Cyber-Court of Justice

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Cyber-Court of Justice
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

CO2-Ausstoß, Erderwärmung, Klimakonferenzen, in diesem Umfeld spielt die Geschichte. Eine Erfindung könnte helfen, die weltweit vereinbarten Klimaziele für 2020 zu erreichen. Aber die Erfindung schlummert seit 25 Jahren ungenutzt im Tresor, es wurden und werden weiterhin massiv fossile Brennstoffe eingesetzt. Justus Richter weiß von dieser Erfindung und erhebt Anklage wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Es folgt der erste Gerichtsprozess im World Wide Web.

Justus Richter ist der erste Richter im World Wide Web. Er legitimiert sich und sein Tun durch das Recht auf zivilen Ungehorsam. Als Blogger ködert er Leser mit Themen wie unlautere Werbung, Lobbyismus und Whistleblowing. Politik und Wirtschaft misst er am Prinzip Verantwortung und geißelt beide als ehrlos und verantwortungslos. In seinem ersten Prozess im WWW ist ein führender Lobbyist der Energiewirtschaft wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt. Ein Whistleblower tritt als Kronzeuge auf. Über schuldig oder nicht schuldig entscheiden die Follower im WWW und sie fällen ein aufsehenerregendes Urteil.

Die Geschichte ist frei erfunden. Jedwede Ähnlichkeit mit Lebenden oder Verstorbenen oder Vorkommnissen in Gegenwart oder Vergangenheit wäre rein zufällig und ist nicht beabsichtigt.

Nicht erfunden sind das Prinzip Verantwortung von Hans Jonas und die Geschehnisse rund um die Klimakonferenzen.

Marc Kilian Ritter

C y b e r-C o u r t o f J u s t i c e

Novelle

Tag 1: Prozesseröffnung

Die Übertragung im World Wide Web war für 10:00 Uhr Ortszeit angekündigt. Ab 9:45 Uhr erschien unter der angegebenen Webadresse ein Standbild, überlagert mit einem Hinweis in Druckschrift:

Montag, 05.02.2018, 10:00 Uhr

Liveübertragung aus dem

Internationalen Gerichtshof für Menschenrechte

Kammer „Erfindungen zum Wohle der Menschheit“

Verfahren gegen Peter Weiss

Anklage: Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Vorsitzender Richter: Justus Richter

Anklagevertreterin: Katharina Herzog

Verteidiger: Alexander Libert

Man sah einen typisch für einen Gerichtssaal eingerichteten Raum, der ein bisschen an den Gerichtssaal von Den Haag erinnerte. Das heißt, die Einrichtung in hellbeige war vergleichbar, die Größenverhältnisse aber nicht. In Den Haag tagt das Gericht in einem Saal und hier war ein etwa 50 Quadratmeter großer Raum zu sehen. Die Kameraeinstellung erfasste die ganze Szene in u-förmiger Anordnung. In der Mitte das Richterpult, links daneben die Anklagebank mit dem Verteidigerplatz und gegenüber der Platz für die Anklagevertretung. Auf jedem Tisch standen ein Wimpel der Vereinten Nationen, ein Bildschirm mit Tastatur, eine Flasche Wasser mit Glas und auf der Seite des Anklagevertreters zusätzlich Gesetzestexte in rotem Einband.

Pünktlich um 10:00 Uhr öffnete sich eine Tür auf der linken Seite des Raumes und Peter Weiss trat ein. Dunkler Anzug, weißes Hemd, gestreifte Krawatte. Keine Anzeichen von Nervosität oder Angst. Eine Person begleitete ihn. Vielleicht ein Justizbeamter? Nein, nicht möglich. Die Person trug eine Maske. Hinter den beiden erschien eine dritte Person, ebenfalls maskiert und mit einer schwarzen Robe bekleidet. Vermutlich der Verteidiger. Gleichzeitig betrat auf der gegenüberliegenden Seite die Anklagevertreterin den Raum, auch sie war maskiert und trug eine schwarze Robe.

Nun öffnete sich die Tür hinter dem Richterpult und herein trat der vorsitzende Richter, maskiert und in roter Robe. Es entstand das klassische Bild eines Prozesses: in der Mitte der Richter, links der Angeklagte mit Verteidiger, rechts der Ankläger. Wären da nicht die Masken. Was waren das für Masken? Offensichtlich stellten sie eine Eule dar, eine Schleiereule: das Gesicht herzförmig, keine Ohren, große dunkle Augen, Nase und Schnabel bildeten ein Dreieck. Alle Beteiligten trugen die Masken wie beim venezianischen Karneval als Halb- oder Sprechmaske, die nur einen Teil des Gesichts bedeckte. Mund und Kinn waren frei. Anders als in einem klassischen Prozess gab es zudem keinen Gerichtsschreiber.

Richter, Verteidiger und Anklagevertreter nickten sich stumm zu, dann nahmen alle Anwesenden Platz.

Unten rechts auf dem Bildschirm lief ein Counter: Schon nach kurzer Zeit war die Anzahl der Besucher auf der Seite vierstellig. Der Prozess schien im WWW auf allgemeines Interesse zu stoßen und über die sozialen Netzwerke verbreitete sich die Webadresse mit Kommentaren wie „muss du sehen“ schnell weiter.

An seinem Wohnsitz in Düsseldorf saß Peter Weiss mit seiner Frau im Wohnzimmer, umgeben von zwei schwarz gekleideten Herren und einem dritten leger angezogenen jungen Mann. Die Herren waren Beamte vom Bundeskriminalamt in Wiesbaden, Abteilung Cyberkriminalität. Alle Anwesenden starrten im Wohn-Esszimmer auf einen großen Fernseher, der über ein Kabel mit einem Computer verbunden war. Der junge Mann saß mit einem Laptop auf den Knien etwas abseits. Für einen Außenstehenden bot sich ein seltsames Bild: Peter Weiss im Gerichtssaal und Peter Weiss auf dem Sofa.

Frau Weiss schüttelte ungläubig den Kopf und stieß ein verächtliches „Püh“ aus. „Was soll das?“, fragte sie. „Das ist doch Fake, Theater, Schmierentheater. Warum tragen die alle diese blöden Masken?“

Peter Weiss‘ Pulsschlag war leicht erhöht. Er saß auf dem Sofa und er saß im Web-Gerichtssaal. „Das bin ich. Wenn es Theater ist, dann haben die einen guten, einen sehr guten Maskenbildner. Ich sehe doch echt aus, echt gut. Und, verdammt noch mal, alle Welt, die zusieht, glaubt, dass ich das bin.“

Der Counter lief immer noch hoch.

Im Hintergrund tuschelten zwei der Beamten leise: „Norbert, sind die Kollegen am Ball? Haben die schon was ermittelt?“

Norbert antwortete mit einem Nicken auf „am Ball“ und mit einem Kopfschütteln auf „haben die schon was“. Der leger gekleidete BKA-Mann hieß eigentlich Bernd und war mit Leib und Seele Computerspezialist. Ein Nerd. Und Norbert und Nerd passten gut zusammen.

Rückblick: Justus Richter beginnt zu bloggen

Anfang des Jahres 2017 eröffnete im World Wide Web ein neuer Blog. Bei über 300 Millionen Blogs weltweit und 300.000 in Deutschland1 war dies kein epochales Ereignis. Der Blog erschien unter der Kategorie „PoliEthik“, Autor war Justus Richter. Sein Anliegen fasste er so zusammen: „Geld regiert die Welt, ohne Ethik und ohne Rücksicht auf die Menschen, aber mit Unterstützung der Politik. Was können wir dagegen tun?“ Weitere Informationen gab es nicht. Vor allem fehlten Angaben zur Person Justus Richter. Doch trotz der Vielzahl vorhandener Blogs fand auch dieser interessierte Leser.

„Verbraucher fragen, Verbraucher klagen an“ war der Titel des ersten Themas. Einige der aufgeworfenen Fragen waren: Sollen Prominente Werbung für kommerzielle Produkte machen? Promis verdienen doch nicht schlecht. Müssen Fußballprofis Werbung für ungesunde Chips machen? (Gesunde Chips gibt es wohl kaum.) Ist Werbung für Produkte, die nachweislich krankmachen, überhaupt zulässig? Sollte ein Label für krankmachende Produkte (nicht für gesunde Produkte) eingeführt werden und wer soll das umsetzen?

Die Reaktionen darauf kann sich jeder ausmalen: 1000 Leser hatten 1000 Meinungen. Jessica (Jurastudentin) schrieb: „Nach der geltenden Rechtsprechung haben wir es mit informierten Verbrauchern zu tun, die Übertreibungen in der Werbung als nicht ernst gemeint erkennen. Deshalb: nicht aufregen.“ Max schrieb: „Wenn die ganze Werbung nur aus Übertreibungen besteht, du den ganzen Tag damit berieselt wirst, dann glaubst du es irgendwann.“ Follower Weiß-Nicht-Alles schrieb: „Ein Paar schwarze Schafe gibt es immer. Leider sind es immer dieselben schwarzen Schafe. Die meisten Sportler sind doch sauber.“

Dann schwenkte die Diskussion von der im Alltag allgegenwärtigen Werbung und der damit verbundenen Beeinflussung auf das Thema Verbände und Lobbyismus. Was sind Verbände? Gehört Lobbyismus verboten? Sollen die Namen aller Lobbyisten veröffentlicht werden? Ist die vom Bundestagspräsidenten veröffentlichte „Öffentliche Liste über die beim Bundestag registrierten Verbände“ ausreichend? Was verbirgt sich tatsächlich hinter den genannten Verbandszielen? Welche Arten von Lobbyismus gib es? Kirchen, Gewerkschaften, karitative Vereine sind auch Lobbyisten. Gibt es hier Gut und Böse?

Plötzlich wurden die Kommentare der Besucher spitzfindiger und sie enthielten stichhaltige Argumente für oder gegen ein Verbot des Lobbyismus. Es wurde auf Vereine und Aktionen hingewiesen, die sich aktiv mit Lobbyismus auseinandersetzten und Verbesserungsvorschläge unterbreiteten.

Beispiele:

https://www.lobbycontrol.de

https://sven-giegold.de

https://marktplatz.bewegung.jetzt/t/lobbyismus-kontrollieren/212

https://www.transparency.de/

Eine inhaltliche Auseinandersetzung auf hohem Niveau entwickelte sich. Und genau diese hatte Justus Richter auch beabsichtigt.

Die Thematik war und ist von allgemeinem Interesse. Allein Amazon zeigt über 1.000 Ergebnisse oder Vorschläge für „Lobbyismus“ an, eine Googlesuche bringt ungefähr 420.000 Ergebnisse.

Die Vor-und Nachteile von Lobbyismus oder, wie oft weniger provokant ausgedrückt, von Verbandstätigkeit wurden diskutiert. Da war von Politikberatung und Entlastung des Staates die Rede, von der Übernahme gesellschaftlicher Aufgaben, aber auch von einseitiger, wirtschaftlicher Einflussnahme, von Manipulation, ja, in sehr scharfen Formulierungen auch von Korruption. Extreme Beispiele wie die Lobby der Waffenindustrie in den USA oder die Auto-Lobby in Europa und Deutschland verdeutlichten, dass eine Vielzahl von Menschen diese Art der Politikberatung kritisch bis negativ beurteilt. Die meisten waren sich in einem einig: Lobbyismus ist Interessenvertretung. Die ist legitim und damit ist sie auch Bestandteil unseres täglichen Lebens. Dennoch schlugen die Wogen im Blog hoch. Erkannten doch viele, dass sie, die Bürger, die Verbraucher, dieser Art von fünfter Gewalt ohnmächtig ausgeliefert waren. Denn, Lobbyismus ist nicht transparent. Und warum nicht? Weil die Lobbyisten bis jetzt stark genug waren, genau das zu verhindern. Also doch eine Art Kumpanei zwischen Lobbyisten und Politkern?2

 

Im weiteren Verlauf der Diskussion ging es nicht mehr um die Frage von Interessenvertretung und Einflussnahme. Es ging darum, wie die Öffentlichkeit an die Informationen kommt, wer oder welches Unternehmen mit welchem Ziel Lobbyismus betreibt und wie Verbandswesen und Lobbyismus funktionieren. Um wieviel Geld ging es? Was wurde verhindert? „Das, etwas gepuscht wird, kennen wir ja, nehmen es vermutlich nicht mehr wahr. Aber was wird nicht gepuscht, was ist damit?“ Es ging ums Eingemachte.2

Justus Richter wollte auf ein spezielles Thema kommen, das seinem eigentlichen Anliegen entsprach. Er lenkte seine Leser durch geschickte Hinweise und Kommentare. Über die Gedankenanstöße: „Was findet im Verborgenen statt?“ und „Weshalb wissen wir darüber so wenig?“ kam vom Follower Sokrates dieser Hinweis: Nichts könne im Geheimen ablaufen, es gebe keine One-Man-Shows. Man – und damit waren die gemeint, die im Verborgenen agieren - brauche immer Mitarbeiter, Zuarbeiter. Und das seien Mitwisser. Und diese intimen Kenner gelte es, wachzurütteln und anzuzapfen. Landläufig werde das als Geheimnisverrat bezeichnet. Andere würden es Whistleblowing nennen.

Mit hoher Wahrscheinlichkeit waren der Leser Sokrates und der Blogger Justus Richter identisch.

Tag 1: Prozessfortsetzung:
Zuständigkeit des Gerichtes

WWW:

Der Angeklagte setzte sich ebenfalls. Die Kamera wechselte von der Totalen auf den Vorsitzenden in Nahaufnahme.

„Die erste Verhandlung des Internationalen Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer Erfindungen zum Wohle der Menschheit, ist eröffnet.“ Der Richter stand, während er die Verhandlung eröffnete. „Die Legitimation dieses Gerichtes basiert auf zwei Punkten, die auch die Leitmotive bilden: das Prinzip Verantwortung und der zivile Ungehorsam.

Das Prinzip Verantwortung3,4:

Wir fragen: Was hast du getan und war es zum Wohle oder zum Schaden der Menschen? Wenn es zum Schaden der Menschen war und es keine Bagatelle darstellt oder in den UN-Konventionen bereits behandelt wird, dann wollen wir hierfür die Gerichtsbarkeit sein. Insbesondere dann, wenn die Menschheit davon betroffen ist. Wir wollen es aufgreifen. Wir wollen anklagen. Wir wollen im Namen der Menschheit Recht sprechen. Dieses Prinzip gilt in gleicher Weise für Taten und Handlungen, die du nicht getan hast, aber hättest tun können, also für Unterlassungen, die zum Wohle der Menschen gewesen wären. Eine besondere Schwere liegt dann vor, wenn das Tun oder Unterlassen dir Vorteile verschafft hat.

Ziviler Ungehorsam5:

Die Verbindungen zwischen Politik und Wirtschaft sind heute zu eng. Die rechtsstaatlichen Mittel, gegen diese enge Bindung anzugehen, sind zwar vorhanden, solches Eingreifen zieht sich aber über Jahre. Dann sind Fakten geschaffen, die nicht mehr auszuräumen sind, ohne dass neuer Schaden entsteht. Beispiel Klimaschutz. Welche endgültigen Beweise für die Erderwärmung sollen noch vorgelegt werden? Wäre die Feststellung, dass alle kontinentalen Eismassen geschmolzen sind, ein Beweis oder würde dies nur zu der Aussage führen, wir erlebten eine Warmzeit?

Wir haben jetzt Verpflichtungen gegenüber der heute lebenden und der zukünftigen Menschheit, weil wir um die Wirkungen unseres derzeitigen Lebensstils wissen. Wir wollen nicht warten, bis der Gesetzgeber Veränderungen beschließt, die wieder von Lobbyisten mitgestaltet wurden, so dass nur halbherzige Lösungen entstehen.“

Justus Richter machte eine Pause. Man spürte förmlich seine eigene Ergriffenheit, seine Überzeugung. Er trank einen Schluck Wasser, räusperte sich und fuhr fort. „Dies sind keine neuen Gedanken, ist keine neue Weltanschauung. Alle Philosophen seit Platon über Emanuel Kant bis hin zu Hans Jonas teilten sie. Die Menschenrechte der französischen Revolution, die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten und die Menschenrechte der Vereinten Nationen basieren auf diesen Gedanken. Es wird Zeit für neue alte Gedanken. Dies ist das Anliegen dieses Gerichtes.

Wir beziehen uns auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, das Völkerstrafgesetzbuch, das Grundgesetz und die Strafprozessordnung der Bundesrepublik Deutschland in einer für unsere Anliegen angepassten Fassung. Das Gericht ist damit für alle Menschen zuständig und wird im Namen aller Menschen ein Urteil sprechen.

Ob der Angeklagte schuldig oder nicht schuldig im Sinne der Anklage ist, entscheiden die Follower dieses Prozesses im Netz. Alle Follower werden nach dem Plädoyer der Verteidigung aufgefordert, ihr Urteil zu fällen. Jeder Prozessbeobachter ist stimmberechtigt. Eine Anmeldung oder Registrierung ist nicht erforderlich. Für das Urteil gilt die einfache Mehrheit.“ Der Richter setzte sich, während die Kamera wieder auf die Totale wechselte. „Ich stelle fest, dass der Angeklagte, die Anklagevertreterin, der Verteidiger anwesend sind.“

Düsseldorf:

„Es gibt beim Internationalen Gerichtshof keine Kammer „Erfindungen zum Wohle der Menschheit“, bemerkte Norbert. „Das Netz diskutiert schon fleißig. Es gibt große Zustimmung für die vorgetragene Legitimation.“

Frau Weiss konnte die Situation noch nicht abschließend einordnen. „Wie, du bist angeklagt? Davon weiß ich ja gar nichts. Verheimlichst du mir etwas?“

Einer der anwesenden Beamten erklärte, dass auch das BKA noch nicht so recht wisse, was es mit diesem Prozess auf sich habe.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?