Wirtschafts- und Sozialgeschichte Westeuropas seit 1945

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Die Integration der DPs in den westeuropäischen Herkunfts- oder Aufnahmeländern erwies sich als schwierig. Das gilt sogar für diejenigen, die in ihr Heimatland zurückkehrten. Besonders die ehemaligen Zwangsarbeiter hatten mit dem Vorurteil zu kämpfen, sie seien eigentlich als Kollaborateure nach Deutschland gegangen. Die Nachkriegserinnerung konzentrierte sich in Frankreich, aber auch in anderen westeuropäischen Ländern wie Belgien, den Niederlanden und Italien auf den verklärten Widerstand und die Opfer im Kampf gegen die deutschen Besatzer. Demgegenüber stießen viele ehemalige Zwangsarbeiter auf Desinteresse oder Ablehnung. Auf der anderen Seite war die berufliche und familiäre Eingliederung vergleichsweise unproblematisch. Angestrebt wurde besonders in Frankreich, die ehemaligen Zwangsarbeiter in ihre alten Betriebe zu reintegrieren. Wo dies nicht gelang, genossen sie Vorrang bei der Zuweisung von Arbeitsplätzen. Schwieriger war naturgemäß die Integration der ausländischen, meist osteuropäischen Flüchtlinge. Viele, insbesondere qualifizierte Arbeiter oder Akademiker, mussten einen Statusverlust hinnehmen und fanden lediglich in niedrig qualifizierten Bereichen Arbeit.

1.3.2Ethnische Säuberungen

Ähnliche Integrationsprobleme zeigten sich bei den deutschen Vertriebenen. Insgesamt handelte es sich bei den summarisch „Vertreibungen“ genannten ethnischen Säuberungen der Deutschen aus Polen, der Tschechoslowakei, der Sowjetunion und Ungarn um die größte Zwangsmigration der europäischen Geschichte. Man schätzt, dass 12 bis 14 Millionen Deutsche ihre Heimat verlassen mussten. Ca. 8 Millionen siedelten sich in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands an, ca. 4 Millionen in der SBZ. Der prozentuale Anteil der Vertriebenen an der Bevölkerung lag also im Osten Deutschlands höher als im Westen. Allerdings war dort die öffentliche Thematisierung der Vertreibung (offiziell „Umsiedlung“) tabuisiert, im Gegensatz zur Bundesrepublik, wo besonders die Vertriebenenverbände die Erinnerung bis heute wachhalten. Die Zahl der Todesopfer ist umstritten, aber neuere Schätzungen gehen eher von ca. 30.000 (Tschechoslowakei) bzw. 400.000 (Polen) Toten aus, als von den in der älteren Literatur häufig genannten 2 Millionen.

Generell muss man, was die zeitliche Abfolge angeht, zwischen Flucht in den letzten Kriegstagen, Vertreibung nach Kriegsende und vertraglich geregelter Zwangsaussiedlung nach dem Potsdamer Abkommen (August 1945) unterscheiden. Vor allem die ersten beiden Phasen, Flucht und Vertreibung, waren von massiver Gewalt und hohen Opferzahlen begleitet. Das Potsdamer Abkommen legitimierte zwar einerseits die Vertreibungen, versprach aber auch einen „geordneten und humanen“ Bevölkerungstransfer. Auch wenn dies nicht in jedem Fall eingehalten wurde, sanken die Opferzahlen nach dem Potsdamer Abkommen deutlich. In der Ikonografie dominiert das Bild der Flüchtlingstrecks mit Planwagen, aber wahrscheinlich sind mehr Vertriebene mit der Eisenbahn gekommen (allerdings nicht in bequemen Personenwaggons, sondern in Vieh- oder Güterwaggons).

Abb 4Ein Flüchtlingstreck nach Deutschland im Juli 1944 (Quelle: Bundesarchiv 183-W0402–500).

Bei den Motiven für die ethnischen Säuberungen überschnitten sich populäre Rachegelüste und ethnischer Hass mit den Zielen und Planungen der Alliierten. Es ist wohl nicht zutreffend, dass die Westalliierten den ethnischen Säuberungen nur widerwillig zugestimmt hätten. Vielmehr sahen sie in der Schaffung ethnisch homogener Nationalstaaten ein Mittel zur Verhinderung von neuen Konflikten in der Zukunft. Das Motiv der kollektiven Bestrafung spielte ebenfalls eine Rolle.

Die Integration dieser großen Zahl an Vertriebenen wird nicht zu Unrecht als große Leistung der jungen Bundesrepublik angesehen. Sie wurde begünstigt durch die Ende der vierziger Jahre einsetzende gute Konjunktur, die die Integration in den Arbeitsmarkt erheblich erleichterte. Im Übrigen aber hat die neuere Forschung gezeigt, dass die Integration nicht so reibungslos verlief wie früher gedacht. In vielen Teilen Deutschlands wurden die Vertriebenen nicht als bemitleidenswerte (noch dazu deutsche) Opfer gesehen, sondern als „Polacken“ beschimpft und ausgegrenzt. Auch sozioökonomisch mussten viele einen Statusverlust hinnehmen. In sozialhistorischer Hinsicht bemerkenswert ist, dass die Vertreibungen erheblich zum Strukturwandel der bundesdeutschen Wirtschaft von der Landwirtschaft zur Industrie beitrugen. Viele der Neuankömmlinge hatten vorher in der Landwirtschaft gearbeitet und fanden in der neuen Heimat Arbeit in der Industrie. Das entlastete die einheimische Bevölkerung, die somit nicht oder doch sehr viel langsamer zur Abwanderung in die Industrie gezwungen wurde.

1.3.3Die Geburt des modernen Flüchtlings

Was waren die Ergebnisse dieser wohl größten Flüchtlingskrise der europäischen Geschichte? Auf internationaler Ebene die UN-Flüchtlingskonvention von 1951, die noch heute die Grundlage für den internationalen Flüchtlingsstatus bildet. Ursprünglich war sie beschränkt auf europäische Flüchtlinge, die aufgrund von Ereignissen vor 1951 fliehen mussten. Diese Einschränkungen wurden 1967 aufgehoben. Die Konvention konstituierte einen individuellen Flüchtlingsstatus, der auf begründeter Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung aufgrund von Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder politischer Meinung beruht. Dieser individuelle Schutzanspruch war neu; in der Zwischenkriegszeit waren lediglich Flüchtlingskontingente von einigen Staaten aufgenommen worden.

Die Veränderung des Flüchtlingsstatus war aber nicht der entscheidende Grund, warum die Flüchtlingskrise in der europäischen Nachkriegszeit doch in den meisten westeuropäischen Staaten relativ glimpflich verlief. Vielmehr wurde die Eingliederung erleichtert durch den wirtschaftlichen Aufschwung der fünfziger und sechziger Jahre. Zwar mussten viele Flüchtlinge sozialen Abstieg hinnehmen, aber eine dauerhafte Konfliktlinie entstand aus dem Flüchtlingsproblem nicht. Allerdings trugen die Flüchtlinge einen überproportionalen Teil der Kosten des Strukturwandels und der Modernisierung der westeuropäischen Gesellschaften.

Literatur

Cohen, Gerard Daniel: In War´s Wake. Europe´s Displaced Persons in the Postwar Order, Oxford 2012

Gatrell, Peter: The Making of the Modern Refugee, Oxford 2013

Jacobmeyer, Wolfgang: Vom Zwangsarbeiter zum heimatlosen Ausländer. Die displaced persons in Westdeutschland 1945–1951, Göttingen 1985

Lüttinger, Paul: Der Mythos der schnellen Integration. Eine empirische Untersuchung zur Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland bis 1971, in: Zeitschrift für Soziologie 15 (1986), S. 20–36

Marrus, Michael R.: The Unwanted. European Refugees in the twentieth century, Oxford 1985

Naimark, Norman: Flammender Haß. Ethnische Säuberungen im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2008

Schwartz, Michael: Vertriebene und „Umsiedlerpolitik“. Integrationskonflikte in den deutschen Nachkriegs-Gesellschaften und die Assimilationsstrategien in der SBZ/DDR 1945–1961, München 2004

Steinert, Johannes-Dieter/Weber-Newt, Inge (Hg.): European Immigrants in Britain, 1933–1950, München 2003

Ther, Philipp: Die dunkle Seite der Nationalstaaten. „Ethnische Säuberungen“ im modernen Europa, Göttingen 2011

1.4Der Nachkriegskonsens

1989 erschien ein Aufsatz des britischen Historikers Ben Pimlott unter dem Titel „Is the post-war consensus a myth?“ Die zugrunde liegende These ist, dass es, anders als damals angenommen, keinen überparteilichen Nachkriegskonsens gegeben habe. Die damals unter britischen Zeithistorikern und Politikwissenschaftlern vorherrschende Meinung war, dass die Zeit zwischen 1945 und Mitte der siebziger Jahre von einem breiten parteienübergreifenden Nachkriegskonsens geprägt worden sei, der erst durch den Neoliberalismus und die entsprechenden Reformen der Regierung Thatcher aufgebrochen wurde. Beide Ansichten lassen sich heute nicht mehr halten. Es gab in der Tat einen Nachkriegskonsens, der alle Parteien von den Kommunisten bis zu den Konservativen oder Christdemokraten umfasste (allerdings nicht die Faschisten oder Nationalsozialisten), aber er hielt nicht bis Mitte der siebziger, sondern zerbrach schon Ende der vierziger Jahre.

Im Grunde genommen war es nicht verwunderlich, dass es diesen Nachkriegskonsens gab. Politisch beruhte er auf der gemeinsamen Gegnerschaft gegen Faschismus und Nationalsozialismus. In Ländern wie Italien oder Frankreich resultierte er direkt aus den Widerstandsbewegungen, in denen Kommunisten, Sozialisten und bürgerliche Kräfte zusammengearbeitet hatten. Hinzu kam aber etwas anderes. Bis weit in die Mittelschichten hinein war die Überzeugung verbreitet, dass der Kapitalismus eigentlich am Ende sei und dass die Zukunft einem wie auch immer gearteten Sozialismus gehören werde. Vor allem die Weltwirtschaftskrise nach 1929 hatte zu dieser Stimmung beigetragen. Hinzu kam, dass die Unternehmer durch die Kollaboration mit dem Nationalsozialismus und Faschismus belastet waren. „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden“, erklärte das Ahlener Programm der CDU in der britischen Besatzungszone im Februar 1947. Es forderte eine „gemeinwirtschaftliche Ordnung“ und die Vergesellschaftung der Kohlenbergwerke. Das Ergebnis waren Bemühungen, den Sozialstaat auszubauen und die Wirtschaft generell einer mehr oder weniger starken Steuerung zu unterwerfen. Diesem Ziel diente bereits vor Kriegsende die Konferenz von Bretton Woods (USA) im Juli 1944, die ein festes Wechselkurssystem mit gewissen Schwankungsbreiten etablierte.

 

1.4.1Widerstand und Volksfrontregierungen

Die Zusammenarbeit zwischen Kommunisten, Sozialisten und bürgerlichen Kräften gegen faschistische oder andere rechtsdiktatorische Bewegungen (z. B. Frankismus in Spanien) ging auf die Zwischenkriegszeit zurück. Nach der leidvollen Erfahrung des Scheiterns der „Sozialfaschismus“-Strategie der Weimarer Republik, nach der nicht die Nationalsozialisten, sondern die Sozialdemokraten den Hauptfeind der Kommunisten darstellten, hatte sich auch die Kommunistische Internationale solchen breiten Bündnissen geöffnet. In Frankreich und in Spanien existierten Volksfrontregierungen aus linken und liberalen Parteien 1936/37 und während des Spanischen Bürgerkriegs 1936–1939. Mit dem Hitler-Stalin-Pakt erfolgte zwar eine Abkehr Stalins von der Volksfrontpolitik, die jedoch im Zweiten Weltkrieg wieder aktuell wurde.

Der Widerstand gegen die faschistischen und nationalsozialistischen Regime war vielfältig. An ihm nahmen Männer und Frauen ganz unterschiedlicher politischer Überzeugung teil, von Kommunisten bis Nationalkonservativen. In Frankreich hatte Charles de Gaulle bereits nach der militärischen Niederlage 1940 zum bewaffneten Widerstand aufgerufen. In der Folgezeit gründeten sich mehrere Gruppen, die gegen die deutsche Besatzung und das Vichyregime kämpften. Sie vereinigten sich 1943 im Nationalen Widerstandsrat, in dem mit André Mercier auch ein Vertreter der kommunistischen Partei saß. Und am 5. September 1944 bildete de Gaulle eine provisorische Regierung, die auch kommunistische Vertreter einschloss. Ähnlich verhielt es sich in Italien, wo die Kommunisten unter Palmiro Togliatti im April 1944 in die postfaschistische Regierung Badoglio eintraten. Die Kommunisten stellten im Sommer 1944 ca. 50.000 von insgesamt 80.000 italienischen Partisanen. In Belgien war sogar schon im Herbst 1941 eine „Unabhängigkeitsfront“ gegen die Nationalsozialisten aus Kommunisten, Sozialisten und Liberalen gebildet worden. Auch hier wurde die kommunistische Partei an der Regierung beteiligt.

Der militärische Beitrag der Partisanen und das Ausmaß der Widerstandsbewegungen sollten nicht überschätzt werden. Nur ca. 2 Prozent der französischen Bevölkerung beteiligten sich an der Résistance. Die Alliierten weigerten sich zumeist, ihre militärischen Pläne mit den Partisanen zu koordinieren, selbst wo dies möglich gewesen wäre. Im November 1944 empfahl der Oberbefehlshaber der alliierten Truppen in Italien den italienischen Partisanen gar, den Kampf bis zum Frühjahr einzustellen. Aber symbolisch hatte der militärische Widerstand eine wichtige Bedeutung, da er zum Gründungs- und Einigungsmythos der europäischen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg avancierte.

Nicht in allen Ländern waren Kommunisten an der Regierung beteiligt, aber überall gab es die Suche nach einem übergreifenden Konsens, der nur die Kollaborateure, Nationalsozialisten und Faschisten ausschloss (sofern sie sich nicht reumütig zeigten). Gleichzeitig gab es in den ersten Wahlen nach dem Krieg einen bemerkenswerten Linksruck. So gewann die Labour Party unter Clemens Attlee überraschend die Unterhauswahl von 1945 und schickte den Kriegshelden Winston Churchill in die Opposition. In Frankreich wurde noch Anfang 1947 der Sozialist Vincent Auriol mit den Stimmen der Kommunisten zum Staatspräsidenten gewählt.


Abb 5Westeuropäische Länder mit kommunistischer Regierungsbeteiligung, 1945–1949 (eigene Grafik).

1.4.2Die Anfänge des Sozialstaats

Vielleicht die wichtigste Folge dieser kurzen Phase der Kooperation waren soziale Reformen. Ähnlich wie nach dem Ersten Weltkrieg herrschte in den ehemals Krieg führenden Ländern eine Stimmung, die weitreichende soziale Reformen befürwortete, zum Teil als Belohnung für die heimkehrenden Soldaten (wie in den USA die „GI-Bill“), zum Teil aus grundsätzlichen kapitalismuskritischen Erwägungen heraus. Die Folge war der Beginn des modernen Sozialstaats, der freilich in den fünfziger Jahren noch weiter ausgebaut werden sollte.

In vielen Ländern wurden die Sozialleistungen erweitert oder erst eingeführt, der wichtigste Impuls kam jedoch aus Großbritannien. Dort war schon 1942, mitten im Zweiten Weltkrieg, mit dem Beveridge-Bericht eine konzeptionelle Grundlage für die Reformen der Nachkriegszeit entstanden. William Beveridge war eigentlich ein Liberaler, aber sein Bericht beeinflusste vor allem die Labour-Regierung der Nachkriegszeit. Sein Plan sah eine umfassende Sozialversorgung für alle vor, also nicht nur für Beitragszahler wie in dem Bismarck’schen Sozialversicherungsmodell. Zudem lehnte Beveridge eine Beschränkung der Leistungen auf Bedürftige ab, da dies seiner Meinung nach die Anreize zur Arbeitsaufnahme verringere und somit in eine Armutsfalle führe. Die Leistungen sollten entweder umsonst oder für einen geringen Beitrag zu erhalten sein, müssten aber ausreichend sein, d.h. ein angemessenes Lebensniveau garantieren. Die Finanzierung sollte entweder aus dem allgemeinen Steueraufkommen oder aus gesonderten, aber nicht nach Einkommen gestaffelten Beiträgen erfolgen. Das bekannteste Resultat dieser Politik war der 1948 eingeführte „National Health Service“, der eine kostenlose umfassende Gesundheitsversorgung für alle mit sich brachte. Später wurden jedoch aufgrund der Kostensteigerung auch hier Gebühren eingeführt.

Auch in Frankreich wurden direkt nach dem Krieg größere Sozialreformen durchgeführt. Hier ging es im Wesentlichen darum, bereits vorhandene Sozialversicherungen zu vereinheitlichen und auszuweiten. Dazu dienten mehrere Verordnungen 1945 und 1946, die ein umfassendes System der „Sécurité Sociale“ schufen, das vor allem Arbeitnehmer gegen die Risiken von Krankheit, Alter, Tod und Unfällen absichern sollte. Anders als das britische System beruhte es aber auf dem Versicherungsprinzip, d. h. die Finanzierung erfolgte über die Beiträge der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, und nicht alle Gruppen der Bevölkerung wurden erfasst. Federführend bei der Erarbeitung dieses Systems war der kommunistische Gewerkschafter und Arbeitsminister Ambroise Croizat.

1.4.3Der Beginn des Kalten Krieges

Der Nachkriegskonsens hielt allerdings nicht lange. Die Kommunisten in Frankreich, Italien, Belgien und Österreich schieden 1947 aus der Regierung aus. Auch in den meisten anderen Staaten erfolgte früher oder später die Rückkehr zu einem Parteienwettbewerb, meist zwischen sozialdemokratischen oder sozialistischen Parteien einerseits und christdemokratischen oder konservativen Parteien andererseits. Ausnahmen bildeten die Schweiz und, bis zum Ende der fünfziger Jahre, die Niederlande. Der Sozialstaat blieb in den fünfziger Jahren nicht nur erhalten, sondern er wurde weiter ausgebaut. Allerdings ging die ursprüngliche Motivation, der antikapitalistische Konsens, verloren. Die deutsche CDU wandte sich vom Ahlener Programm ab und den „Düsseldorfer Leitsätzen“ (1949) zu, die nunmehr ein eindeutiges Bekenntnis zur Marktwirtschaft enthielten. Entscheidend hierbei war die Währungsreform vom 20. Juni 1948, die für viele Zeitgenossen den Beginn des „Wirtschaftswunders“ markierte.

Der Verlust des Nachkriegskonsenses wird meist ursächlich mit dem beginnenden Kalten Krieg in Verbindung gebracht. Durch die zunehmenden Spannungen zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion stieg der Druck auf die politischen Akteure, sich für die eine oder andere Seite zu entscheiden. Das machte Bündnisse zwischen Kommunisten und bürgerlichen Parteien schwierig, wenn nicht unmöglich, und eine Politik des „Dritten Weges“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus aussichtslos. Diese Sichtweise ist nicht ganz falsch. Sie übersieht aber, dass es teilweise umgekehrt war: Innere Spannungen in den Nachkriegsgesellschaften verschärften den sich bereits 1946 abzeichnenden Kalten Krieg.

Am besten lässt sich dies anhand der so genannten Trumandoktrin zeigen, die auf eine Rede des amerikanischen Präsidenten am 12. März 1947 vor dem US-Kongress zurückgeht. In ihr formulierte er die Strategie der „Eindämmung“ („containment“): Die USA würden freien Völkern zu Hilfe kommen, die sich gegen eine Unterwerfung von außen oder durch eine bewaffnete Minderheit zur Wehr setzten. Gemeint waren Griechenland und die Türkei, und den Kontext bildete ein Ersuchen der griechischen Regierung um Militär- und Wirtschaftshilfe im Bürgerkrieg. In gewisser Weise stand also der griechische Bürgerkrieg von 1946 bis 1949 am Beginn des Kalten Krieges. Im Westen interpretierte man ihn, auf entstellten Informationen der griechischen Regierung fußend, als von Moskau gestützten kommunistischen Putschversuch. In Wirklichkeit war er ein Ergebnis der nach dem Krieg ausgebliebenen politischen Säuberungen, die in dem Versuch der rechtsgerichteten Regierung resultierten, ihrerseits alle ihre als Kommunisten diffamierten Gegner aus Verwaltung, Justiz und Militär zu entfernen. Unterstützung erhielten die Aufständischen von der slawischsprachigen Minderheit in Nordgriechenland sowie von Titos Jugoslawien, nicht jedoch von Stalin. Der Bürgerkrieg endete 1949 mit dem Sieg der von den USA unterstützten griechischen Regierungsarmee.

Die Regierungsbeteiligung der Kommunisten in den westeuropäischen Ländern scheiterte nicht in erster Linie an außenpolitischen Erwägungen. Ausschlaggebend für den Bruch der großen Regierungskoalitionen 1947 waren jeweils innenpolitische Themen: ein Hafenarbeiterstreik in Belgien, ein Streik in den Renaultwerken in Frankreich, ein Massaker an Gewerkschaftern in Sizilien und die Währungsreform in Österreich. Alle diese Ereignisse führten dazu, dass die kommunistischen Parteien unter den Druck von enttäuschten Anhängern und noch radikaleren Kräften (Trotzkisten und anderen) kamen, so dass eine Beteiligung an einer Regierung, die schwere Entscheidungen treffen musste, als Hypothek angesehen wurde. Die zunehmenden außenpolitischen Spannungen kamen sicherlich erschwerend hinzu, aber noch Ende 1947 arbeiteten die aus der Regierung ausgeschiedenen italienischen Kommunisten an der Verabschiedung der neuen Verfassung mit. Den endgültigen Bruch zwischen Ost und West signalisierte erst die durch die Währungsreform ausgelöste Berlinblockade durch die Sowjetunion, die am 24. Juni 1948 begann.

Literatur

Flora, Peter (Hg.): Growth to Limits. The Western European Welfare States since World War II. 4 Bände, New York 1986–88

Jansen, Christian: Italien seit 1945, Göttingen 2007

Requate, Jörg: Frankreich seit 1945, Göttingen 2011

Richter, Heinz A.: Griechenland 1940–1950. Die Zeit der Bürgerkriege, Wiesbaden 2012

Ritter, Gerhard A.: Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München 3. Aufl. 2010


1Zit. nach Gries, Rationen-Gesellschaft, S. 11.

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