnachten Schnee.«
Die selbstständige Privatermittlerin Margareta war für die dominante Frau ein lästiges Übel, das sie in Kauf nehmen musste, obwohl Thomas ihr in der Hinsicht mehrmals den Kopf gewaschen hatte.
»Ich habe dir das Haus schon 20 Mal beschrieben und dir Fotos gezeigt. Es hat 100 Quadratmeter und zwei Bäder. Du teilst dir mit Waltraud ein Bad, hast aber ein eigenes Schlafzimmer. Und was den Schnee betrifft, der kommt bestimmt noch. Immerhin ist es hier sechs Grad kälter als bei uns im Ruhrgebiet. Die Sonne scheint und die Landschaft ist mit einer Frostschicht überzogen. Das sieht zauberhaft aus. Erfreue dich doch an dem Anblick.«
Auf die wunderschöne Landschaft ging Eleonore nicht ein. »Ein Bad teilen? Ich weiß nicht.« Ein missbilligender Blick traf ihre Sitznachbarin Waltraud.
»Im Krankenhaus hast du dir das Bad auch teilen müssen.« Ab jetzt schwieg Thomas.
Margareta fragte sich, ob auch er die Idee inzwischen für vollkommen idiotisch hielt. Die gute Tat zu Weihnachten? Würde sie sich als Flop entpuppen? Außerdem: Wieso mussten sie schon vor dem Fest anreisen? Am 23.12.? Das war eine Schnapsidee, fand Margareta. So hatten sie zu Hause keine Arbeit, mussten keinen Baum kaufen und weniger Lebensmittel, meinte Thomas. Doch sie war sich sicher, dass er nur dem Ärger entgehen wollte, den die Frage, wo und mit wem man den Heiligabend verbringen wollte, mit sich bringen würde. Ärger wäre da vorprogrammiert gewesen.
Ein kurzer Blick in den Kosmetikspiegel in der Sonnenblende nach hinten ließ Margaretas Kinnlade noch weiter herunterklappen. Eleonore zupfte an ihren frischen schwarzen Strähnen herum, die der Friseur erst einen Tag zuvor in ihr grellgraues Haar gezaubert hatte. Irgendwie erinnerte sie Margareta an einen ausgestopften Tiger. Wenn das modern sein sollte, fand sie die dunkelblonde Einheitsfrisur ihrer Mutter tausend Mal besser. Waltraud saß da wie ein Häufchen Elend, das schon jetzt bereute, mitgefahren zu sein.
Der Passat erreichte die winzige Ortsmitte. Ein Edeka-Laden, ein schmuckes Café, schräg gegenüber das Hotel Albers mit Restaurant. Überall standen beleuchtete Weihnachtsbäume, die eine tolle Stimmung zauberten. Die Hunaustraße ging in die Graf-Gottfried-Straße über, und kurz darauf führte sie das Navi rechts weg in die kleine Straße »Zur Wahr«.
»Geradeaus, immer geradeaus, bis es nicht mehr weitergeht«, hatte die Vermieterin am Telefon den Weg beschrieben. Die befestigte Straße mündete in einen Feldweg, der bis zum Waldrand führte. Rechts der Strecke lag ein großer Bauernhof. Wenige Meter weiter konnte man das Ferienhaus direkt am Wald erblicken. Ein echter Wintertraum. Unwirklich schön lag es da in frostiger Umgebung, von der Sonne angestrahlt.
Margaretas Laune besserte sich. Thomas lächelte versöhnlich zu ihr herüber, nachdem er auf dem Parkplatz neben dem Eingang das Auto abgestellt hatte.
Seine Mutter zog einen schiefen Mund und fing gleich wieder an zu meckern. »Hier soll ich zehn Tage bleiben? In dieser Einsamkeit? Das Haus liegt ja am Arsch der Welt. Bis zum Ort sind es zu Fuß mindestens zwei Kilometer. Da musst du mich fahren, mein Junge.«
»Einen Teufel werde ich tun. Es sind genau 900 Meter bis zum Ort. Die kannst du gut zu Fuß zurücklegen. Das Auto wird nicht angerührt. Ich will mich erholen.«
Margareta musste grinsen. Er hatte ein Machtwort gesprochen, der 42-jährige Sohn, was äußerst selten vorkam. Sicherlich wollte er vor seiner Freundin und deren Mutter den durchsetzungsfähigen Kommissar herauskehren, dachte sie.
Waltraud freute sich und schmunzelte. »Ich finde das Häuschen wunderschön.«
»Tja, wenn man in einer Mietwohnung lebt, ist das sicherlich schön. Für einen Hausbesitzer sieht das völlig anders –«
»Halt den Schnabel, Mutter. Unser Haus stammt aus der Erbmasse der Scheffels. Das hast du nicht erarbeitet«, meinte Thomas mit energischer Stimme.
»Ach, ich hab nichts gearbeitet? Habe ich dich nicht großgezogen? Und Papa den Rücken freigehalten? Zählt das nicht?«
»Das steht doch hier gar nicht zur Debatte.«
Sie wollte es nicht kapieren, die aufgetakelte alte Frau. Fehlte nur noch, dass sie mit der Geschichte kam, in der sein Vater sie durch die Eheschließung aus dem Konsum befreit hatte.
Wütend schloss Thomas das Häuschen mit dem Schlüssel auf, den er unter der Fußmatte gefunden hatte. Thema beendet. Für ihn jedenfalls. Eleonore hingegen wetterte weiter, trennte Eigentum von Mietobjekten laut und unnachgiebig, zählte Vor- und Nachteile auf. Thomas war sonst eher zurückhaltend, aber jetzt waren die harschen Worte, die er an seine Mutter gerichtet hatte, bitter nötig gewesen.
In dem Haus war es nicht gerade warm, doch das würde sich mit einem Dreh an den Heizkörpern schnell ändern. Alles machte einen gemütlichen Eindruck, rustikale Möbel in Kiefernholz, Sauberkeit pur. Eleonore war wütend, dass sie ihre beiden Reisetaschen selbst hineintragen musste. Doch Thomas war der Meinung, wer Wasserkästen für seine Nachbarn in deren Keller schleppen konnte, konnte auch sein Gepäck ins Haus tragen.
Waltraud hatte ihren Koffer, zwei Taschen und fünf Plastikbeutel bereits während Eleonores Gezeter ins Haus gebracht. Wenn Margareta gehofft hatte, Thomas sei ein Kavalier alter Schule und wäre ihr gepäckmäßig behilflich, hatte sie sich getäuscht. Er trug nur sein winziges Köfferchen sowie seinen Laptop hinein.
Die Zimmerverteilung oblag Margareta. Zwei fast identische kleine Doppelzimmer mit Blick zum Wald waren für Eleonore und Waltraud bestimmt. Thomas und Margareta zogen in das Schlafzimmer unters Dach.
Ein erstes Treffen im gemütlichen Wohnzimmer mit freiem Blick auf den Ort sollte einige Dinge klären, zu denen sich Thomas eine Liste gemacht hatte. Doch seine Mutter, die ihren blauen Thermomantel samt roter Mütze achtlos auf einen Sessel geworfen hatte, legte los, bevor er die Liste vorlesen konnte.
»Wir könnten für Heiligabend Grünkohl kochen. Im Ort gibt es einen Metzger und einen Edeka, habe ich gesehen. Und einiges an Vorräten haben wir ja mitgebracht.«
»Heiligabend isst man Kartoffelsalat mit Würstchen. Ganz traditionell. Den kann man schon morgens zubereiten. Das macht viel weniger Arbeit. Bei uns ist das seit jeher so, dass es an Heiligabend Kartoffelsalat gibt. Nicht wahr, Margareta?« Waltraud nahm auf dem Sofa Platz und schaltete den Fernseher ein. »Meine Lieblingssendung fängt gleich an. Die darf ich nicht verpassen.« Mit der freien Hand griff sie nach den selbst gebackenen Plätzchen auf dem Teller, der als Willkommensgruß auf dem Wohnzimmertisch stand.
»Moment, Moment, hier kann nicht jeder machen, was er will. Ich habe einige Punkte notiert, die ich gerne verkünden möchte.« Thomas brach der Schweiß aus, den er sich mit dem Ärmel seines schicken dunkelblauen Pullovers abtupfte.
Margareta sagte nichts, seufzte nur und setzte sich neben ihre Mutter auf das Sofa. Sie wusste, dass diese Liste sinnlos war. Die alten Frauen würden sich niemals danach richten.
»Und wir werden sehen, was wir an den Feiertagen auf den Tisch bringen. Vielleicht einen Braten?«, fragte Eleonore, starrte ihren Sohn an und hoffte, dass er jetzt nichts Falsches sagte.
»Wir sind nicht zum Kochen und Braten hergekommen. Erholung ist angesagt. Im Ort ist ein gutes Restaurant, da werden wir an den Feiertagen essen. Dazu habe ich mir Folgendes notiert.«
Doch wieder unterbrach ihn seine Mutter und polterte los: »Was soll ich denn den ganzen Tag machen, wenn ich nicht kochen darf? Der Fernseher ist ja von der hier belegt.« Verächtlich deutete sie auf Waltraud.
»Du kannst eine Wanderung unternehmen. Der Pilgerweg auf den Kreuzberg ist äußerst interessant. Damit kannst du beginnen und dabei über deine Schandtaten nachdenken. Hm, was meinst du, Mutter?«
»Willst du, dass ich gleich wieder abreise? Was soll das? Außerdem: Wer weiß, was die da im Lokal kochen!«
»Ich verlese jetzt meine Notizen, hört zu. Bezüglich des Fernsehgerätes habe ich mir gedacht …«
Weiter kam er nicht. Eleonore und Waltraud bekamen sich in die Haare und es flogen verbal die Fetzen.
Margareta wurde es zu bunt. Sie zog sich ins Schlafzimmer im Obergeschoss zurück. Sie musste schmunzeln. Genau so hatte sie es sich vorgestellt. Das konnte nicht gutgehen. Sie ging zum gardinenlosen Fenster und schaute hinaus. Was für ein friedlicher Anblick. Das kleine Örtchen, wie es im frostigen Überzug dalag. Die Sonne schaffte es nicht, die Eiszapfen, die am tiefen Dach hingen, zum Schmelzen zu bringen. Wie die Soldaten reihten sie sich nebeneinander auf und glitzerten traumhaft schön. Margareta öffnete das Fenster. Eine eisige Kälte schlug ihr entgegen. Neugierig brach sie sich einen Zapfen ab, um festzustellen, wie kalt er war. Ein wunderbares Stück Natur, dachte sie, bevor sie den Zapfen auf den Rasen warf und das Fenster schloss. Sie widmete sich ihrem Gepäck, entschied sich für das rechte Bett, hievte ihren Koffer und die große Reisetasche darauf und begann nach einem Blick in den Kleiderschrank mit dem Auspacken.
»Ich wollte das rechte Bett«, meldete sich Thomas zu Wort, der soeben den Raum betrat.
»Die Frau liegt rechts, der Mann links. Das ist auch in einer Gruft so.«
»Wer sagt das? Ist das ein Gesetz? Außerdem habe ich noch nicht vor, zu sterben. Ein Mann muss immer in der Nähe zur Tür schlafen, um die Frau im Notfall beschützen zu können.«
»Ich kann mich alleine verteidigen«, widersprach Margareta, entnahm ihrem Koffer Kleidungsstück für Kleidungsstück und legte es in den rustikalen Bauernschrank. Das kann ja heiter werden, dachte sie, nahm es jedoch gelassen. Zur Not war im Zimmer ihrer Mutter noch ein Bett frei.
Thomas knetete sein Kinn und wartete ab. Als Margareta keine Anstalten machte, das Bett zu räumen, belagerte er beleidigt das linke Bett.
»Und, haben sie sich die Punkte auf deiner Liste angehört, die beiden Damen? Jedenfalls herrscht da unten Ruhe.«
»Ich bin auf taube Ohren gestoßen. Meine Mutter ist beleidigt. Sie ist zu Fuß los in den Ort, um einzukaufen. Deine Mutter hat die Beine hochgelegt und schaut fern.«
»Willst du ihr das verbieten?«
»Nein, natürlich nicht. Aber ich bin der Meinung, dass wir das Fernsehen zeitlich begrenzen sollten.«
»Warum? Ist das hier eine Jugendherberge? Sie sind doch erwachsen. Wenn sich jemand gestört fühlt, kann er sein Zimmer aufsuchen.« So ein Paragrafenreiter, dachte Margareta und fragte sich, ob er schon immer so kleinkariert war.
»Ordnung hat noch niemals geschadet!«
»Wir beide schauen kaum fern. Sollen sich die beiden doch um die Fernbedienung schlagen.«
»So siehst du das?«
»Ja, klar. Du kannst nicht alles regeln. Das ergibt sich schon. Lass es locker angehen!« Sie machte ein paar Schritte auf ihn zu, schmiegte sich in seine Arme und küsste ihn. Margareta wollte sich das wohlige Gefühl, dass sich in ihr ausbreitete, nicht kaputt machen lassen. Weihnachten, das Fest der Liebe, der Wärme und der Hoffnung. Und das Fest des guten Essens. Das Hotel Albers war ihr mehrfach empfohlen worden. Wieso sollte es dort kein gutes Weihnachtsessen geben? Die Mütter fügten sich schon noch. Eleonore würde alte Geschichten erzählen und Waltraud würde ihre beisteuern. Schlimmstenfalls würden sie sich zanken. Das konnte durchaus auch unterhaltsam sein.
Als Margareta eine Stunde später die Treppe ins Untergeschoss hinunterstieg, herrschte im Wohnzimmer eitel Sonnenschein. Eleonore war zurück und hatte Kaffee für alle gekocht. Nachdem sie sich gemeinsam an den Tisch gesetzt hatten, erzählte sie eine Anekdote von Weihnachten 1947. »Damals gab es gar nichts. Mein Vater musste seine geerbten Skier opfern, um den Ofen für das Badewasser anzuheizen. Ich war gerade ein halbes Jahr alt«, gab ihr frisch geschminkter Mund von sich.
Thomas schüttelte den Kopf. Er kannte diese Geschichte zur Genüge. Der Clou war, dass immer etwas anderes dran glauben musste. Einmal wurden Skier verheizt, ein weiteres Mal die Gitarre und manchmal sogar ein guter Esszimmerstuhl. »Da siehst du, wie schlecht die Zeiten waren, Mutter. Zum Glück sind hier moderne Badezimmer, und wir brauchen kein Möbelstück zu opfern, um dich zu baden. Heute gibt es Extreme in die gegensätzliche Richtung. Zum Beispiel, wenn du dir für 120 Euro eine total bekloppte Frisur machen lässt.«
Empört riss Eleonore den Mund auf. »Das geht dich überhaupt nichts an. Das habe ich von meiner Rente bezahlt.«
»Nur komisch, dass du, solange Vater noch lebte, herumgelaufen bist wie eine graue Maus. Seit es in deinem Leben diesen Pfarrer Morgenrot gibt, trägst du diese extravagante Zebrafrisur.«
»Passt es dir nicht, dass Pfarrer Morgenrot sich so rührend um mich kümmert? Man könnte meinen, du wärst eifersüchtig?«
Jetzt musste Thomas lachen. So laut und heftig, dass er sich an einem Zimtstern böse verschluckte und um Luft rang. »Denk daran, dass dieser dickliche Pfarrer an das Zölibat gebunden ist«, sagte er, als er sich wieder gefangen hatte.
»Thomas«, protestierte seine Mutter lautstark und errötete.